Kolumne

Literaturpreis Ruhr 2018 für das Gesamtwerk

Dank an die Jury des Literaturpreises Ruhr 2018 und an die Laudatorin Ulli Langenbrinck, Dank an den Regionalverband Ruhr und an Monika Simshäuser und Karola Geiß-Netthöfel, Dank an Antje Deistler und an das Team des Literaturbüros Ruhr

Selbstauskunft

Vor kurzem wurde ich gebeten, etwas über mein Verhältnis zu dem aus dem Ruhrgebiet stammenden Schriftsteller Nicolas Born zu schreiben. Der Autor, 1979, kurz vor seinem 42. Geburtstag in seinem Haus in Niedersachsen infolge einer Krebserkrankung verstorben, ist 2007 posthum zusammen mit seiner Tochter Katharina Born durch die Verleihung des Literaturpreises Ruhr gewürdigt worden. Ich habe Born nicht persönlich kennen gelernt, ich kenne seine Romane, Erzählungen, Gedichte und Selbstaussagen. Und ich kenne die  Aussagen der Menschen, die an seiner Seite waren, als er sich zu einem der wichtigsten Schriftsteller seiner Generation entwickelte.

Am 7.12.2018, dem Tag der Verleihung des aktuellen Literaturpreises Ruhr, jährt sich Borns Todestag zum 39. Mal.  Am 7.12.1999, anlässlich seines 20. Todestages, strahlte der WDR mein literarisches Hörfunkfeature Ein Augenblick im Leben des Entdeckers. Eine Erinnerung an Nicolas Born aus. Ein paar Tage später, am 11.12.1999, erschien mein auf diesem Feature basierender Aufsatz Augenblicke aus dem Leben des Entdeckers im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Axel Kahrs, damals Vorstandsvorsitzender der Nicolas-Born-Stiftung, bezeichnete meinen Text als „ersten großen Gedenkartikel“, der am Anfang einer Wiederentdeckung des Autors stand. Die langjährige Stern-Redakteurin Ingrid Kolb, verheiratet mit Borns Schriftstellerfreund Hermann Peter Piwitt und in jener Zeit Leiterin der Henri-Nannen-Schule für Journalismus in Hamburg, deren Absolventin ich bin, reagierte auf meine Publikationen mit den Worten, Borns medienkritischer Roman Die Fälschung müsse Pflichtlektüre der journalistischen Ausbildung werden. Ebenfalls in Borns 20. Todesjahr erhielt ich den Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr für meine essayistische Collage Der neue Oberflächencode. Gedanken zu Bildern und Wörtern, die am 20.11.1999, dem Tag nach der Preisverleihung, im Magazin der Frankfurter Rundschau erschienen ist.

Nun habe ich die Ehre, für mein gesamtes bisheriges Werk mit dem Hauptpreis des Literaturpreises Ruhr 2018 ausgezeichnet zu werden. Zugleich werde ich gefragt, ob Born meine eigene literarische Arbeit beeinflusst habe, die Ruhrgebiets-Tristesse seiner frühen Texte etwa, die Darstellung meiner Geburtstadt Essen als „Stadt mit dunklem Gesicht, in der man nicht wohnen möchte“. Die Frage scheint nahezuliegen, heißt es doch zu Beginn meines neuen Romans Fehlversuche. Kein Kinderbuch (2018)

„... grau sind die Häuser der Reviermetropole, grau ist der Feinstaubhimmel über ihnen, die Mutter des Kindes empfindet das Wetter als persönliche Beleidigung, Grau ist hier keine Farbe, sondern ein Zustand, Krupp ist allgegenwärtig, sogar in der Heilkunde, die eine Krankheit nach ihm benannt hat, an der viele Säuglinge und Kleinstkinder sterben, aber nicht dieses Kind, denn sonst wäre seine Geschichte schon zu Ende, die doch gerade erst ihren Anfang nimmt.“

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Der Begriff „Heimat" erfährt derzeit eine Renaissance: Man glaubt, wissen zu  müssen, woher man kommt, um wissen zu können, wer man ist. Als junge, noch in Essen lebende Leserin hat mich Émile Zolas sozialkritischer Roman Germinal, in dem es um das Elend der Bergarbeiter im Frankreich des 19. Jahrhunderts geht, genauso begeistert wie der im Ruhrgebiet spielende Erzählungenband Täterskizzen von Nicolas Born. Das Ruhrgebiet habe ihn immer wieder eingeholt, hat Born gesagt, die Bilder vom Dreck, der Steinstaub auf den Stimmbändern, er sei unzufrieden geblieben. Auch ich, die Nachgeborene, habe irgendwann angefangen zu schreiben, weil ich unzufrieden war. Vielleicht klebt auch ein wenig Steinstaub auf meinen Stimmbändern. Aber es sind andere Bilder als die vom Dreck, die meine Kindheit im Ruhrgebiet geprägt haben. Davon später mehr.

Wenn man den Ort, in dem man geboren und aufgewachsen ist, früh verlassen hat, trägt man ihn wie ein Heimatmuseum in sich. Erinnerungen gibt es an Namen, Strassen, Plätze und Produkte, die längst vergessen sind. So ist der „Samtkragen" kein Kleidungsstück, sondern ein klarer Schnaps mit Magenbitterrand, den Borns Protagonisten allabendlich an der Theke trinken. Was dem einen der „Samtkragen“, ist der anderen der „Jägermeister“, ebenfalls ein Getränk von vorgestern, das aufgrund einer geschickten Werbestrategie die Zeiten überdauert hat. Ironie, situative Komik, Sprachwitz und eine spezielle Metaphorik scheinen mir die geeigneten Stilmittel zu sein, um die Erinnerung vom Klischée fernzuhalten, von der unterhaltsamen Nostalgie. Und so wird mein „Jägermeister“ nicht nur getrunken, sondern er trinkt selbst – heißt es doch in Fehlversuche

„... der Jägermeister kichert, er ist sehr betrunken, nur gut, dass er keinen Führerschein hat, den müsste man ihm abnehmen, den Jagdschein hingegen darf er behalten.“

Borns Werks steht – wie Zolas Werk – im Zeichen des literarischen Realismus. Gefiltert durch das dichterische Bewußtsein wird eine gegenwärtige oder historische Welt abgebildet, die ich als Leserin kenne oder kennen könnte. Trotz meiner frühen Begeisterung für diese literarische Tradition habe ich mich im Verlauf meiner eigenen schriftstellerischen Entwicklung stärker an einer sprachkritisch-experimentellen Literatur orientiert, die mit Identifikationen bricht. Vermittels Fantasie, Intertextualität, Sprachspiel und Forminnovation werden die Grenzen der Wahrnehmung ausgelotet und neue Erfahrungsräume erschlossen. Die Figuren sind Kunstgestalten, die Texte Versuchsanordnungen. Mit einem eigenen Zugang zu Sprache, Struktur und Formexperiment  habe ich mich diesen Schreibweisen angeschlossen. „Heinemann interessiert nicht besonders, in welcher Welt wir uns befinden, sondern welche Welt wir uns erfinden“, lautete das entsprechende Resümée des österreichischen Kritikers Anton Thuswaldner in einer Rezension meines ersten Romans Der Spielplan. Ein Liebesroman (2006), in dem es zu Beginn heißt:

„Irgendwie beginnt jeder Liebesroman. Wie spannend, wenn er mit einer chemischen Analyse beginnt, mit einer symbolischen Symmetrie, mit zwei Wahlverwandtschaften vier paarbereiter Elemente!

Dieser Liebesroman beginnt mit einem schlichten Satz, gesprochen von Brigitte. Brigitte sagt, ich liebe dich.

Brigitte sagt diesen Satz, weil sie ihn oft in ähnlichen Situationen gesagt hat. Brigitte hat diesen Satz oft in ähnlichen Situationen gehört und gelesen, im Kino, im Fernsehen, in Liebesromanen. Brigitte ist sich ihrer kulturellen Prägungen selten so sicher wie in diesem Augenblick. Und doch ist es möglich, dass sie diesen Satz sagt, weil sie hofft, dass Romantik Verkrampftheit ablösen wird, sie weiß es nicht genau.“

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Die Welt als Labyrinth ist der Kurztitel eines Kultbuches über den Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, den der Autor Gustav René Hocke nicht als Stilepoche auffasst, sondern als „Ausdrucksgebärde“ jener, die in ihrer künstlerischen und literarischen Arbeit auf Fantasie anstatt auf Mimesis setzen. Sinnbild des Manierismus von der Antike bis zur Gegenwart ist für Hocke das Labyrinth, wie es sich in Piranesis Carceri zeigt, die, als Vorlage einer fantastisch-illusionistischen Schlossdekoration, einen englischen Exzentriker des 18. Jahrhunderts, nämlich den Protagonisten meiner Monografie Babylonische Spiele. William Beckford und das Erwachen der modernen Imagination (2000), zur Niederschrift eines folgenreichen pseudo-orientalischen Romans unter dem Titel Vathek inspirierten: Jorge Luis Borges, Mitbegründer des Magischen Realismus und Inspirator der literarischen Postmoderne, und der deutsche Expressionist Carl Einstein – beide Manieristen im Sinne Hockes -, sind nur zwei von vielen, die Beckfords Werk beeindruckt hat.

2001, ein Jahr nach dem Erscheinen meines Buches über Beckford, war ich im Berliner Kunst- und Kulturzentrum ACUD an der Inszenierung eines berühmten, nur auf Silben beruhenden dadaistischen Lautgedichts beteiligt - es handelte sich um Kurt Schwitters Sonate in Urlauten. Wie in der abstrakten Malerei wird das Material hier nicht mimetisch eingesetzt. Völlig auf sich selbst bezogen nähert sich die Sprache vielmehr der Musik an. Ein paar Jahre zuvor hatte ich wie im Traum im Pariser Centre Pompidou die Rekonstruktion des ersten Schwitterschen Merzbaus durchschritten, eine perspektivisch verzerrte labyrinthische Rauminstallation, deren Fotografie seit Jugendtagen über meinem Schreibtisch hing. Mitte der 60er Jahre hatte der britische Pop-Künstler Richard Hamilton Schwitters viertes und letztes Merzbau-Projekt, die Merz Barn, aus einer Scheune im Lake Distrikt in die Hatton Gallery der Universität von Newcastle upon Tyne bringen lassen. Es war die Zeit, in der Yves Saint Laurent in Paris mit Minikleidern im Mondrian-Look Erfolge feierte und ich, sechsjährig und an der Hand des Vaters, zum ersten Mal das Museum Folkwang in Essen betrat: Ich sah geometrische Kompositionen und Collagen unterschiedlicher Materialien, ich sah die stilistische Vereinfachung und die kleinteilige Zerlegung gegenständlicher Formen, ich sah das perspektivische Spiel mit Wahrnehmungsebenen und die Kombination ungewöhnlicher Motive – es handelte sich in summa um eine künstlerische Weltdarstellung, die mir inwendig bekannt erschien.

„Von einem Meisterwerk berührt zu sein", so Andrei Tarkowski, "bedeutet, dass ein Mensch den gleichen Drang nach Wahrheit verspürt, der den Künstler zum kreativen Akt bewegt hat.“ Mit in meiner jetzigen Vorstellung hochrotem Gesicht zeichnete ich am Abend nach dem Museumsbesuch Sonne, Mond und Sterne in kubistischer Manier. Ich war inspiriert, ich fühlte mich verstanden, ich war nicht allein! Hinter der vordergründig erscheinenden Realität verbarg sich eine höhere, eine reine Realität, die es zu offenbaren galt! Der kunstfeindliche Philosoph der Antike hätte vermutlich seine Freude an mir gehabt. Vielleicht auch Kurt Schwitters oder Piet Mondrian, Namensgeber des Asterioden 15468 und, mit den Worten Oskar Schlemmers, „Gott des Bauhauses“, nach dem das Wesen der Dinge nicht durch eine realistische Darstellungsweise erfasst werden kann. „Das ist Abstrakte Kunst,“ hatte mein Vater zu mir im Museum gesagt, der im übrigen nicht gleichzusetzen ist mit der fiktiven Vaterfigur in meiner Erzählung Der Brief an den Vater (2010), in der es gleichwohl um Kunst und Literatur geht:

„Mein Vater war, wie gesagt, von niedriger Herkunft, er stammte, wie er freimütig zugab, von einer der vielen ungebildeten, aber, wie er stets hinzufügte, nicht unbegabten Landarbeiterfamilien ab, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Osten, aus Böhmen, Schlesien und Ostpreußen, ins Ruhrgebiet eingewandert waren, nicht, weil die Kultur sie angezogen hätte, die man dort noch kaum finden konnte, sondern das nachtschwarze Sediment des Reviers, sein kostbarer Sockel mit den streifenartig angeordneten Mazeralen, sein glänzender Vitrit, sein matter Durit, sein faseriger Fusit, sein feinstäubiges  Anthrazit, seine silber- bis staubgraue Gas-, Flamm-, Gasflamm-, Mager-, Fett- und Eßkohle, die umgeben waren von den versteinerten Abbildern urzeitlicher Wesen. All das fanden die kunstsinnigen Vorfahren meines Vaters an den subterranen Arbeitsplätzen der Brennstoffförderindustrie ...“

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Kurz nach dem Ausflug ins Museum Folkwang gab man mir ein reich illustriertes Buch an die Hand. Es ging um den Ursprung unseres Sonnensystems, unseres Planeten, unserer Flora und Fauna. Diese Kosmologie verwirrte mich, denn sie schien sich völlig von der einzigen Schöpfungsgeschichte zu unterscheiden, die mir bis dahin bekannt war. Mir wurde erklärt, dass die biblische Genesis nicht wörtlich, sondern bildhaft zu verstehen sei, nämlich als eine Möglichkeit von vielen, über die Entstehung der Welt zu schreiben. Mit Blick auf die Kunst der Moderne im Museum Folkwang hatte ich ein Erweckungsmoment erfahren, mit Blick auf Urknalltheorie und Bibel ein weiteres, da ich auf diese Weise mit der Mehrdeutigkeit von Literatur vertraut gemacht wurde und mit der Unzulänglichkeit von Sprache, ohne sprachkritische Werke wie Hofmannsthals Chandos-Brief kennen zu können oder den Tractatus logico-philosophicus, der nach Wittgenstein nur von jenen verstanden werden kann, die die darin enthaltenen Gedanken selbst schon einmal gedacht haben.

Stil ist Ausdruck künstlerischer Welthaltung: Wie schaffe ich es – mit Elfriede Jelinek gesagt -, „die Sprache zum Sprechen zu bringen", wie schaffe ich es, mein Anliegen zu formulieren, wie schaffe ich es, das Material in Form zu bringen? Dabei geht es um die poetische Umsetzung einer Aussage, nicht um einen selbstgenügsamen Ästhetizimus oder um einen einheitlichen Personalstil. Picasso wird nachgesagt, in einer Schaffensperiode abends gegenständlich gemalt zu haben und morgens kubistisch. Sein berühmtes, 1907 fertiggestelltes Gemälde Les Demoiselles d’Avignon, das sich durch die geometrische Stilisierung natürlicher Formen und durch die Aufgabe einer einheitlichen Perspektive auszeichnet, ist aus kunsthistorischer Sicht das Initialwerk des Kubismus. Kunst, Dichtung, aber auch Physik wurden in jener Zeit grundlegend transformiert: Die Relativitätstheorie, zwischen 1905 und 1915 entwickelt, ist bekanntlich Basis der modernen Kosmologie und damit jener Urknall-Modelle, die mich als Kind nachhaltig irritiert haben. Der Schriftsteller James Joyce, dessen Ulysses von vergleichbar starker Wirkung auf meine Entwicklung war wie Schwitters Merzbau, hat sich mit Einsteins Theorien befasst, ebenso der Maler Paul Klee. „Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gesehen hätte“ schrieb er 1918, „Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht.“

Ein Beispiel für diese Neuausrichtung ist das dichterische Werk der Amerikanerin Gertrude Stein, Picassos Freundin und Mäzenin in Paris. Sie veröffentlichte 1914 den Lyrikband Tender Buttons, den die in Duisburg lebende Lyrikerin Barbara Köhler, Trägerin des Literaturpreises Ruhr 1999, 2004 ins Deutsche übertragen hat. Angeregt durch den Kubismus, gründet diese Dichtung auf dem Stilelement der seriellen Variation: Bekannt ist die im Werk der Dichterin mehrfach abgewandelte Zeile „Rose is a rose is a rose is a rose“ aus dem Gedicht Sacred Emily.

Weniger bekannt hingegen ist Steins einziger Kriminalroman, der sich wie ein Anti-Kriminalroman liest: Blood on the Dining-Room-Floor war Inspirationsquelle meines Buches Nichts ist, wie es ist. Kriminalrondo (2015), dessen digitale Multimediaversion im Herbst 2015 - ich schrieb damals regelmäßig für die F.A.Z. über Literatur und Digitalisierung - auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Deutschen eBook Award ausgezeichnet wurde. Renate Stendhal, ehemals Assistentin jener surrealistischen Künstlerin, von der meine Monografie Meret Oppenheim. Eine Portrait-Collage (2008) handelt, hat Steins Kriminalroman 1985 übersetzt. Der deutsche Titel keine keiner  verweist auf die experimentelle Anlage des Romans, der von hoher sprachlicher Musikalität ist, aber ohne Handlung, Leiche, Täter und Ermittlungsergebnis auskommt. Indem sie sich für das surrealistische Konzept des „zufälligen Zusammentreffens“ entschied, ohne das es kein Verbrechen geben kann, hat Stein das zentrale Element des Kriminalromans aufgewertet, das Geheimnis, um das es auch in Nichts ist, wie es ist geht:

„Sie sitzt auf der Parkbank, das Licht der Herbstsonne sickert durch die schütteren Kronen der Kastanien, ihr Kleid hat die Farbe eines welken Blattes. Sie sieht eine junge Mutter mit lohrotem Haar, sie sieht Wolkenschlieren auf blauem Himmel, eine weiße Geheimschrift auf himmelblauem Grund. Schwarzweißstämmige Birken werfen am frühen Nachmittag Schatten. Der Mann komplettiert das Bild der Mutter mit Kind. Der Vater oder der Bruder, ein Freund oder ein Nachbar, ein entfernter Verwandter. Sie liest. Modrig riecht die feuchte Erde. Ein Mordsgeruch. Ein Fall. Kein Indiz. Keine Leiche. Nur Vermutungen und Ahnungen. Hin und wieder stirbt jemand, aber wo?“

Die Fantasie, die laut Edgar Allan Poe bei der Ermittlung eines Verbrechens nötig ist, weil sie kriminalistische Konstruktionen und Rekonstruktionen ermöglicht, kann in die Irre führen. Die vergeblich kombinierenden Erzählstimmen der Prosatexte werden in Nichts ist, wie es ist kontakariert durch glossolalische Lyrik: Die Sprache des Irr-Sinns, aus dem Zentrum eines verwirrenden Alptraumlabyrinths sprechend, scheint ein nicht zu entschlüsselndes Geheimnis zu enthalten – wie Steins Kriminalroman:

„sirene schrilles sirren
sagt sirene sagt ich irre
sirene sagt ich ich ich
sirene stilles irren sagt
nicht ich“

Bedeutungsgebung und Sinnvermittlung werden außer Kraft  gesetzt, die Wörter sind Klangmaterial, die Texte Sprachkompositionen, beeinflusst durch surrealistischen Widersinn, dadaistische Montagetechniken und experimentelle Praktiken, wie man sie von der Wiener Gruppe kennt. Lautmalerei, der Einsatz assoziativer Reihungen, die ironische Brechung von Illusionen, das Verfügen von Montagen zu Collagen, die Vermengung von gesprochener Sprache und Prosa, der Einbezug von Märchen und Volksliedern, Opernlibretti und Popsongs sind Verfahren, mit denen ich auch in literarischen Hörfunkfeatures und Hörspielen gegen konventionelles Erzählen angehe. Somit kann von intermedialen Wechselwirkungen innerhalb meines Werkes gesprochen werden.

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Sprachkritik ist von Anbeginn Kulturkritik, Kulturkritik schon seit langem Medienkritik: Rollenklischées, populärkulturelle Phänomene und Trivialmythen, aber auch die literarische Fiktion und das Schreiben selbst stehen im Mittelpunkt meiner ironisch-kritischen Analyse – auch, wenn es um die Auseinandersetzung mit umsatzorientierter Unterhaltungsliteratur geht wie dem Kriminalroman oder dem populären Frauenroman, den ich in meinem Buch Kiss off. Bestseller in Echtzeit (2008) parodiere:

„beim nächsten zeichen ist es 21:59 uhr

Wer mich als Kind gesehen hätte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ich zur Romanheldin bestimmt sein könnte: Mein unscheinbares Äußeres, meine mangelnde Begabung auf jedem Gebiet, meine Gleichgültigkeit gegenüber dem, was Romanheldinnen im Allgemeinen beschäftigt – alles sprach gegen mich. Aber gerade deshalb hat mich die Schriftstellerin E.H. ausgewählt. Sie glaubt, dass meine Geschichte die eindeutig positive Antwort auf die wichtigste Frage liefert, die das Produkt-Management jedes erfolgreichen Verlags heute zwangsläufig stellt: Kann sie im Kino gezeigt werden?“

Direkt zu Beginn des Buches wird der Bezug zu Jane Austens Roman „Northanger Abbey“ offengelegt, dieser ironischen, nach dem Tod der Autorin erschienenen Replik auf das erfolgreichste Genre des 18. Jahrhunderts: Die mediale Infiltration, die Austens Protagonistin Christine Morland durch die Lektüre von Schauerromanen erfährt, erfolgt in Kiss Off durch den Konsum trivialer romantic comedies im Kino. Mein Buch ist außerdem Reklameträger und durchkreuzt die Fortsetzung des romantischen Liebesromans in unserer Zeit, da es für Seminare wirbt, in denen man lernen kann, erotische Bestseller zu schreiben.

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Hierarisch-ökonomische Strukturen zu hinterfragen, die damit verbundenen Realitätsentwürfe, Wünsche und Ängste offenzulegen, ist in meiner Literatur von zentraler Bedeutung. Es geht mir darum, auszusprechen, was nicht gesagt wird, nicht gesagt werden kann oder nicht gesagt werden darf - dabei kann es sich um ein sprachlich schwer übersetzbares Gefühl handeln, aber auch um eine geheimgehaltene Sozialmisere, wie ich sie in der Erzählung KIND TÖTEN (2009) dargestellt habe:

„Ein Leben, wie es sich das Kind besser nicht vorstellt, 1. Teil: Es ist Nacht, es ist Tag, die Mutter, der Vater, das Kind leben verkehrt auf einer lebensfernen Verkehrsinsel. Es ist Tag, das Leben rauscht an der Verkehrsinsel vorbei ohne anzuhalten, es ist Tag, man hört das Rauschen der Autos, Lastkraftwagen, Busse, Motorräder, pazifisches Rauschen, denkt das Kind, ich war noch nie am Pazifik, aber ich kann mir das Leben am Pazifik sehr gut vorstellen, friedlich ist er, der Pazifik, pax, pacis, peace, Latein und Englisch sehr gut, alle Schulfächer sehr gut, setzen. Es ist Tag, pazifisches Rauschen, schreibt das Kind, pazifisches Rauschen steht nun in seinem Schulheft und pax, pacis, peace. Es ist Nacht, die Mutter schreibt nicht, sie schreit, die Mutter schreit den Vater an, der Vater schreibt auch nicht, der Vater schreit das Kind an, das Kind schreit 333 bei Issos Keilerei, weil es aufgewacht ist, das Kind schreit blood will have blood Macbeth, es ist Nacht, das pazifische Rauschen ist nicht mehr zu hören.“

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Das Experiment ist neben der genauen Beobachtung die wichtigste Methode, etwas über die Welt zu erfahren. Daher sollte man annehmen, dass experimentelle Literatur dieselbe Beachtung erfährt wie der literarische Realismus. Es war und ist jedoch nicht einfach, gesellschaftskritische und zugleich formal innovative Literatur zu publizieren, die sich der Massentauglichkeit verweigert und somit in der Regel von überschaubarem kommerziellen Erfolg ist. Abzuwarten bleibt, ob es in Deutschland irgendwann die bisher vergeblich geforderte staatliche Förderung geben wird, die es den unabhängigen Verlagen in Österreich und in der Schweiz schon seit vielen Jahren ein wenig leichter macht, sich im avantgardistischen Bereich zu engagieren. Die Entscheidung der Jury des Literaturpreises Ruhr 2018, mir den Hauptpreis für mein Werk zuzusprechen, deute ich dankbar und hoffnungsfroh als ein gutes Zeichen auf diesem Weg.

 

Literaturangaben gemäß Textverlauf:

Elke Heinemann, Ein Augenblick im Leben des Entdeckers. Eine Erinnerung an Nicolas Born. Hörfunkfeature, DKultur 1998, Wiederholungen: WDR 1999, RBB 2000, DLF Kultur 2017

Elke Heinemann, Augenblicke im Leben des Entdeckers. Eine Erinnerung an den Schriftsteller Nicolas Born, der vor zwanzig Jahren gestorben ist. In: Frankfurter Rundschau, 11.12.1999, S. ZB 2

Nicolas Born, Die Fälschung. Roman, Reinbek 1979

Elke Heinemann, Der neue Oberflächencode. Gedanken zu Bildern und Wörtern. In: Frankfurter Rundschau, 20.11.1999, Magazin, S. ZB

Nicolas Born, Der zweite Tag. Roman, Köln 1965

Nicolas Born, Täterskizzen. Erzählungen, Reinbek 1982 (posthum)

Émile Zola, Germinal, Roman. Paris 1885, aus dem Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire

Elke Heinemann, Fehlversuche. Kein Kinderbuch, Bern 2018

Anton Thuswaldner, Intellektuelles Monster. Bei Elke Heinemann prallen die Gegensätze heiter aufeinander. In: Salzburger Nachrichten, 12.08.2006, S. 63

Elke Heinemann, Der Spielplan. Ein Liebesroman, Hamburg 2006, E-Book 2016

Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Beiträge zur Ikonographie und Formgeschichte der europäischen Kunst von 1520 bis 1650 und der Gegenwart, Hamburg 1957; erweiterte Neuausgabe als: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur. Reinbek 1987

Elke Heinemann, Babylonische Spiele. William Beckford und das Erwachen der modernen Imagination, München 2000, Open Access Bayerische Staatsbibliothek München 2014, vormals Diss. Freie Universität Berlin 1997

Kurt Schwitters, Sonate in Urlauten (1923-1932), in: Das literarische Werk. Band 1: Manifeste und kritische Prosa, Köln 1973, S. 214 ff.

Andrei Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen übersetzt von Hans-Joachim Schlegel. Berlin/Frankfurt am Main 1985, bearbeitete Neuausgabe: Berlin 2009

Oskar Schlemmer, Brief an Otto Meyer-Amden vom 3. Januar 1926. In: Andreas Hüneke (Hrsg.): Oskar Schlemmer. Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften 1912–1943, Leipzig 1990

Elke Heinemann, Der Brief an den Vater. In: Zeno. Jahrbuch für Literatur und Kritik, 2010/2011

Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief. In: Der Tag. Berlin, Nr. 489, 18. Oktober 1902 (Teil 1); Nr. 491, 19. Oktober 1902 (Teil 2) (Erstdruck)

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. In: International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method, London 1922 (englisch/deutsch), nachmals Diss. Trinity College Cambridge 1929

Elfriede Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein. In: TheaterZeitSchrift 7/1984, S. 14-16

Paul Klee, Schöpferische Konfession. In: Paul Klee. Das bildnerische Denken, hg. von Jürg Spiller, Basel 1990

Gertrude Stein, Geography and Plays, Boston 1922

Gertrude Stein, Tender Buttons. Zarte knöpft, übertragen von Barbara Köhler, Frankfurt am Main 2004 (amerikanisch/deutsch) Erstveröffentlichung des Originals New York 1914

Elke Heinemann, Nichts ist, wie es ist. Kriminalrondo, Berlin 2015 (geb. u. E-Book), brosch. 2016

Elke Heinemann, E-Lektüren. Kolumnen aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Berlin 2016 (Original-E-Book), geb. u. brosch. 2017

Elke Heinemann, Meret Oppenheim. Eine Portrait-Collage, Hamburg 2008, E-Book 2015; vgl. Elke Heinemann, Warten auf ein Echo. Hommage an Meret Oppenheim, WDR 2005, Wiederholungen: ORF 2006, SWR 2006, DKultur 2006, WDR 2006, NDR 2007, Radio Bremen 2007, WDR 2010, BR 2013, DRS 2013, RBB 2016

Gertrude Stein, Blood on the Dining-Room-Floor, Paris 1933. Übertragen von Renate Stendhal, keine keiner, Hamburg 1985

Elke Heinemann, Kiss Off. Bestseller in Echtzeit, Hamburg 2008, E-Book 2016

Jane Austen, Northanger Abbey, London 1817 (posthum)

Elke Heinemann, KIND TÖTEN. In: Zeno. Jahrbuch für Literatur und Kritik, 2009/2010

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