aufgelesen [37] »Texte zu Flucht & Vertreibung«
U-Bahn-Station Bockenheimer Warte (Frankfurt), 2018
Ich hatte so ein schönes Cabarett
»Vorweg: wir leben samt und sonders und sind nicht einmal im Gefängnis, das will viel heißen. Meine greisen Eltern sitzen flüchtig, unglücklich, ratlos in Lugano, Klaus ist in Paris, - ich erwarte ihn morgen hier; hier ist auch die Theres, deren armer und unschuldiger Bruder – jener Max, den Ricki und ich gewaltsam kennen zu lernen solange geplant haben – seit Wochen im Konzentrationslager sitzt, weil er Direktor eines Warenhauses ist; viele viele Freunde brummen, nur Herr Toller, Gott sei Dank, trägt in Zürich sein dummes, idealistisches Lockenhaut zur Schau, dem kein Haar gekrümmt worden ist. Zürich! Lachen würdest Du. Im Café Odeon verkauft ein Mann Stadtpläne. Ein Drittel (höchstens) sind dort Schweizer, ein Drittel Flüchtlinge, ein Drittel Spitzel für das Reich. (…)
Ich hatte so ein schönes Cabaret in München, zum Beispiel, zwei Monate lang, alles selbst gemacht, Texte von mir, Musik von Magnus Henning, dargestellt von lauter Freunden. Trotzdem war es gut und ging wie heiße Semmeln. Wir haben direkt Geld verdient und Ruhm geerntet und waren dreist und frech, bis Herr Epp kam, (der General, na, soviel wirst Du doch wissen) und die bayerischen Irr-Wahlen. Dann mussten wir davonhuschen, wollten in Zürich neueröffnen, alles stand prächtig, da kam das Geiselsystem in Deutschland und die Methode, Angehörige von Leuten, die sich draußen missliebig machten, halbtotzuschlagen und ins Lager zu verbringen. Das wollten wir Max und Golo und Medi, die damals noch in der Poschinger war, nicht antun. Hier ist stilles Landleben. Ich schreibe ein neues Kinderbuch. Wer wird es illustrieren?
Deine Münchner Leute berichten Dir gewiss manches, – sind sie draußen? Es ist schlechthin märchenhaft und mir scheint, es gehört zu Dingen, die, wie etwa die deutsche Hungersnot während Krieg und Inflation, niemand ganz begreifen kann, der nicht dabei gewesen ist. Die Einzelheiten, das Kleine, das Große, das ungeheuerliche Ganze! – (Wenn das nicht Greuelpropaganda ist!) Bring den Brief nicht nach Deutschland mit und zeig ihn nicht dem deutschen Konsul in Elberton – ich würde, wie die Rotters, daran zugrunde gehn.
Viele Grüße und manch eine Zärtlichkeit. (…) Die Deine: Erika.«
Erika Mann am 18.4.1933 an ihre Freundin Eva Hermann, kurz nachdem Erika und Klaus Mann samt ihres Kabaretts »Die Pfeffermühle« nach dem Reichstagsbrand Deutschland verlassen mussten. Eindrucksvolle Porträts sowie zugehörige Fluchtgeschichten vieler Künstler aus dem Dritten Reich liefert nach wie vor ihr Band »Flucht ins Leben: Escape to Life«. Geboren wurde die Schriftstellerin und Kabarettistin Erika Mann am 9.11.1905 in München, sie starb am 27.8.1969 in Kilchberg bei Zürich.
(Brief zitiert nach Erika Mann: Briefe und Antworten 1922-1950. Dtv, 1988)
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