Kolumne

Genug! oder: Wie schlecht es steht.

Im Dialog mit Philipp Bloms neuem Buch „Was auf dem Spiel steht“

Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruht – seit 400 Jahren das Geschäftsmodell des reichen Westens –, ist an seine Grenzen gelangt. Die Ausbeutbarkeit des Planeten ist längt überschritten, die Ausbeutung von Menschen und den Ökosystemen, von denen sie abhängen, führt zu millionenfacher Migration und katastrophaler Umweltbelastung. Es ist ein Modell mit Ablaufdatum, und dieses Datum wurde längst überschritten, ab jetzt wird es toxisch.

Es kam der Moment, in dem ich bei der Lektüre von Philipp Bloms neuem Buch dachte: das war’s, schlag das verdammte Ding zu, wenn das alles zutrifft, dann ist eh bald alles vorbei und nichts wird mehr sein, wie du es kennst, aber vielleicht kommt es ja ganz anders und du bist auch gar nicht betroffen dann und wenn doch, wirst du es früh genug merken und dann reagieren, mach doch einfach weiter mit deinem Leben, plane mit der Gegenwart, wer weiß schon, ob das wirklich alles so kommen muss. So schnell bricht die Welt nicht auseinander; soweit kann die Zersetzung noch nicht fortgeschritten sein.

Aber als ich weiterlas, wurden die vielen Bruchstellen und Risse immer deutlicher; selbst wenn ich das Buch wieder sinken ließ und zuklappte, konnte ich sie sehen, in der Welt um mich herum, in den Medien, überall. Digitalisierung, Klimawandel, globalisierter und enthemmter Finanzmarkt, mangelnde Solidarität und Toleranz und ihre vielen, vielen unerfreulichen Folgen. Und ich wurde von Blom nicht nur mit vollendeter Prägnanz auf das Prekäre an diesen Entwicklungen und auf ihr unerbittliches Gefälle aufmerksam gemacht, sondern auch auf ein paar zentrale emotionale und atmosphärische gesellschaftliche Zustände, war mir die Dimension der ganzen Bredouille noch einmal auf andere Weise vor Augen führte. Diese gesellschaftlichen und globalen Zustände sind nicht wegzudiskutieren – man kann sie höchstens in Teilaspekte zerreißen und jedes einzelne Phänomen für sich behandeln und bewerten und damit verschleiern, dass sie Teil einer großen, problematischen Gesamtentwicklung sind.

Die reichen, demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtclubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Bürgerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet. […]

Houellebecq und Hollywood, Lars von Trier und wissenschaftliche Langzeitstudien, Cormac McCarthy und zahllose Computerspiele zeichnen Dystopien. Eine vage Panik kursiert in unseren Adern. Kaum jemand in der reichen Welt glaubt noch ernsthaft, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird, dass harte Arbeit belohnt wird, dass Politiker im Interesse ihrer Wähler handeln wollen oder können, dass die Menschheit ein besseres Morgen erwartet. Also lieber keine Veränderung. So wird es zum höchsten Ziel den Status quo zu erhalten.

Soweit die klare Diagnose, die Philipp Blom im Prinzip in kleinerem Format schon in seinem furiosen Essay „Gefangen im Panoptikum“ umrissen hat. Es ist eine unumgängliche und himmelschreiende und gleichsam triste Tatsache, dass die liberalen Gesellschaften in Mitteleuropa nicht nur dabei sind, sich aufzulösen, sondern in gewisser Hinsicht auf einer Lüge basierten und basieren. Was wiederum nicht heißt, dass viele ihrer sozialen und technischen Errungenschaften ebenfalls eine Lüge oder ein Irrweg sind; auch die Werte der amerik. oder frz. Revolution oder die Werte der ersten griechischen Demokratie waren nicht per se schlecht, doch waren sie auf gewisse Weise ebenfalls verlogen, weil sie Menschengruppen von ihren Errungenschaften und Gemeinschaften ausschlossen. Die westliche Welt muss sich allmählich eingestehen: auch bei uns ist es nicht anders, unsere liberalen Gesellschaften, so großartig ihre Toleranz und ihre Fortschrittlichkeit auch sein mögen, schließen viele Menschen aus und wurden auf dem Rücken vom Rest der Welt erbaut.

Ist es den Gewinnern der industriellen Revolution und des Ölbooms möglich, mit demokratischen Mitteln die ökonomischen Vorrausetzungen ihrer Gesellschaften schnell genug und grundlegend genug umzustellen, um wieder eine Art Hoffnung zu rechtfertigen? Ist es möglich, eine auf Nachhaltigkeit basierende liberale Demokratie zu schaffen, oder war die demokratische Erfahrung der Nachkriegszeit, eine historische Ausnahme, die jetzt gerade ihr Ende findet, weil sich die globalen Rahmenbedingungen verschoben haben?

Nun sind selbst die westlichen Gesellschaften in einer Krise, denn was wir über lange Zeit mit dem Rest der Welt gemacht haben, wird jetzt im kleineren Maßstab in unseren eigenen Ländern vollzogen: Anhäufung von Reichtum bei wenigen, Lobbyismus mit plutokratischen Zügen, Entwertung der Arbeit und der Position der Arbeitnehmer, Monopolisierung, Elitenbildung, auseinandergehende Schere zwischen arm und reich – wir müssen uns eigentlich nur die USA anschauen, um zu sehen, wie unsere Gesellschaften sich in den nächsten 40 Jahren entwickeln werden; USA, das ist neoliberaler Kapitalismus im Endstadium.

Im Prinzip erleben wir gerade Zustände, die erschreckend sind und es ist eigentlich erstaunlich, dass die Lage relativ ruhig ist; natürlich auch, weil die aufgestauten Energien sich in anderen Bereichen entladen, sodass von den wirtschaftlichen Entwicklungen abgehängte Menschen sich plötzlich auf Migrant*innen einschießen oder sich nach einer starken, einheitlichen Kulturnation oder Ähnlichem (zurück)sehnen.

Die wirtschaftlichen und politischen Strukturen für eine existenzielle Krise der liberalen Demokratien sind längst geschaffen, und solche Krisen eskalieren nicht, weil Scharlatan X oder Bauernfänger Y gewählt wird oder die Macht ergreift, sondern aus einem systemischen Versagen, aus kollektiver Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung.

Eben diese Realitätsverweigerung wird derzeit kultiviert. Wir kennen doch alle die Bilder von den Müllbergen in den Ländern der "Dritten Welt" (als würde diese Bezeichnung eine andere Art von Planet erschaffen, der mit dem unserem nichts zu tun hat, weit von ihm entfernt ist ...), wir wissen, dass der Regenwald für billiges Fleisch und Palmöl gerodet wird, wir könnten wissen, dass 50.000 Menschen jeden Tag auf der Welt verhungern, wir wissen, dass unsere Nationen Bürgerkriege anzetteln, dass unsere Regierungen und Konzerne Waffen in Krisenregionen liefern, dass in Südostasien Menschen für einen Hungerlohn unsere Klamotten und Fußbälle produzieren und das unser Strom vermutlich mit fossilen Brennstoffen erzeugt wird, die den Klimawandel bedingen, der für bestimmte Menschen den Zusammenbrach ihres Lebensraums bedeutet.

Aber noch läuft ja alles: die Supermärkte sind voll, die Zeitungen liegen aus, Sportmannschaften fliegen und fahren quer durch die Welt und bespielen unsere Fernsehbildschirme, und auch das restliche Fernsehprogramm bringt uns Geschichten aus aller Welt vor die Tür, die Nachrichten drehen sich um Katastrophen und Kriege, als hätten die mit uns nichts zu tun oder um Stars und Glamour. Die Welt dreht sich also, was soll die Schwarzseherei!

Dass eben jener Mechanismus, der unsere(!) Welt so fidel in Gang hält, die ganze Zeit überstrapaziert wird, dringt zu den meisten Leuten anscheinend nicht durch. Was läuft, das funktioniert doch anscheinend, denken sie. Dabei sind die Auswirkungen der Strapaze längst sichtbar. Millionen von Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie dort keine Lebensgrundlage mehr haben, viele Menschen schließen sich radikalen religiösen oder politischen Bewegungen an, es werden radikale Anführer gewählt, Hurrikane und andere Naturkatastrophen nehmen zu, viele Menschen können von einer vollen Arbeitsstelle mehr schlecht als recht leben und an vielen Orten wird offen gegen Gutmenschentum und liberale Errungenschaften gehetzt, während ein paar wenige Menschen unvorstellbaren Reichtum anhäufen und ihn einsetzen, um sich vom Rest der Welt abzuschotten. Das alles sind Symptome einer größeren Krise und sie lassen sich nicht isolieren und einzeln verhandeln.

Auf Umwälzungen dieses Ausmaßes kann eine Gesellschaft nur entweder konstruktiv reagieren, oder sie kann sie erleiden.

Wie wollen wir leben? Es ist die Frage, die der großartige Kabarettist Volker Pispers öfter in seinen Programmen stellt. Die entscheidende Frage. Jetzt ist der Moment, in dem wir uns diese Frage stellen müssen. Dieser Moment kommt nicht wieder, er kann auch nicht konserviert werden. Die Entwicklungen, die jetzt gerade stattfinden, werden sich nicht einfach von selbst wieder normalisieren und einrenken. Sie werden sich genauso weiterentwickeln, wie sie es gerade tun, oder es muss etwas gegen sie getan werden. Und dabei ist diese Frage, nochmals, entscheidend: wie wollen wir leben? Sind wir bereit, etwas abzugeben von dem Wohlstand, den wir auf dem Rücken von vielen ehemaligen Kolonialnationen, Arbeiter*innen in Entwicklungsländern und breitangelegten Umweltzerstörungen aufgebaut haben? Sind wir bereit unseren Lebensstil zu ändern, auch wenn das bedeutet, dass eine große Auswahl bei Mode, Nahrungsmitteln, Life-Style-Produkten und vielleicht sogar Kultur einfach nicht mehr möglich ist? Und ist dieser Preis etwa zu hoch, wenn wir dann vielleicht allen Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Würde und mit der Aussicht auf elementare Glückserfahrungen ermöglichen können? Sind wir bereit selbstlos zu sein, in dem Moment, wo wir begreifen, dass es nur zwei Optionen gibt: selbstlos oder selbstzerstörerisch?

Menschen sind Primaten, die sich Geschichten über sich selbst erzählen. In diesem Satz liegt das ganze Geheimnis der Kultur, die Homo sapiens über viele Jahrtausende hinweg entwickelt hat. Geschichten sind kontrafaktische Weltentwürfe: Sie schaffen aus der Zufälligkeit, aus den Ungerechtigkeiten und der Kontingenz der Welt einen höheren Sinn, eine Orientierung und einen Wertekanon. Sie schaffen Selbstbilder und Haltungen, die in Handlungen übersetzt werden. […] Menschen sind Produkte der Geschichten, die sie über sich selbst erzählen, die ihre Gemeinschaft über sich erzählt. Fakten spielen dabei höchstens eine untergeordnete Rolle; meistens werden sie entweder ignoriert oder nach Bedarf nutzbar gemacht, verzerrt, uminterpretiert, geleugnet oder erfunden. Vor einem Jahrhundert waren das Narrative von Heldentum und Selbstaufopferung, heute sind es andere Ideale, die in unseren Gesellschaften dramatisiert werden.

Es ging und geht immer auch um Privilegien und wer sie innehat. Der französische Schriftsteller Albert Camus war sogar einmal so kühn, zu behaupten, dass die ganze Menschheitsgeschichte, seit dem sesshaft werden der ersten Stämme, nichts anderes sei als eine Liste der Kämpfe um/der Verteilung von Privilegien. Das ist sicher etwas zu kurz gegriffen, hat aber trotzdem viel für sich. Auch heute noch sind viele Probleme struktureller Natur und haben mit antrainierten und anerzogenen Vorstellungen über Privilegien zu tun. Der Mensch ist eben alles zugleich: ein egoistisches, triebgesteuertes Herdentier, mit der Fähigkeit zu abstraktem Denken, welches im Zusammenspiel mit der Fähigkeit zur emotionalen Empathie und den altruistischen Grundtendenzen des Herdentriebes ein Ideal geschaffen hat: das Ideal der Menschenrechte, das die Würdigung aller individuellen Geschöpfe beinhaltet, egal wie sie geschaffen sind.

Dieses Ideal ist schön und groß, so schön und groß, dass man meinen könnte, wir hätten hoch genug gebaut. Hoch genug vielleicht, aber definitiv nicht breit genug.

Vielleicht ist der alte Kreislauf von der Blüte zur Dekadenz, ein historisches Gesetz, von dem schon die alten Griechen schrieben.

Vielleicht ist es so und wir müssen uns damit abfinden, dass das Rationale am Menschen seine Einsichten sind, und das Irrationale, dass er nicht danach handelt, wie Friedrich Dürrenmatt sagte. Wir leben in einem Zeitalter der Erschütterung, es stürzen nicht nur liebgewonnene Märchen über die ach so perfekte technisierte und globalisierte Welt (wie sie von unserer Warte aus lange Zeit imaginiert wurde; der Weg ins Paradies, wie konnte er denn nicht über MacDonalds, IPhones, Pauschalreisen und das Jamba Spar Abo führen) in sich zusammen, sondern es haben ganz konkrete Umbrüche in den gesellschaftlichen Ansichten stattgefunden – und ich meine hier nicht nur so sprichwörtliche Umbrüche 9/11.

Mit der Bankenrettung verloren demokratische Regierungen ihre Legitimität in den Augen vieler Bürger, die begriffen oder zu begreifen meinten, dass hier eine Seilschaft sich selbst versorgte, während sie zahllose einfache, hart arbeitende Leute in den Abgrund stürzen ließ. Diese Krise hat nicht nur finanzielle Reserven nutzlos verbrannt, sondern auch sehr öffentlich und ohne jedes Schamgefühl den Glauben an die fundamentale Gerechtigkeit einer Gesellschaft, die ehrliche Arbeit belohnt und Verbrechen bestraft.

Man unterschätzt die Wucht hinter Ereignissen wie diesen. Die Bankenrettungen und die Eurokrise waren sicher nicht die wichtigsten Symptome der derzeitigen gesellschaftlichen und globalen Krisen, aber sie hatten eine starke, unterschwellige Kraft – sie zerstörten die Hoffnungen vieler Menschen in den westlichen Gesellschaften. Mit einem Mal entpuppte sich das, was als stabiles System erschien, als ein unzuverlässiges, moralisch geradezu hämisches und von einer gewissenlosen Elite betriebenes Weltmarktnetz, das nicht nur in sich zusammenbrechen konnte, sondern dessen Aufrechterhaltung dann plötzlich auch einiges geopfert werden musste. Plötzlich wurde klar: wir arbeiten nicht zusammen und füreinander in diesen Gesellschaften – die einen unten arbeiten hauptsächlich für die anderen droben. Diese Erkenntnis stach tief, denn sie negierte mit einem Schlag einen Großteil der Perspektiven. Wenn es auf Leistung nicht ankommt und Zusammenarbeit nicht die Bedingung ist, dann erscheint mit einem Mal alles willkürlich: ob einem der soziale Aufstieg gelingt, ob Krieg oder Frieden herrschen oder ob unsere Lebensgrundlagen auf dem Planeten noch zu retten sind.

Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber obwohl ich nie einen Tag in meinem Leben hungern musste oder durch irgendetwas grundlegend gesellschaftlich benachteiligt war, spüre auch ich diese Perspektivlosigkeit und meine sie an allen Ecken und Enden, unter den glorreichen Oberflächen, zu vernehmen. Und ich spüre auch die Gegenbewegungen, sehe, wie viele zu irgendetwas drängen, das doch noch einen besseren Zustand, eine Perspektive verspricht. In manchen Fällen ist das ein soziales Engagement, ein Fleck, auf dem man Widerstand leisten kann. Aber wie die letzten Jahre gezeigt haben, flüchten sich Menschen noch öfter in Heilsphantasien und vermeintlich sichere Szenarien, die von der „Festung Europa“, über die völkischen Identität bis zu noch groteskeren Theorien reichen. Und durch die Digitalisierung ist es noch einmal viel leichter geworden, in solchen Theorien zu existieren.

Durch die technologischen Errungenschaften ist es möglich geworden, ein Leben ohne Widerspruch zu führen, in einer Fantasie, die aus der digitalen Welt gespeist wird und die den eigenen Horizont immer exakter abbildet und anfüttert, ohne ihn jemals in Frage zu stellen oder zu erweitern. […] Diese sophistizierte digitale Verdummung erodiert die Demokratie mit beachtlicher Effizienz, denn sie lässt jede Debatte erlöschen.

Die andere, dunklere Seite des Netz-Fortschritts.

Schon Anthropologen wie Émile Durkheim und Claude Lévi-Strauss sind bei ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass der Fortschritt eine immense Achillesverse hat: Die dauernde Transformation, das Wegfegen des Alten, das Weggehen aus einer vertrauten Welt, die bald darauf zerstört wird, üben einen immensen Druck auf Menschen aus, die sich in der sich rasend schnell verändernden Welt nicht mehr zurechtfinden, nicht mehr zu Hause fühlen.

Wie sich an den vielen Zitaten ablesen lässt: Philipp Blom hat sich mit dem Stoff entschieden auseinandergesetzt, entschiedener als ich es bisher irgendwo anders erlebt habe, zumindest in der Breite der Themen und der Klarheit der Analyse (auch wenn einzelne Phänomene natürlich von anderen Autor*innen tiefer und umfassender untersucht wurden). Er beweist mit diesem Buch wieder einmal, dass er einer der wichtigsten kritischen Essayisten unserer Zeit geworden ist, auch wenn die Rolle des Untergangspropheten sicher nicht seine erste Wahl war und wohl auch nicht sehr angenehm ist. Man merkt dem Ton des Buches zu weilen an, wie düster sein Blick auf das Weltgeschehen bereits geworden ist (auch wenn es ein Kapitel am Ende von „Was auf dem Spiel steht“ gibt, in dem er imaginiert, wie ein Umkippen der derzeitigen Systeme von statten gehen würde/könnte – allerdings ist auch diese Vision nicht sehr rosig.) Ein Motto wie dieses hilft da sicher nur begrenzt:

Untergangspropheten sind eine ermüdende Begleiterscheinung kultureller Spannungen. Dumme Optimisten allerdings sind noch anstrengender.

Ich finde im Übrigen gar nicht, dass sie anstrengender sind. Mir jagen sie aber bereits des Öfteren Angst ein. Es ist entweder die Angst, dass ich anscheinend paranoid bin, wenn ich an all dieses drohende Unheil glaube, oder die Angst davor, dass wir nicht vorbereitet sind, wenn das Unheil kommt, weil es bis zur letzten Sekunde von den aufrechterhaltenen Fata Morganas unserer gewohnten Zukunftsperspektiven verdeckt wird.

Natürlich kann man viel prophezeien. Und sicher ist dieses Buch nicht der letzten Wahrheit Schluss. Aber es ist in seinem geringen Umfang doch ein Mammutwerk, eine bestechende Analyse der gerade stattfindenden Clashs und Crashs, die uns immer noch als begrenzte, zeitweilige Entwicklungen verkauft werden. Dem ist nicht so – es sind Entwicklungen, die sich nicht mehr umkehren lassen, man kann nur auf sie eingehen oder sie ignorieren. Und nicht auf sie einzugehen bedeutet, dass das Konzept Zukunft negiert wird. Und mit ihm das Konzept der Hoffnung. Blom imaginiert am Ende seiner Vision eine Historikerin, die in 40 Jahren über das frühe 21. Jahrhundert schreibt.

Sie ist fasziniert von einer Gesellschaft, die glaubte, ohne Zukunft und ohne Hoffnung überleben zu können.

Wir müssen unser Bild von der Welt wandeln oder der Wandel wird uns ergreifen. Wenn Blom schreibt:

Unsicherheit zehrt an einem Menschenbild, das zwei Generationen hindurch all seine Versprechungen zu halten schien. Wir hausen in den verfallenen Strukturen eines Nachkriegstraums.

dann kann das nur heißen: wir müssen uns in die Unsicherheit begeben, auch wenn wir dort verletzlich sind und vieles sich verändern wird, denn nur von dort können wir auf die Dinge blicken, die wir in Zukunft angehen müssen. Die Veränderungen werden nicht optimal verlaufen, aber auch jetzt läuft nichts optimal; es wirkt nur so.

Die Geschichte, in der wir zufällig gerade stecken, mit einer objektiven Wahrheit und Notwendigkeit zu verwechseln wäre ein fataler Irrtum.

Unsere Konsumgesellschaft, wie sie jetzt gerade existiert, ist ein Wahnsinn, das müssen wir uns eingestehen. Sie ist nicht aufrecht zu erhalten, sie ist vernichtend. Wir müssen anfangen zu überlegen, wie eine andere Welt aussehen kann, bevor wir nicht mehr planen können; wir müssen uns neue Konzepte für Glück und Erfüllung zurechtlegen. Konsum und gesicherter Erwerbs-Job – diese Ideen können nicht mehr die Hauptrolle in unserem Weltbild spielen. Konsum ist der Motor, der den Untergang antreibt, fast noch mehr als die Motoren Angst und Unverständnis; Jobs wiederum sind in unserer technologischen Gesellschaft einfach nicht mehr für alle vorhanden, es braucht neue Konzepte für Beschäftigung, Lebensunterhalt, etc.

Ich bin nicht sehr optimistisch, muss ich zugeben. Die Menschheit, obwohl durch so vieles verbunden, hat sich noch nie gemeinsam einer Aufgabe gestellt; immer ging es darum, dass einer den anderen beherrscht oder ausbeutet. Nun kommen sehr große Aufgaben auf uns zu und ich glaube nicht, dass wir bereit sind. Maybe, we’re doomed. Maybe not. But: things will change, dagegen kann sich nichts und niemand stemmen.

Immer wieder ertappe ich mich bei der Frage, ob die Dinge wirklich so kommen könnten, wie ich sie hier dargestellt habe, ob das nicht alles weit hergeholt ist, ein wenig hysterisch. Ich klopfe die Argumente ab, ich vergleiche. Ich komme zu dem Schluss: nein, nicht hysterisch.

Wirklich glauben will ich es aber immer noch nicht.

Ich möchte diesen Text beenden mit einem Zitat aus den Essays des russischen Dichters Joseph Brodsky:

Falls die Menschen überhaupt eine Chance haben, etwas anderes als Opfer oder Schurken ihrer Zeit zu werden, besteht sie in der prompten Reaktion auf die Schlusszeilen von Rilkes Archaischem Torso Apollos:

… denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

 

Hanser Verlag, München, Erscheinungsdatum: 24.07.2017, 224 Seiten, ISBN 978-3-446-25664-4, 20 Euro

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