Gespräch: Timo Brandt redet mit Robert Prosser
Dein jüngst erschienener Roman „Phantome“, der nun auch auf der Longlist des deutschen Buchpreises steht, beschäftigt sich mit dem Bosnienkrieg und seine Folgen. Im zweiten Teil erzählst du die Geschichten von zwei Menschen – einem Mann und einer Frau, er Serbe und sie Bosniakin – über das, was sie im Krieg erleben, wie sie ihn erleben. Sind diese Geschichten Destillate von Erfahrungen und Berichten, die du von Zeitzeugen erhalten hast? Wie bist du zu dem dreiteiligen Aufbau gekommen, den das Buch jetzt hat?
Destillate trifft es als Bezeichnung recht gut – Beide sind eine Mischung aus Fakt und Fiktion, aus realen Menschen, meiner Phantasie und der durchs Schreiben entstehenden Eigendynamik der Geschichte. Anisa ist großteils erfunden, dieser Handlungsstrang bedient sich der recherchierten Begebenheiten nur in Splittern. Die Geschichte Jovans dagegen orientiert sich bei wichtigen Eckpunkten an der Lebensgeschichte eines bosnischen Serben, den ich während der Recherche kennenlernte und seither zu meinen Freunden zählen darf. Anfangs stand es nicht im Vordergrund, über den Krieg zu schreiben, oder überhaupt das Jahr 1992 und die Geschehnisse damals in den Fokus zu rücken. Ich habe mehr als drei Jahre an dem Buch gearbeitet und bin in dieser Zeit immer wieder nach Bosnien gereist. Während dieser Aufenthalte wurde ich laufend mit dem Krieg konfrontiert, der in der Gesellschaft und im Leben Einzelner weiterhin nachwirkt. Ohne den Krieg und die Beschäftigung damit lässt sich von Bosnien leider kaum erzählen, kommt mir vor, und auf der Suche nach einer Form, damit möglichst respektvoll umzugehen, bin ich nach etlichen verschiedenen Entwürfen letztlich bei der Dreiteilung gelandet. Im ersten Teil erzählt ein österreichischer Sprayer von zwei Reisen nach Bosnien, mit allem Unvermögen und Überforderung, die die Konfrontation mit einem fremden Land mit sich bringen. Der zweite, umfangreichste Teil erzählt die Kriegs- und Fluchtgeschehnisse von 1992 aus der 3. Person, in einem Stil, der eine gewisse Distanz hält. Der abschließende Teil wiederum versucht als erneuter Monolog, die Art, wie Krieg traumatisiert und auf ein Leben lang gefangen nimmt, deutlich zu machen. Dieser Aufbau und die unterschiedlichen Schreibweisen schienen mit die sinnvollste Art, um in einer ehrlichen, respektvollen Weise einen Roman über Bosnien zu verfassen.
Der Protagonist des ersten Teils von „Phantome“ ist Sprayer und der Text springt zwischen dem Fokus auf sein Sprayer-Dasein und dem Fokus auf die Geschichten und Szenen aus Bosnien hin und her. War diese Verknüpfung eine Art Halt, um besser in das eigentliche Thema des Buches einsteigen zu können? Um erstmal noch vertrauteres Terrain unter den Füßen zu haben?
Nein. Über Graff zu schreiben, diese Szene mal in einem Text aufzuarbeiten, hatte ich seit einiger Zeit im Kopf. Bei meinem ersten Aufenthalt in Tuzla wurde mir klar, dass sich ein Sprayer als Figur eignen könnte, um über Bosnien zu erzählen. Tuzla gilt als heimliche Hip-Hop-Hauptstadt des Balkans, die Graff-Szene ist recht ausgeprägt, und die Leute, mit denen ich dort unterwegs war, unterschieden sich in ihrer Herangehensweise an Hip Hop und Alltag kaum von ihren österreichischen Pendants. Es geht um eine Art Aufbegehren, einen Sinn für Rebellion oder Eigenständigkeit, eine Widerborstigkeit im Denken und Handeln. Den Drang, sich auszuleben, diese gewisse Wut, die im Graff kanalisiert wird, das fand ich in Tuzla wieder. Zudem kommt Graffiti als Phänomen einer Art von Erzählen nahe, die ich sehr ansprechend finde: ein Graff blitzt vorm Fenster einer U-Bahn oder eines Zuges auf, man sieht‘s für einen Moment, eine Farbexplosion, an der man verwundert vorbeirast – ich wollte einen ähnlichen Erzähler kreieren, jemanden, der aus dem Nichts vorm Leser erscheint und mitten rein in die Geschichte reißt, ohne Rücksicht auf Kontext oder Handlungsbogen, und daraufhin ebenso vollkommen wieder verschwindet wie ein Piece im Tunnel.
Du bist einer der Mitbegründer von Babelsprech, einer Plattform, einem Forum und einer Veranstaltungsreihe, die sich seit 2013 für die Vernetzung und Positionierung junger deutschsprachiger (und mittlerweile internationaler) Lyrik einsetzt. Welche Idee stand am Anfang des Projekts? Bist du zufrieden mit der Entwicklung, die Babelsprech in den letzten 4 Jahren vollzogen hat? Was für zukünftige Pläne gibt es?
Zu Beginn war es das Vorhaben, die einzelnen Szenen in Österreich, Deutschland und der Schweiz untereinander mehr in Kontakt zu bringen, bzw. auch in den einzelnen Ländern selbst für mehr Austausch zu sorgen. Also eine Plattform zu schaffen, die lokal und zugleich von Bozen bis Hamburg wirkt. Mittlerweile konzentrieren wir uns vorwiegend auf die Live-Aspekte, sprich die Lesungsabende in den teilnehmenden Ländern und vor allem die Organisation und Durchführung von mehrtägigen Konferenzen – um verschiedene Autor*innen mit unterschiedlichen Poetiken und Schreibweisen an einen Ort und in direkten Kontakt zu bringen. Solche Orte für Diskurs und Experiment zu schaffen gefällt mir sehr, diesen persönlichen Austausch finde ich extrem wichtig. Wir waren im Verlauf der vergangenen Monate in Salzburg, Berlin und Czernowitz, nächstes Jahr geht es mit Treffen in Slowenien und Liechtenstein weiter. Und mit der Entwicklung bin ich sehr glücklich, ja, auch, weil es nach wie vor ein Wachsen ist, wir probieren verschiedenstes aus, seien es Übersetzungsworkshops oder ein Fokus auf die Performance, und gerade diese Beweglichkeit und Offenheit sagt mir sehr zu.
2013 erschien dein Debütroman „Geister und Tattoos“ beim Klever Verlag. Er spielt im armenischen Kaukasus. Wie kam es zur Wahl des Schauplatzes? Steckten hinter dem Buch ähnliche Ambitionen und Beweggründe wie bei „Phantome“?
Rückblickend scheint mir, als wäre Geister und Tattoos die Vorarbeit für Phantome gewesen. Es war mein Versuch, das Reisen erstmals nicht des Unterwegssein willens, sondern eines Textes wegen zu unternehmen, bewusst wohin zu fahren, um für eine Geschichte Stoff zu sammeln. Davor war ich unterwegs, um möglichst viele Kilometer zu machen und der Erfahrung wegen in möglichst abgelegene Gebiete zu kommen. Wie sich das zu einem Text machen lässt, hat mich erst bei der Rückkehr beschäftigt. Diese Herangehensweise brachte mich auch 2008 nach Armenien. Ich fuhr im Sommer nach Istanbul und von dort, als sich der Krieg um Süd-Ossetien beruhigt hatte und die Grenze wieder offen war, weiter nach Georgien. Eigentlich wollte ich nach Aserbaidschan, doch erfuhr ich erst dann, dass ich das Visum hierfür bereits in Österreich hätte beantragen müssen. Als spontane, leicht zu erreichende Alternative drängte sich Armenien auf. Dort wiederum traf ich einen Deutschrussen, der für ein internationales Projekt neue Landkarten des südlichen Kaukasus erstellte. In einem Tal, das als unbewohnt galt, habe das Vermessungteam ein Dorf entdeckt, von dessen Existenz keine offizielle Stelle wusste, erzählte er. Wie sich herausstellte, waren es ehemalige Soldaten, die im Karabach-Krieg vor mehr als fünfzehn Jahren auf armenischer Seite gegen Aserbaidschan gekämpft hatten und mit ihren Familien nach Kriegsende aus ihrer zerstörten Heimat hierher gezogen und von der offiziellen Bildfläche verschwunden waren. Diese Anekdote – ein Dorf ehemaliger Soldaten in den Bergen, eine kleine, anarchische Zelle, abgeschnitten und vergessen von der eigentlichen Welt – trieb mich lange um. Aus einer Erzählung wurde der Entwurf zu etwas längerem, was mich 2011 erneut nach Armenien sowie nach Nagorno-Karabach brachte, dieses Mal rein für den entstehenden Roman.
Wenn es eine bekannte Persönlichkeit gäbe (nicht zwingend ein/e Autor/in; nicht zwingend real), mit der du einfach so auf einen Kaffee oder ein Bier gehen könntest – wer wäre das?
Archer Sterling oder Laurie Anderson oder Jerzy Grotowski oder Louis C.K. oder Kate Tempest oder Charles Mingus.
Ist es dir wichtig, inwieweit dein Schreiben gesellschaftlich oder politisch relevant sein könnte? Was vermag Literatur deiner Meinung nach zu erreichen?
Ich glaube, dass es weniger um den Leser geht, als vielmehr um den Schreibenden, dass Literatur im Hinblick auf politische Relevanz als Praxis zu begreifen ist und für jene, die sie ausüben, den wesentlichen Unterschied darstellen kann. Ich empfinde literarisches Schreiben als im Grunde politischen Akt, aufgrund des Erzählens von abweichenden, alternativen sozialen Welten und Denkmustern. Man ist sich als schreibender Mensch selbst überlassen, um aus sich selbst etwas zu schaffen - dieser Rückwurf auf die eigene Individualität, die damit verbundene Reflexion über Gesellschaft und Gegenwart, verlangt Konzentration und eine Punk-Mentalität, ein bisschen Irrsinn. Aber was kann Literatur? Für mich persönlich ist sie Ausdruck einer Haltung, die sich voll und ganz jeglichem Herdentrieb entgegensetzt. Sie kann festgefahrene Denkmuster unterwandern und aushöhlen, kann Propaganda entgegenwirken – sie kann aber auch gar nichts, nichts bewirken, nichts verändern, nichts wollen. Die Gegenwartsliteratur scheint mir im deutschsprachigen Raum zum Beispiel zu bedächtig zu sein, zu normiert auf bestimmte Inhalte und Charaktere. Mich nervt das ständig durchdeklinierte bildungsbürgerliche oder universitäre Milieu. Immer, wenn in einem Text eine Flasche Rotwein geöffnet wird oder ein Akademiker über seine Liebesnöte klagt, muss ich innerlich kotzen - oder wenn der zigtausendste Verweis auf oder die zigtausendste Anlehnung an eine Mythe des antiken Griechenlands kommt.
Vergleichst du deine literarische Arbeit oft mit der von anderen?
Nicht vergleichen - aber es gibt unterschiedliche Energien, so Stileigenheiten, die mich anziehen und mich glücklich machen, zum Beispiel das Surreale bei Malaparte, das Körperliche bei Maggie Nelson, das In-die-Fresse-plappern bei Marlon James, das Koksige bei Goetz, das Anarchistische bei Juliana Spahr: solche Texte wirken wie Fetische, die ich gern in meiner Nähe habe, da sie für mich eine bestimmte Art von Kraftfeld bilden.
Welche Frage sollte man dir öfter stellen?
Möchtest du mir was vorsingen?
Bei welchem Thema, egal ob in der Literatur oder allgemein, erlebst du am häufigsten ein mangelndes oder fehlendes Bewusstsein für die tatsächliche Dimension, Lage und/oder Beschaffenheit desselbigen?
Unverständnis bei vielem, das mit Fremde zu tun hat, mit der Notwendigkeit, sich tatsächlich zu bewegen. Ein mangelndes Bewusstsein dafür, dass Literatur eben das bedeutet: rauszugehen und sich mit dem Inhalt des eigenen, zu schreibenden Textes so obsessiv wie möglich zu beschäftigen, um diesen Inhalt, der ein Mensch oder ein Land sein kann, eine Tätigkeit oder ein Gefühl, so tiefreichend wie möglich zu verstehen. Ich höre oft, dass man durch das Internet doch jegliche Recherche von zuhause aus erledigen kann. Ähnlich dumm finde ich die Aussage, dass man nur über Dinge schreiben sollte, die man kennt. Scheint mir alles ein Bekenntnis zur Nabelschau, zur Lethargie. Interessant ist, dass erst der direkte Kontakt mit Fremden und das Unterwegssein eine Vielfalt enthüllen, an Details und an Geschichten, an eigenen Gedanken und Gefühlen, die sich in keinster Weise durch das virtuelle Wissen, über das wir zu verfügen glauben, ausdrücken, geschweige denn einfangen ließe.
Wenn du die Hauptthemen, um die dein literarisches Schaffen kreist, benennen müsstest, wie würden sie lauten? Gibt es formelle Gesichtspunkte, nach denen sich dein Schreiben immer richten wird?
Ein wiederkehrendes Thema ist Gewalt. Als etwas negatives, als dass, was Leben zerstört und in eine ungewollte Richtung zwingt, im schlimmsten Fall Krieg. Gewalt aber auch als etwas positives, als der Antrieb, sich über Gegebenheiten hinwegzusetzen, mit dem Status Quo nicht zufrieden zu sein und stattdessen etwas eigenes zu kreieren, Gewalt, wie sie in Graffiti oder Kunst generell zum Ausdruck kommen kann. Überhaupt, Kunst und künstlerische Aktion ist ein wichtiges Thema, das in meinem Schreiben eng mit der Frage verbunden ist, wie man als Einzelner Subversion ausüben kann. Und das wiederum hat mit etwas zu tun, das sich als „Insel“ umschreiben lässt: Mich interessiert das Abseitige, Andere. Sei es eine Soldatensiedlung im Kaukasus oder die Graffitiszene: alles Inseln, Subkulturen, die den alltäglichen Lauf stören oder verändern.
Du hast auch als Mitherausgeber an der Anthologie „Lyrik von Jetzt 3“ (2015 beim Wallstein Verlag erschienen) mitgewirkt. War es schwer damals eine Auswahl aus den Einsendungen zu treffen?
Für mich persönlich war es nicht einfach, ich hab in den Nächten, die der intensiven Auswahlarbeit folgten, nicht sonderlich gut geschlafen. Hilfreich war, dass ich mit Michael Fehr und Max Czollek zwei sehr fähige Partner hatte, ein jeder von uns hatte seine jeweils eigenen Favoriten, und wir verbrachten etliche Tage von Morgens bis Abends mit der Sichtung der eingereichten Texte. Unsere Vorgabe war, dass ein*e Autor*in drin ist, wenn sich mindestens zwei von uns dafür aussprechen – das war nicht immer der Fall, was wiederum zu Diskussionen führte und dazu, dass wir uns die Gedichte laut vorlasen, um bis auf die klangliche Machart über jeden Aspekt eines Textes zu streiten. Aufgrund dieser ganzen Arbeit kann ich auch hinter der Auswahl stehen, das war damals das Beste, das wir als Trio herausgeben konnten und wollten.
In der nächsten Ausgabe der Literaturzeitschrift LICHTUNGEN gibt es einen Schwerpunkt zur zeitgenössischen österreichischen Lyrik, den du zusammen mit Christoph Szalay betreust. Wie wichtig ist es deiner Meinung nach, dass regelmäßig auf diese Weise (oder ähnliche, siehe „Lyrik von Jetzt 3“) Bilanz gezogen wird und repräsentative Auswahlen präsentiert werden?
Im Hinblick auf das Sichtbarmachen von Autor*innen und Texten ist das meiner Meinung nach eine zwar aufwendige, aber sehr nötige Arbeit. Gerade mit dem Schwerpunkt in den LICHTUNGEN wollen Christoph und ich nämlich auf den Umstand reagieren, dass die zeitgenössische, jüngere Dichtung Österreichs weder in den Medien, noch im Handel und auch nicht in der Literaturwissenschaft angemessen präsent ist. Und das, obwohl die Szene einiges zu bieten hat, mehr, als wir selbst für möglich gehalten haben - was im Burgenland oder in Vorarlberg an aktueller Lyrik geschieht, das hatten auch wir nicht vollständig am Radar. Wir haben versucht, einen fundierten Überblick über sämtliche Orte, Initiativen, Bühnen, Projekte und Akteure zu geben, über die die jüngere österreichische Lyrik aktuell verfügt, einfach als Beleg, dass derzeit viel geschieht.
Wir danken Timo Brandt & Robert Prosser für das Gespräch!
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