Essay

VERSTEHEN UND AUFERSTEHEN

Zu einem Gedicht John Burnsides über ein nicht vorhandenes Gemälde von Carel Fabritius.
Hamburg

Bei diesem Aufsehen erregend bedächtigen Gedicht  ist bereits der Titel Programm:  In einem vorgeblich überlieferten Zeitraum, dem Jahr 1652, beginnt der bekannte niederländische Maler Carel Fabritius – fantasiert der Dichter – eine künstlerische Arbeit, die es nicht (mehr) gibt: So stellt John Burnside in der Eingangszeile sein Vorhaben vor. In den folgenden sechs Teilen des Poems soll es um einen Mythos gehen, den wir – er, im Verein mit uns geneigten Lesern – entschieden weggelassen haben: Es dreht sich um das Ausgedachte.

Carel Fabritius (1622-1654), der eine Zeitlang in Rembrandts Amsterdamer Werkstatt beschäftigt war, gilt Kunsthistorikern als das Bindeglied zwischen Rembrandt und Vermeer, den man lang für seinen Schüler hielt. Zuletzt hat sein Dürer-gleich der Natur abgeschauter „Distelfink“ durch den gleichnamigen amerikanischen Roman von Donna Tartt Berühmtheit erlangt.

Carel Fabritius, „Der Distelfink"

Das Gemälde ist eines der wenigen, die von Fabritius erhalten blieben, denn der größte Teil seiner Arbeiten ging im „Delfter Donnerschlag“ verloren (wie dem Protagonisten von Tartts Roman in einem Sprengstoffanschlag im New Yorker Metropolitan Museum die Mutter).

1651 hat Fabritius’ Mentor und Freund Rembrandt ein Noli me Tangere geschaffen: Dieses geläufige christliche Sujet meint die Darstellung der Szene aus dem Johannes-Evangelium 20,11-18 und steht in einer weitverbreiteten ikonografischen Tradition, die vom Hochmittelalter bis Picasso reicht: Maria Magdalena, am Ostermorgen im Begriff, den Leichnam des Meisters zu versorgen, findet das Grab leer vor und in unmittelbarer Nähe einen Mann, den sie für den Gärtner hält und nach Verbleiben des Verschwundenen fragt. Der Gottessohn gibt sich ihr zu erkennen, sie greift zu ihm hin, doch er entzieht sich der Berührung durch ihre ausgestreckte Hand mit den Worten: „Noli me tangere!“. Der Satz – die längste Zeit missverständlich mit „Rühr mich nicht an!“ aus der lateinischen Vulgata übersetzt, lautet richtiger: „Du sollst mich nicht halten wollen!“.

Am bekanntesten sind das Noli me Tangere von Fra Angelico, das Giottos und das von Hans Holbein.

Das Bildmotiv bezieht seine Spannung aus dem Gegensatz zwischen Gesichtsausdruck und Handhaltung des aus dem Grab Gestiegenen und denen der Frau, mit der er vor seiner Kreuzigung gelebt hat: Auf allen Darstellungen hat der demnächst Aufzuerstehende einen abgeklärten, ja abweisenden Gesichtsausdruck, der bereits nicht mehr von dieser Welt ist. Seine Handbewegung zeigt den Lehr- und Verkündigungsgestus (erhobener Unterarm mit ausgestreckten drei Fingern) und/oder den Abwehrgestus (nach unten gerichteter Arm mit nach oben abgewinkelter Hand, öfter mit auf die Daumenspitze gelegtem Mittelfinger, kleiner Finger und Zeigefinger angehoben und leicht gebogen). Die Warnung oder Abweisung kontrastiert mit der horizontalen, flehenden Handbewegung der Magdalerin zu ihm hin, die ihn verzweifelt fassen, ja wenigstens berühren möchte. Gesicht und Hände drücken Demut, Trauer und größte Sehnsucht aus.

Der im Noli-me-tangere-Motiv stark zum Ausdruck gebrachte Gegensatz hat seinerseits ein Pendant in der Erzählung vom Apostel Thomas, dem Zweifler, der seine Finger in die Wunde legen durfte. Maria Magdalena, der grenzenlos Glaubenden, hatte Jesus die Annäherung mit den unverständlichen Worten versagt: „Halt mich nicht fest. Denn ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen.“ Wenn er sie auch nicht seine Füße küssen lässt, setzt er sie dennoch zur ersten Zeugin ein, die Frohe Botschaft den Jüngern zu überbringen.

Die Magdalerin ist, im Unterschied zum skeptischen Jünger, eine Liebende, und ihr intensiver Blick das Anziehende an dem Bildmotiv: Er ist Leidenschaft und Demut, Glauben als auch Verstehenwollen in einem. In der häufig dargestellten Szene erfährt eine einfache Frau – intuitiv – , was ihrem „Meister“ geschieht, wenn man ihr auch nicht glauben wird.

Burnside, wie man aus seinem autobiografischen Roman „Lügen über meinem Vater“ entnehmen kann, entstammt der tief katholischen Umgebung schottischer Bergleute. Die geläufige Darstellung der Szene aus dem Johannesevangelium bringt ihn dazu, Maria Magdalenas Situation mit der eines Dichtenden zu vergleichen.

Für einen Dichter ist das Wunder des Glaubens, dass es ihm immer wieder gelingt, dem einen Namen zu geben, das er erkennt.

Für einen Christen ist die Auferstehung das Wunder des Glaubens schlechthin.

Die Arbeit des Dichters besteht im Erinnern. Wenn er wachruft, was längst vorüber ist, gelingen ihm Auferstehungen: schöpferisches Tun als aufersteherisches Sehen-Machen.

Und um den Glauben in der widersinnigen und übermächtigen anderen Welt des Faktischen, Erfass- und Beweisbaren geht es im vorliegenden, an den Schluss gestellten, Gedicht.

Ich weiß nicht, ob John Burnside, dem wir etliche Gemälde-Gedichte verdanken, irgendwo gelesen hat, dass auch der 30-jährige Carel Fabritius im Jahr nach seinem „Meister“ ein Noli me Tangere schuf. Es wäre vorstellbar.

Sicher ist, dass Fabritius 1654 mit 32 Jahren starb und alle bis auf fünf seiner Werke mit ihm verbrannten: Delftse donderslag nennt man die verheerende Explosion eines Pulverturms am Vormittag des 12. Oktober 1654, die die niederländische Stadt Delft zu gut einem Viertel zerstörte. Es war die bis dahin schwerste Explosion in den Generalstaaten. Ihr Knall sei noch auf der 150 Kilometer entfernten Insel Texel zu hören gewesen, heißt es. Man vermutet über tausend Todesopfer. In der Londoner National Gallery ist Delft nach der Zerstörung zu sehen, von Egbert van der Poel gemalt.

Die Idee, dass unter den verlorenen Fabritius-Bildern auch ein Noli me Tangere war, mag Burnsides einfühlsamer Fantasie entsprungen sein. Gemäß der Devise: Se non è vero, è ben trovato kommt es, wenn man an etwas glaubt wie die Christen an das Leben nach dem Tod und die Dichter an das Wort, das erinnern kann, auf die Unterscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit auch gar nicht an.

I

This is the myth we chose to do without;
and surely the painter imagined the garden he shows
as blue-green and mandarin – the improbable fruits
and blossoms; the patient birds;
the held breath of the shade –

surely he imagined it
with no one in the foreground but himself:
a scene from childhood, say, or early love; a moment's
homesick reinvention, not quite true, and yet
more trusted than the authorised account.

It seems so much a pretext for the real:
that dove in the upper branches, that wisp of cloud,
those children in the distance playing quoits
or calling out from one hedge to the next
the only names they know in all the world.

It seems so much a pretext for the given:
less gospel than the brilliant commonplace
of all we take for granted, vines and thorns
and morning dew receding in the grass;
that gold light in a stand of tamarisk; woman and man

arriving at this moment, not by chance,
and not quite by design, their puzzlement
the first step in a lifelong discipline
of knowing what they can and cannot touch,
what goes unspoken and what must be told:

a local sound – though everything is one –
the smell of hyacinths, a veil of bees
the closed wound and the healed: this

II
                                             afterlife.

The woman cannot speak. She has no words.
Nothing she sees is true until a man
confirms her story; not one man, but four,
when giving evidence before a judge:
a man to echo everything she says,
a man to write it down and make it holy.

So what we hear is always second-hand:
as one man tells another of a scene
he never witnessed, spelling out in words
the mysteries of touch and nothingness
– and this is what we choose to do without
this testimony: upright men and true
speaking an authorised version: sexless; untouched.

They misunderstand what she says.
                                             They make it new;
retell it for the version they will write
as gospel, passed from one mouth to the next
till something whole and vivid has emerged:
the empty shroud; the angel in the tomb
the resurrected man so like himself
his twin could dip three fingers in the wound
to feel the warmth – and all she memorised,
retold in altered form, is true enough;
if anything is true that can be told
when so much of the whole has been omitted.

III

The painting says the dead cannot be touched;
nothing is carried over, nothing is held,

even the people we love must steal away
in other guises: shadows in the dust

or something gone adrift between the trees,
lost in the wind, or the light of transmigration

– and this is how the spirit brings itself
to step aside: a gift to the unknown

since life itself is seamless and entire
tendon and bone remembering decay

as seeds remember trees, eggs conjure flight.
The real unmakes itself in every hand

that reaches out to touch and grasps thin air:
that newborn stranger hurrying away

to other facts, unhindered by desire
this wisp of smoke
                            this song
                                             this tilt of bells.

IV

The painter cares for nothing but the light:
the patterns he knows; the shapes of this
commonplace magic; acres of grass,
or the shadows in a stand of citrus trees
between this moment and the middle ground.

This is his single chance to catch a glimpse
of how the soul continues, how it steps
from one life to another, almost touched
by what it leaves behind: a naked thing
the woman half-mistakes for wind, or song.

Irrational perhaps – and yet for years
he's carried in his nerves that other self
who might have come in some bright parallel,
a purer logic drawing out the form
he cradled in his chest with each held breath.

Irrational – yet what seems fixed in us
is haunted by a voice we never hear
and if the self is fixed what soul there is
is always something else, a practised craft
that ventures ounce by ounce upon its world

the way a skater ventures on to ice
one heartbeat at a time
                                             – and if the self

were noun, what soul there is
is like a voice before it starts to speak

returning as they say we must return
in one form then another: cat, then bird,
then spider in the angle of the wall,
weaving a trap for flies, and at the last

the blue spark of a fly, some autumn night,
flickering out, the relict of this fire
becoming water, moonshine, flecks of dust,
time after time and each time a smaller goodbye.

V

Alone for the first time in weeks
and starting again on something he'd almost abandoned

he's thinking of the time he saw a girl
on the frost-whitened rink of the green

one hard December morning: not quite dawn
his neighbours asleep and him in a tattered coat

and slippers, in the gold cell of the attic,
brewing tea. Ghosts didn't bother him much

but this was one he'd never seen before:
a dark-haired girl in sandals and a thin white

summer dress, her head turned to the light,
the look on her face less hope than apprehension.

It took him three short steps to reach
the window: lights and shadows on the glass

becoming shapes, then absence, then the thought
of something lost before it even happened

and when he looked again, through ferns of ice,
nothing was there.

Yet now, as he sets to work in an empty room
with hours to fill, he's thinking of the time

he saw her: how he knew that he had seen
and guessed he'd been deceived, the way we guess

there's something in the world we cannot name
though each of us negotiates the form

it happens to assume: not quite the ghost
he thought he'd seen that morning while the house

was still asleep, but something he would claim
if ever it returned: half-girl; half-frost;

a resurrection waiting to begin
in flesh and bone, in touch and self-forgetting

from Selected Poems (London: Jonathan Cape, 2006)

John Burnside, deutsch von Ute Eisinger
Der Maler Fabritius nimmt die Arbeit am verloren gegangenen Noli me Tangere von 1652 auf

I

Hier kommt der Mythos, ohne den es gehen soll;
freilich wird sich der Maler den dargestellten Garten
blaugrün und mandarin vorgestellt haben - unwahrscheinliche
Früchte und Blüten; geduldige Vögel;
Schatten beim Atemanhalten –

sicher hat er sich darin
ganz allein im Vordergrund vorgestellt:
eine Kindheitsszene, ja, oder frühe Liebe; ein Moment, aus Heimweh neu erfunden, nicht ganz wahr, und doch
echter als ein bestätigter Bericht.

Es scheint so sehr fürs Wirkliche einVorwand:
die Taube da in der Laubkrone, die Wolkensträhne dort,
die Kinder, die weit hinten Ringewerfen spielen
oder im Schutz von einer Hecke zur anderen
alle Namen rausschreien, die sie erst haben von der Welt.

Es scheint so sehr ein Vorwand fürs Gegebene:
weniger Evangelium als genialer Allerweltsort
von allem, was uns, glauben wir, zusteht: Reben, Dornen
und wie Morgentau im Gras vergeht;
das Goldlicht da in einer Gruppe Tamarisken; Frau und Mann,

ihr Dazustoßen in dem Moment, nicht aus Zufall
noch ganz konstruiert; ihr Erstaunen
der erste Schritt in einer lebenslangen Disziplin:
zu wissen, was und was man nicht anrührt,
was unausgesprochen durchgeht, was gesagt sei:

ein ortstypischer Klang – wie alles einer ist –
der Hyazinthenduft, ein Schleier Bienen,
die geschlossene Wunde und die verheilte: dies

II
                                             Leben nach dem Tod.

Die Frau kann nicht sprechen. Ihr fehlen die Worte.
Was sie sieht, stimmt alles nicht – solange nicht ein Mann
ihrem Bericht bestätigt; nicht einer: vier
legen vor einem Richter Zeugnis ab:
einer, der alles wiederholt, was sie sagt,
einer, der mitschreibt und es heiligt.

So ist, was wir hören, stets überliefert:
Wie ein Mann dem anderen eine Szene ausmalt,
bei der er nie dabei war, die Mysterien
von Berühren und Nichts in Worte fasst
– eben das gilt’s ohne Zeugen
zu vollbringen: aufrechte, wahre Männer
sprechen eine bestätigte Version: geschlechtslos; ungerührt.

Sie missverstehen, was sie sagt.
                                             Sie machen’s neu;
erzählen es zugunsten der Version, die sie schreiben werden
als Evangelium, als Stille Post weitergegeben,
bis etwas Ganzes, Lebendiges draus wurde:
das leere Laken; der Engel drin im Grab,
der auferstandene Mann sich so sehr ähnlich,
dass sein Zwilling drei Finger in die Wunde stecken durfte,
ihr Warm zu fühlen – bis alles von ihr Eingeprägte,
verändert wiedergegeben, schon wieder wahr ist;
wenn etwas wahr ist, das sich erzählen lässt,
so viel vom Ganzen auch ausgelassen wurde.

III

Das Gemälde meint: die Toten kann man nicht berühren;
nichts wird vorgetragen, nichts gehalten,

selbst die wir lieben, müssen verkleidet
sich fortstehlen: Schatten im Staub

oder etwas zwischen den Bäumen Verflossenes,
verweht vom Wind, oder das Seelenwanderlicht

– und so nimmt der Geist willentlich
Abstand: ein Geschenk ans Unbekannte,

weil das Leben an sich übergangslos und vollständig ist,
Sehne und Bein an Verwesung erinnern,

wie Samen an Bäume erinnern, Eier verheißen Flug.
Das Wirkliche vergibt sich in jeder Hand,

die sich zum Berühren streckt und dünne Luft fasst:
jener neugeborne Fremde eilt schon weiter

Richtung nächste Fakten, von Sehnsucht ungehindert
dieses Rauchband
                            dies Lied
                                             diese Glockenneige.

IV

Dem Maler ist alles bis auf das Licht egal:
das ihm vertraute Muster; die Formen von diesem
Allerwelts-Zauber; Grasfluren
oder die Schatten in einer Zitrusbaumgruppe
zwischen dem Moment hier und dem Mittelweg.

Für ihn die einzigartige Chance, einen Blick auf
das Wie des Fortlebens der Seele zu erhaschen, wie sie
von einem zum andern Leben geht, ums Haar betroffen
vom hinter sich Gelassenen: was Bloßes,
das die Frau vorgeblich für Wind hält; oder Gesang.

Wohl irrational; – über gar viele Jahre hat er
das Alter Ego in seinen Nerven transportiert,
vielleicht in kluger Parallelspur mitgekommen,
eine reinere Logik, welche die aus seiner Brust gewiegte Form
sämtlicher darin verhaltener Atemstöße hervorzog.

Irrational – was gar fest in uns verankert scheint,
verfolgt von einer Stimme, die wir niemals hören,
und wenn das Selbst verankert ist, welche Seele es gibt,
gibt’s immer noch etwas, ein ausgeübtes Handwerk,
das quäntchenweis in seiner Welt sich vorwagt,

wie ein Schlittschuhläufer sich vorwagt am Eis
Herz- um Herzschlag
                                             – und wenn das Selbst ein

Nennwort wäre, welche Seele es hat,
entspricht der Stimme, bevor sie spricht

zurückgeht, sagt man uns: zurück!

nimmt eine, eine andere Form an: Katze, Vogel,
dann Spinne, die im Winkel einer Mauer
eine Fliegenfalle flicht, und als Letztes

den blauen Funken einer Fliege, beliebige Herbstnacht,
verflackert, was von diesem Feuer blieb,
wird Wasser, Mondlicht, Sprenkel Staub,
von Mal zu Mal wird bescheidener der Abschied.

V

Für sich allein zum ersten Mal seit Wochen,
fängt er etwas fast schon Aufgegebenes wieder an,

er denkt an die Zeit zurück, als er ein Mädchen sah
am Eislaufplatz auf weiß glasiertem Grün

an einem rauen Dezembermorgen: nicht mehr ganz früh,
die Nachbarn schlafen noch und sich im ausgebeulten Mantel

und Schlapfen, wie in der goldenen Zelle unterm Dach
er Tee brüht. Gespenster machten ihm nicht sehr zu schaffen,

doch so eines war ihm noch nicht begegnet:
ein dunkelhaariges Mädchen in Sandalen, dünn-weißem

Sommerkleid, den Kopf zum Licht gehalten,
ihr Gesichtsausdruck eher besorgt als Hoffnung.

In drei Schritten stand er schon
beim Fenster: Lichter und Schatten am Glas

wurden Konturen, Abwesenheit, dann der Gedanke,
dass etwas verloren war, bevor es noch eintrat,

und als er noch einmal hinsah, durch Farnwedel Eis,
gab es da nichts.

Selbst jetzt noch, als er zu schreiben beginnt in einem leeren Raum, in der Vorfreude auf freie Stunden, hat er die Zeit,

als er sie sah, vor Augen: wie er seines Sehens sicher war
und sich ertappt vorkam, die Art, wie wir davon ausgehen,

die Welt enthielte Dinge, für die wir keine Namen haben,
wenn jeder von uns auch tut, als kennte er die Form

nicht, die es annimmt: nicht nur eine Erscheinung
glaubte er an diesem Morgen erblickt, während das Haus

noch schlief, sondern etwas, das ihm zustehen würde,
käm’s je zurück: halb Mädchen; halb Reif;

eine Auferstehung, die erst einsetzen wollte
in Fleisch und Blut, Berühren und Sich-Vergessen

Aus: Selected Poems (London: Jonathan Cape, 2006)

In Teil I wird der Leser erst einmal darauf vorbereitet, dass es nun um etwas gehen wird, das nicht existiert. Burnside schildert uns einzelne Details von dem nie vorhandenen Bild. Eh klar, man weiß, wie Fabritius malte und man weiß, wie zu seiner Zeit das Noli me Tangere dargestellt wurde. Auch Martin Schongauers Noli me Tangere hatte Hesperiden in den Ästen hängen.

Weil der Auferstandene von der erschrockenen Maria Magdalena erst für den Gärtner gehalten wurde, muss das Land um das Grab ein blühender Garten sein, und um der Geschichte das Gleichnishafte mitzugeben, ein paradiesischer. Wie ihn Burnside hier beschreibt, erinnert er an Lucas Cranachs Paradies-Bilder: die goldenen Äpfelchen, die Tamarisken und das ratlose vertriebene Paar: Burnside nimmt sie als die Ersten, denen das Schicksal zuteil wurde, zwischen – mit Worten – Berühren und Nicht-Anfassen zu entscheiden. In seiner Lesart kommt die Vertreibung aus dem Paradies der sprachlichen Unsicherheit gleich: Adam hatte noch drauflos benannt wie die Kinder, die im Schutz der Hecke „Namen / raussschreien / in die ganze Welt“, nun stolpern Mann und Frau, nackt, auf glattes Terrain, sind verlegen, worüber gesprochen werden darf und was tabu ist. Die verlockend golden im Garten Eden vorhandenen Früchte vom Baum der Erkenntnis meinem beim Dichter das Wagnis, etwas anzutasten, indem er es anspricht.

Burnside stattet die erschaffene Bilderwelt mit Düften aus: Die erwähnten Hyazinthen riechen stark. Zudem lassen sie ihren Kontrast, tiefes Grün, vorstellen; zum leuchtenden Lilienweiß, das es in allen Frührenaissance-Unschuldsdarstellungen gibt.

Teil II spricht nun am Beispiel des Noli me Tangere an, was es heißt, etwas zu sehen, das die anderen nicht sehen, ja bezweifeln; nicht zuletzt deshalb, weil Maria Magdalena eine Frau ist und als Gefährtin des Meisters eine Sonderstellung unter den Jüngern eingenommen hat.

Zur Wiederholung: Bei Johannes heißt es: Am leeren Grab hatte sie einen Mann, den sie für den Gärtner hielt, nach dem Verbleib des Leichnams gefragt. Jesus sprach sie mit Namen an, da erkannte sie ihn und antwortete hebräisch: „Rabbuni!“, was „Meister!“ bedeutet. Sie wollte ihn berühren, doch er entzog sich mit: „Halt mich nicht auf!“.

Ihr Augenzeugenbericht zählt vor anderen nicht: Als Jesu’ Gefährtin das erste Mal gelaufen kommt, weil sie das Grab leer gefunden hat, eilen zwei Jünger, weil sie ihr nicht glauben können, dorthin und stürmen entsetzt wieder heim. Nun hat die Magdalerin sogar mit dem Meister gesprochen. Dass er tatsächlich auferstanden ist, glaubt man aber erst, nachdem Jesus den Jüngern als Fremder erschienen ist. Thomas Didymus glaubt überhaupt nur, was er mit eigenen Händen greifen kann.

Es geht Burnside nicht um die Geschehnisse am heiligen Grab an sich; auch nicht darum, dass Frauen in patriarchalen Gesellschaften nicht zählen. Beispielsweise im Koran hat nur Manneswort Gültigkeit, dort bringt die Aussage von „vier männlichen Zeugen“ eine Frau sogar zu Fall. Im Evangelium erschrecken die zwei Jünger und fliehen. Erst von einem Mann vorgetragen und einem „Stenografisten“, nämlich später dem Evangelisten, festgeschrieben zählt die Aussage der Frau, ja dann kann Frohbotschaft werden, was ihr widerfahren ist.

Dabei machen die Männer – weniger vertrauenswürdig – aus der Erzählung der gefallenen, an Jesu’ Seite wieder aufgeblühten Frau, wie Christen die Geschichte von der geläuterten Sünderin aus Magdala lesen, etwas ganz Anderes. Ihre Berichte werden missionarisch umgemünzt zu Beweis-Erzählungen, der Verkündigung der Auferstehung mithilfe epischer Stilmittel.

Die Aussage dieses Poem-Teils lautet: Wahrheit hat nichts mit Beweisen zu tun. Sie kann, selbst wenn eine Erfahrung anders wiedergegeben wird, bleiben; noch tut ihr, dass vieles weggelassen wurde, Abbruch.

Das Gedicht ist den 2006 ausgewählten Gedichten abgedruckt. Möglicherweise hat Robert Hass, ein von Burnside sehr geschätzter kalifornischer Dichter, ihm diese Idee gegeben. Hass’ Gedicht „After the Winds“ entstand zwischen 1997 und 2005. Es heißt darin:

For Magdalen, of course, the resurrection didn’t mean
Shed’d got him back. It meant she’d lost him in another way.
It was the voice she loved, the body, not the god
Who, she had been told, ascended to his heaven,
There to disperse tenderness and pity on the earth.

Aus: Robert Hass, After the Winds

Für Magdalena, freilich, hieß Auferstehung nicht,
Sie hätt’ ihn wieder. Sie hieß: ihn anders verloren haben.
Sie liebte ja die Stimme, den Leib und nicht den Gott,
Der, hat man ihr gesagt, im seinen Himmel aufgestiegen sei,
Auf Erden Zärtlichkeit und Mitleid zu verbreiten

Übs. Ute Eisinger

Der aus Zweizeilern bestehende Teil III macht stutzig. Hier ist die Stelle, bei der mich – im ersten Lesedurchgang spätestens hier – der Dichter ergriffen hat: Er maßt sich die einschlägige Deutung eines (imaginierten) Gemäldes an – bzw. der aus anderen Gemälden bekannten neutestamentlichen Szene, die er mit der unmissverständlichen Deutung auf eine Art auslegt:

Es gibt keine andere Botschaft als: Tote sind tot, sie reagieren auf niemanden mehr. Für trauernde Geliebte gilt demnach: Sie sind fort, haben sich aus dem Staub gemacht, indem sie seelenlose Materie geworden sind, Erde oder Asche.

Die zweite Zeile dementiert den Trost des Jenseits: Nichts lässt sich hinüberbringen, auf nichts verlassen. Unsere Urahnen lagen mit den Grabbeigaben ebenso falsch wie Glaubens­gemeinschaften, die mit Paradiesversprechungen locken – wie die katholischen Christen, die Tote nicht verbrennen.

Den „Geist“ lasse man außen vor, empfiehlt der Dichter, und halte sich ans Leben, das alles bietet, was der Mensch braucht – samt dem Wissen, dass Fleisch und Blut verwesen werden.

Hier folgt eine der schönsten Stellen des Gedichts: Dem Wissen um den Verfall des Leibs gesellt Burnside das Wissen bei, dass aus Samen Bäume wachsen und aus Eiern Vogeljunge schlüpfen, um sich später vom Erdboden zu erheben. Dichter und schlichter als in dieser Konstruktion lässt sich das Vertrauen in den geordneten Lauf des Lebens nicht vorbringen.

Aus seinem vorgestellten Noli me Tangere macht Burnside eine Absage an die vorherrschende Realitätsgläubigkeit: Wer seine Hände ausstreckt, um zu erfahren, ob etwas wirklich ist, hat schon verloren, wird auf jeden Fall von „dünner Luft“ enttäuscht werden. Es lebe die Vorstellungskraft! Sie ist den Tatsachen überlegen, samt ihrer Klänge, Düfte, Windberührungen, mit dem das Nicht-Gegenständliche Gestalt annehmen kann.

In Teil IV, aus Fünf- und Vierzeilern bestehend, folgt ein Lob der Malerei: Für den Maler, bekennt der Dichter, ist alles „Licht“, d.h. Arbeiten in Farben, Linie, Schatten. Das Geheimnis der Malerei besteht in der Übereinstimmung des bekannten Gewöhnlichen mit dem außerordentlich Zeitlosen.

An anderer Stelle sagt Burnside in einem Interview, er bewundere Bruegel für die Darstellung des allgemein Gültigen im Getriebe des Banalen, Alltäglichen.

Der Kunsthistoriker John Berger drückt das so aus: Gemälde stellten immer einen nie dagewesenen Augenblick dar, der später einmal einen Betrachter ansprechen soll: Darin liege ihr Geheimnis.

Der Maler – auch der Dichter, Künstler generell – betreibt damit, was im Noli me Tangere als Unmöglichkeit gezeigt wird: Ihm ist, in Nachfolge des Patrons aller Barden, Orpheus – der Gang zurück aus der Unterwelt gewährt, wenn er an das Verlorene rührt und Lebende damit ansteckt: Seele an Seele vermittelt.

Teil V, in Zweizeilern, führt in die Schreibstube des Dichters – in die unmittelbare Gegenwart der Entstehung des Gedichts. Dichten ist Erinnern, Geister-Heraufbeschwören, vor denen man (sich) Rechenschaft ablegen muss.

Im vorliegenden Fall kommen dem Dichter Erinnerungen an eine nie stattgehabte Begegnung mit einem Mädchen, das er als junger Mann eines kalten Morgens bei beschlagenen Fenstern gesehen hat. Die Beatrice des jungen Dante ist ein Wesen, mit der es nie eine echte Begegnung gegeben hat, und umso mehr durfte sie Muse bleiben, schön, jung, unnahbar. Beim schottischen Barden Burnside wird die geschilderte Nicht-Begegnung zum Erweckungserlebnis, denn der Dichter fühlt sich ertappt in der Begegnung, „wie wir davon ausgehen, / die Welt enthielte Dinge, / für die wir keine Namen haben“.

Das Benennen der Dinge der Welt kommt hier zum dritten Mal in dem Gedicht vor: Es war seit Menschenbeginn Adams Aufgabe, es wird von Kindern ausprobiert, die die Welt erschließen, indem sie Dinge benennen und stolz herausschreien, was sie kennen. Am gegebenen Beispiel zeigt uns Burnside, wie Dichter ihren Ruf – bei Priestern heißt es: ihre Berufung –  erhalten: Sie sehen ein, dass ihre Aufgabe darin besteht, Dinge in der Welt aufzuspüren und ihnen Namen zu geben. In der Tradition der mündlichen Dichtersänger des Nordens waren die Kenningar die Begriffe von den Dingen, die Metaphern, die man auswendig können musste: Kennen, um zu besingen. Jorge Luis Borges drückte es so aus: „Die kenningar diktieren uns dieses Erstaunen; sie lassen uns erstaunen über die Welt. Sie können zu jener hellen Verblüffung anleiten, die der Metaphysik einziger Ehrentitel, ihr Lohn und ihre Quelle ist.“

Aber Burnside wäre nicht Burnside, ließe er uns nicht gleich darauf, quod erat demonstrandum, lernen, dass das Ungeheuerliche auch als banal abgetan werden kann: Vielleicht, schreibt er über den jungen Mann, der sich in ein unbekanntes Mädchen verliebt, war es nur die Vorahnung auf seine eben erwachende Sinnlichkeit...

John Burnsides Romane sind fast alle deutsch erschienen, einige auch als Hörspiele. Seine Gedichte, deutsch, gibt es durch Iain Galbraith in Akzente 2/2013, in „Manuskripte“, „Kulturtausch“ und dem Band „Versuch über das Licht“ (Hanser-Verlag), sowie durch Evelyn Schlags in dem Band „XXV schottische Dichter, von österreichischen übersetzt“ (Folio-Verlag). Für 2016 plant Hanser eine weitere Gedichtauswahl herauszugeben.

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