Kolumne

liegengeblieben # 2 [Lettre]

Bikini-Effekt

Mir begegnet folgendes im industriellen Alltag oft: es werden Probleme nicht dorthin gedacht, wo sie prinzipiell aufgelöst werden können, sondern dorthin, wo sie mit dem geringsten Aufwand (= i.d.R. kostengünstig) so gestaltet werden können, daß man sie fortan ignorieren kann. Das ist ein großer Unterschied. Es zeigt, Problemlöser und Entscheidungsträger haben schon eine Vorstellung davon, wie die Problemlösung aussehen soll: sie darf nichts kosten. Sehr kluge Karriere-Menschen nutzen das und bieten solche Lösungen an, auch wenn sie nur zum Schein funktionieren.

Unlängst  erlebt: es erklärte ein externer Consulter seinem Auftraggeber gebetsmühlenartig: „das ist nicht Ihr Kerngeschäft“, was dahin führte, daß der Unternehmer das Gefühl hatte, er müsse sich nur endlich aufs Kerngeschäft konzentrieren und werde dann auch effizientere Verhältnisse sehen. Er ließ den Consulter wirken. Der blieb kerngeschäftig. Aufgewacht ist der Unternehmer am Ende, daß nach einigen Monaten und einer ½ Million Gage im Sand, auch die gewachsenen Betriebsabläufe komplett durcheinander gebracht und die Arbeiten, die nicht „zum Kerngeschäft“ gehörten, für teures Geld an auswärtige Firmen vergeben worden waren. Am Ende wurde per anno nicht ein einziger Prozentpunkt mehr produziert, bei gleicher Mannschaft, aber die Kosten waren explodiert. Nicht fertig gedacht? Kosmetisch gewirkt?

Das Denken bewußt gebeugt. Weggebogen, umgeleitet. Den Verheißungen nach. Das kann unser Kopf auch, wenn er Fakten prüft. Er schaut sie an und testet, ob er sie für eigene Zwecke gebrauchen kann.

Wie komme ich darauf?
Ganz aktuell lese ich in der neuen Lettre International N° 119 von dem Phänomen „Bikini-Effekt“, Manuel Arias-Maldonado erwähnt ihn in seinem Essay über „Die affektive Wende“:

Er „... wurde von einem Forscherinnen-Team vorgestellt: Als Ausgangspunkt nahmen sie eine Reihe von Tomographien, diese wurden bei Männern vorgenommen, denen man Photos von Frauen vorlegte, welche die genannte Badebekleidung trugen. In ihren Gehirnen verstärkte sich die Aktivität des Prämotorcortex, wie man beobachten konnte: Es war dieselbe Aktivität, wie wenn wir Objekte betrachten. Wenn ein Mann eine Frau im Bikini oder in Unterwäsche betrachtet, findet also die von der feministischen Kritik angeprangerte „Verdinglichung“ buchstäblich statt.“

Arias-Maldonado benutzt dieses Beispiel, um zu zeigen: „Die somatischen Reaktionen oder neuralen Prozesse können Grenzen für die Moralisierung der individuellen Verhaltensweisen kennzeichnen oder das Maß an Freiheit, das wir besitzen, in Frage stellen.“

MAM sieht ein normiertes menschliches Verhalten als erwünscht, dieses kann aber nicht „verordnet“ werden, weil die wie autonom wirksame natürliche Ordnung gegen sie spricht. Er erklärt uns deshalb, daß „die Wirksamkeit unserer Normierungsstrategien begrenzt“ bleiben werden.

Ich erschrecke. Lese ich richtig? Ist das tatsächlich so: der geliebte Liberalismus möchte mich über meinen Kopf hinweg „moralisch normieren“. Egal aus welcher politischen Ecke das kommt, ob von rechts oder links, ich hebe meine Hand und bin dagegen. Bitte tut das nicht. Bitte versenkt meine individuelle Moralgeschichte nicht unter die Zwangshaube der political correctness. Nicht, weil sie mir besonders lieb wäre, ich betrachte sie selbst als brüchig und dito meine Narrative, sondern weil Versenken und Einkerkern die Offenbarung schlechthin ist dafür, daß menschliche Prozesse  NICHT verstanden wurden und NICHT in den Griff zu bekommen ist. Man erklärt etwas für biologisch und neuronal bedingt und schon ist man raus aus der Bewußtseinsveränderungspflicht, und die Bahn ist frei für Verordnung.

Political correctness kann man m.M.n. nicht verordnen und überstülpen. Wenn sie nicht aus der Mitte der Individuen selbst lebt, lebt sie gar nicht, sondern rahmt, begrenzt, ist und wirkt aufgesetzt. Eine Normierungsattacke auf mein Leben ist und bleibt ein Übergriff, solange mein Leben selbst nicht die faire Chance erhält, die gewünschte Normierung durch das gelebte Leben der angestrebten Inhalte sich zuinnerst selbst zu erarbeiten und dann in natürlicher Weise zu vertreten. Wer also bestimmte moralische Akzente verwirklicht sehen will, sollte zu allererst einen Weg suchen, wie diese aus sich selbst heraus in einem sozialen Zusammenhang erwachsen können, statt sie zu „verordnen“. Wie kann ich moralische Inhalte verwirklicht sehen, die mir wünschenswert erscheinen, ohne sie zu verfügen? Wie krieg ich gelebt, was ich als wünschenswert erkannt und ausgegeben habe. Per diktatorischem Befehl = einer Normierung?

Ganz sicher nicht. Denn ja, es gibt altes Reaktionsfleisch in uns, auch alte Reaktionsseele (womit nicht die religiöse Seele gemeint ist). Es gibt ganz elementare Bindungen, praerationale (und „trotzdem“ im Weltgeschäft bewährte) Funktionen, hierarchisierte Wirklichkeiten, Neanderthalertum und Fischsein. Es gibt diese ganze Reisigkeit, nicht nur in sexueller Hinsicht, sondern was Lebensmächtigkeit angeht und Durchsetzvermögen, also die Trump'sche Dumpfheit, die sich nicht als Lebensoption eleminieren wird durch verordnete correctness, sondern nur durch „verändertes“ Reisigsein. Wer defizitär verlebte Menschen daran hindern möchte über Gebühr zu agieren, wo es ihnen plötzlich zukommt, sollte dafür sorgen, daß es heimliche Defekte und irreparable Schulden gar nicht erst gibt. Wer reisig ist, sollte reisig sein dürfen, aber „gesund reisig“. Das ist/wäre eine andere Form von correctness.

Eine Gesellschaft, die grob vereinfachend alles mit der normierenden Macht der political correctness zu erschlagen versucht, wird erst recht heimlich defekte Menschen mit unbezanhlbaren Schulden erzeugen, die als soziale Minen in allen Schichten auf ihre „Auslösung“ warten. Unkorrekte correctness erzeugt Randrucken und Abdriften.

ohne Titel, Collage von Frank Milautzcki (2007)

Anlass dieser kleinen Einlassung ist das von MAM angebrachte Beispiel der Tomografien, die angeblich so klar zeigen, daß Männer, so sie denn Frauen in Badebekleidung betrachten, die Frauen „verdinglichen“, weil sich darauf nachweislich die Aktivitäten des Prämotorcortex verstärken.

Das sieht doch sehr nach einem herbeigesuchten Argument aus, nach einem Kosmetikangebot: kein Mensch weiß, was in einem anderen Menschen wirklich passiert, wenn man das durch tomographische Bildgebungen aufzeigt, man kennt bestenfalls eine Korrelation. Was genau das Sehen dieser Dinge an innerpsychischen Mechanismen auslöst, an individuell erlernter Betrachtungsdenke und welche davon ausgelösten Wunschlawinen, läßt sich durch eine Tomografie m.E. nicht entscheiden. Inwiefern das Phänomen „reagierender Prämotorcortex“ einer Gleichheit unterliegt, die schaltungstechnisch gattungsweit dasselbe aufzeigt und dasselbe bedeutet, halte ich als Fragestellung legitim, aber mit unserem aktuellen Wissensstand nicht wirklich entscheidbar.

Was in einem Mann in einem sehr frühen Erkennungsstadium passiert, wenn er das Bild einer Frau im Bikini sieht, ist Fallgeschichte. Und womöglich auch Farb- und Formgeschichte. Ist diese sehr frühe Check-Situation wirklich einer Verdinglichung gleichzusetzen, bloß weil das Checken von Dingen allerseits in gleichen Gehirnarealen abläuft (ablaufen m u ß : denn dieser erste, ich sag jetzt „faktische“ statt „dingliche“ Check entscheidet darüber, wie's weiter geht mit der Reaktion)? Und kann man auf einem Fußballplatz (dem Prämotorcortex) by the way nicht auch Picknicken, Open Air-Konzerte geben oder mit den Kindern tollen – und jedesmal ist dort was los.

Wäre das nicht sogar eine theoretische Entlastung der „unausweichlich“ sexistischen Männlichkeit, wenn Männer nicht ausschließlich im allertierischsten Teil ihres Hirns ansprechen und partout eine Erektion bekommen, sondern immerhin auch „faktisch“? Der Mann nimmt sich schließlich die Zeit neben der Verarbeitung des sexuellen Reizes noch weitere Begebenheiten zu checken und womöglich nüchtern einzuordnen.

Was auch zu beweisen wäre: ob das, was in „der Frau“ im Prämotorcortex geschieht, wenn sie Photos von einem Mann in Badehose sieht, anders dinglich wäre, oder ob die Frau in der gleichen Versuchskonstellation die gleichen „Prämotorcortexprobleme“ hätte? Und was man vielleicht gar nicht vergessen darf: es geht hier um Bilder, die vorgelegt werden – um visuelle Objekte und es stehen den Probanden keine leibhaftige Menschen gegenüber.

Die hirnreale Bezeichnung Prä-Motor-Cortex beschreibt, was das Areal tut: es überprüft Weltbegebenheiten, ob auf sie in welcher Art und Weise reagiert werden muß – dieses Ding da vor mir, diese Weltangelegenheit – wohin sollte es meine Motorik leiten? Mehr und Anderes passiert dort nicht.

Das ganze Argument ist sowas von kurios, daß man ob dieser schlängelnden Schlampigkeit in den basics einer Behauptung durchaus das Interesse und den Glauben an den darauf aufbauenden oder dahinter stehenden, ernsthaften Theorien verlieren kann. Alles in allem: Bitte! so geht man nicht vor! Das ist schlampig zusammengedacht und in gewisser Weise dadurch auch respektlos bis arrogant.

Von hier führt der nächste Schritt in eine sich spaltende Gesellschaft: wenn solche Argumente zu moralischen Forderungen führen dürfen, die per Normierungsstrategie und correctness mich und jeden zukünftigen Menschen anleiten sollen (also Schlampigkeit, Irrealismus, Spleenglaube einen unbedingten Zugang zu meinem Leben fordern), da verstehe ich schließlich, daß Menschen nicht mehr von solchen intellektuellen Eliten geleitet werden wollen, und erst recht dann nicht, wenn Zweifel an der Unabhängigkeit und der Denkleistung dieser Eliten dazu führen, im Gegenzug  mangelnder correctness beschuldigbar zu sein. Und ich spreche da nicht von Afd-Idioten.

Nochmal das Ausgangszitat von Arias-Maldonado:
„Die somatischen Reaktionen oder neuralen Prozesse können Grenzen für die Moralisierung der individuellen Verhaltensweisen kennzeichnen oder das Maß an Freiheit, das wir besitzen, in Frage stellen.“

Auf die Spitze gedacht: wir stoßen mit moralisierenden Bemühungen an natürliche Grenzen einer biologischen Ausstattung, die uns hindert ein „korrekter“ Mensch zu sein. Der Mensch steht sich selbst im Weg. Der gewollte Mensch kann nicht verwirklicht werden, weil er biologisch nicht dazu taugt. So viel Freiheit ist ihm aus sich heraus nicht möglich. Man müßte ihn erst dorthin entwickeln.

Da frage ich: der von wem gewollte Mensch?
Mit Idealbildanforderungen tauchen fast schon faschistoide Züge auf: um den korrekten Menschen geben zu können (moralisch jederzeit auf Höhe der Zeit = dem Stand der Wissenschaften entsprechend), muß der Mensch der Zukunft seine Biologie überwinden. Er muß – statt blond und blauäugig – ultrareflektiert und momentfixiert sein, immer on, dafür besitzlos und prinzipiell leer. Nur dann schafft er den Sprung in die totale correctness. Er muß, losgelöst von den Tagesgeschäften der Welt, greifbar sein für die Klarheit des Moments und seine Prozesse. Das liest sich für mich so, als denkt da jemand nicht über den weltgebundenen Menschen nach, sondern über ein eigenes, von weltlichen Problemen völlig losgelöstes, in den PC tippendes Ideal:  Manuel Arias-Maldonado ist ein 1974 geborener Sozialphilosoph, der sich für die Frage interessiert, ob sich derzeit ein Wandel vom „autonomen“ zum „postsouveränen“ Subjekt vollzieht. Und ja, er steht auf Seite der „Guten“.

Er hat sogar recht. Wir haben uns gewandelt von autonomen Wesen zu postsouveränen Subjekten.  Indem wir unsere Verortung verschoben haben hinein in einen Werkstattmoment, vom Unbill der Welten hinein ins personal computing.  Aber, so MAM, die verlorene Autonomie war eine aus fragwürdigen biologischen Tricks gewonnene, und die neue Souveränität verzichtet darauf, im klaren Wissen damit auch Freiheit zu opfern. In diesem Spannungsfeld siedelt MAM seine Wunschidee an: ein Individuum zu erfinden, das den möglichen Wissensstand korrekt verkörpert und damit den Liberalismus als regulative Idee in einem disziplinierten Selbst institutionalisiert, aber das gleichzeitig in seiner Selbstentwicklung größtmöglich persönliche Lebenspläne verfolgt. Zusammengefasst: Daß wir uns mühen unser Wissen von der Welt in unser Handeln so zu integrieren, daß jenes als weitgehend korrekt gelten kann. Wünschenswert ist das.

Das große Aber aber kommt aus dem Blick in die unüberschaubar gewordene „wissenschaftliche“ Welt: wenn solche Humbug-Erkenntnisse wie jene über den Bikini-Effekt die Basis bilden sollen für eine moralische Normierung, dann können wir stattdessen auch Nazi-Ideologien oder Natur-Religionen benutzen.  Die sind genauso unsauber und mythisch hergeleitet, genauso bescheuert und placebotisch. Humbug bleibt hier wie dort Humbug.

Wenn wir Sorge tragen um die Zukunft des Menschen, wie es Manuel Arias-Maldonado tut, dann müssen wir uns zuallererst oder nochmals und immerwieder um die Stimmigkeit unserer Theorien und die Reinheit unserer Gedanken und unserer Absichten kümmern und das fängt an bei den Grundthemen, die übrigens genau dort beginnen, wo der Postsouverän sich zuhause wähnt: im Moment, im globalen On. Ein neuer Realismus würde es nicht für ausgeschlossen halten, daß die Antworten, die wir in ihm parat haben und ihm geben, eine monologische Struktur haben, also nicht wirklich in Zwiesprache mit „der Welt“ treten, sondern immer nur eine Souveränität behaupten, die es ohne weltfressende technische Struktur gar nicht gäbe und die von daher nicht wirklich zukunftsverträglich ist.

Ich würde also zumindest dafür plädieren, „den Moment“ aufgrund seiner aus der Weltsicht monologischen bis dialogischen Anlage her zu klassifizieren. Wie gesagt: aus Weltsicht (und das ist wirklich „globales Denken“), dem Blick der Welt auf uns, nicht dem Blick von uns auf die Welt - denn aus menschlicher Sicht sind Sinn und Wahrheit völlig austauschbar und für eine stimmige Weltsicht nicht unbedingt relevant.

Auch Liberalismus, Dekonstruktion und Leere sind nur Bilder für – ja, für was? Für prinzipielle Formbarkeit und reale Formverträglichkeit? Laut Manuel Arias-Maldonado ist der Moment leider oft genug nur ein Schauplatz unserer und aller Affekte. aber ist er nicht auch ein Muster für das Bei-Spiel, für das Hinzuwagen, das Entwickeln und Auspacken. Spielt dabei nicht auch das Fühlen eine Rolle, als Mittel der Wahrnehmung und des Einbezugs? Darf man Fühlen, wenn man korrekt sein soll? Wird so manche Wahrnehmung nicht erst wirklich über das Fühlen korrekt und adäquat? Und was darf man fühlen: das affektierte Ich oder das darum bereinigte? Wie kämen wir dahin, unsere Affekte so hintan stellen zu können, daß uns ein „reineres und damit demokratischeres“ Fühlen möglich wird?

Man spürt direkt: das ist sehr dünnes Eis: Das affektbereinigte Ich. Und sind wir auf dem Weg dorthin mit der uns derzeit zur Verfügung gestellten Zivilisation, mit der aktuellen Menschenwelt, die von einer affektierten Aktion in die nächste stolpert, und in der wir, um es jetzt ins ganz Große zu tragen, versuchen miteinander jeder für sich selbst zu sein?

Ich glaube wie Arias-Maldonado, die Menschenwelt muß sich nochmal und nochmal besinnen und verändern, um den (auch fühlbaren) Moment so auf die Reihe zu kriegen, daß wir uns in ihm weltverträglich zeigen (was nicht von vorneherein gleichbedeutend ist mit wissenschaftsverträglich). Und jede Übung in correctness ist nur so etwas wie ein Gerade-am-Tisch-Sitzen, eine disziplinierende Übung auf dem Weg dahin. Im Falle von Humbug im Hintergrund aber eben auch eine soziologisch wirksam werden könnende Bedrohung! Deshalb bitte ich sehr: Man möge miteinander sprechen und sich einander befragen – warum dem Einen das Eine und dem Anderen das Andere korrekt ist. Diese simple Frage nach dem Warum läutet mehr Korrektur ein, als jede Verbibelung und correctness.

Ich möchte gerne offen bleiben und ich habe keine Angst davor, daß Dinge in mir geschehen, die „biologisch“ sind. Ich bin nicht so vermessen zu behaupten, daß eine korrekte Welt, eine von Menschen vermessene und herbeigedachte Welt sein muß. Der Moment redet nicht vom Reich der Wirklichkeit, sondern vom Reich der Möglichkeit.

Und bin zum Schluß doch noch (wenigstens bei einem Teilsatz) mit Manuel Arias-Maldonado. „... obwohl uns dies nicht vom Einfluß unserer Affekte befreit, werden wir uns dessen zumindest bewußt. Das scheint wenig zu sein, aber es ist von erheblicher Bedeutung.“

ohne Titel, Collage von Frank Milautzcki (2007)

Von Bedeutung wird auch sein: ob wir lernen, daß Affekte nicht per se „unvernünftig“ und „tierisch“ sind, sondern so sie beispielsweise aus einem gesunden Fühlraum stammen, Antwortversuche und Ichausgleiche, die durchaus weltverträglich ausfallen können, und die durch affektierte correctness Staus und innere Fronten erzeugen können, welche erst recht destruktiv wirken. Mit einer Normierung dort hineinzupreschen, wo sich die Gesundheit des Einzelnen zeigen und entwickeln kann oder nicht, ist m.E. die so ziemlich dümmste Knüppelei, die man einem Ich-Wagenden antun kann.

Letztlich zielt das ganze Thema auf die Frage der Beherrschbarkeit „des Lebensmoments“ - was ist dazu notwendig und was nicht. Muß ich den Lebensmoment in eine Disziplin gießen, die jede anthroposzenische Unkorrektheit vermeidet?

Ja, ich muß – weil die Beschaffenheit „unserer Momente“ einen ungeheuren Weltverbrauch nach sich zieht, den ich nur noch durch disziplinierteste Begrenzung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Verstrickung irgendwie halbwegs ausbalanciert kriege – auf kurze Sicht.

Oder darf Leben weiterhin bedeuten, daß es sich aus „sich heraus“ entwickelt. Bedeutet das aber dann nicht automatisch, daß der Mensch als Teil der Natur, wenn er für sich definiert, welche Disziplinen zu ihm gehören dürfen/sollen und welche nicht, sowieso einen „natürlichen Weg“ geht? Ist beispielsweise der Cyborg eine natürliche Erscheinung? Ist das Leben an sich ein Werte setzender Prozess und welche Prozesse gehören zum Leben an sich. „Regulation und Leben“ nennt Georges Canguilhem dieses Spannungsfeld. Wirklich keine leichten Fragen. Aber genau diese Fragen müssen uns beschäftigen, denn sie stellen immerhin die Superposition eines Liberalismus in Frage, der uns womöglich wie ein Consulter das Kerngeschäft definiert und uns unter dem Mantel eines „moralisch einwandfreien“ Ziels erstickt, weil er die soziologische Realität einer falsch herausgewissenschafteten Erscheinungsart der Zivilisation per Diktum angleichen will.

*
Lettre International  No. 19
13.90 Euro / Winter 2017

 

 

 

 

 

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge