Dichtertotenbriefe

Briefe an C wie Catull

Tobias Roth schreibt an Gaius Valerius Catullus

Lieber Gaius,

schon so viele Stunden habe ich, wie du weißt, damit zugebracht, aus den verschiedensten Winkeln und Entfernungen auf die Spitze der Halbinsel von Sirmione zu starren. Und schon so oft habe ich dem Gutsverwalter deiner Familie, Quintus Capsarius Pesco, geschrieben, ob das Anwesen nun zum Verkauf steht, und wenn ja, zu welchen Konditionen. Ich habe noch immer keine Antwort erhalten. Jedes Mal nach dem Gang zur Post saß ich, wie auch jetzt, tagelang nervös irgendwo am Südufer des Gardasees, trank einen Campari nach dem anderen, rauchte eine Zigarette nach der anderen, und stürzte in eine Verwirrung.

Denn wie sich an der Aussicht, am Rücken des Monte Baldo vorbei, den See hinauf, in die Alpen hinein, Tagträume entzündeten, schneidend fast wie manche von Ipsitilla, und wie sich beim Blick über den Hain rings um dein Haus Einbildungen einer möglichen Gegenwart entfalteten (der Blick über den Baldo, den unser Pietro ganz richtig als einen ehrbaren Großvater beschrieben hat, grandaevumque senem multo veneratur honore), die Vorstellung einer Gegenwart, einer Terrasse auf der Steilklippe über dem See, wo sich die schwarzäugigen Musen die Haare und die schimmernden Glieder waschen (das hat unser Gioviano, dieses Monstrum von Talent, wundervoll beschrieben, du erinnerst dich an seine Baiae, Aldus hat dir vor fünfhundert Jahren ein Belegexemplar geschickt), silbernes Flirren der Ölbäume und Platanen, Wasser türkis und lind, der Nacken meiner Geliebten, ihre Knöchel, ihr Becken – und ihr Mund, mit dem sie mich küsst und mir gleichzeitig, kurz gesagt!, auch schon in den Ohren liegt wegen des Grundstücks. Eine Villa will sie und säuselt sed catulliana und lächelt unbesiegbar und ich, ich sitze und warte auf Nachricht von Capsarius Pesco und zünde mir noch eine Zigarette an und fühle mich plötzlich, neben diesem Mund und mitten unter Menschenmassen, noch einsamer in meiner präzisen Sehnsucht nach deinem Grundstück.

Ich hoffe, ich langweile dich nicht; ich hoffe, du verstehst, dass ich mich nun auch in dieser geschäftlichen Angelegenheit direkt an dich wenden muss. Auch mir wäre es lieber gewesen, dir einmal wieder ohne so einen handfesten Grund zu schreiben (ich danke dir übrigens sehr für deine Nachricht, dass Angelo mit seiner Deutung des passer natürlich Recht gehabt hat, und kann es schon verstehen, dass dir gleichzeitig Marcus, wie ihn auch meine Geliebte im schönen Mund führt, reichlich unverschämt und einseitig erscheint), aber es ist eben nicht von der Hand zu weisen, dass du das schönste Grundstück Europas hast. Und meine Geduld ist zerrüttet.

Nun ist es aber leider so, dass heute die lebenden Dichter noch schlechter bezahlt werden als die armen Teufel, die die Leichenteile aus der Arena fegen, schlechter sogar als einfache Soldaten. Du wirst es mir nicht glauben, aber so ist es. Auch das muss ich dir sagen, nachdem ich dir neulich auf deine Fragen hin schon erzählt habe, was Zigaretten und Campari sind, und was noch mehr. Das ist die erste erschreckende Nachricht von zweien; und du verstehst, dass ich diese meine Armut Capsarius Pesco gegenüber nie aufs Papier bringen könnte. Was sollte auch der Erbsenzähler denken, was wäre lächerlicher als die Wahrheit, dass wir heute in einem fort schreiben und schreiben und schreiben. Die Nerven, wie du nur ein Buch zu hinterlassen, hat schon lang keiner mehr. Selbst Musiker und Tänzer sind besser dran und haben einen besseren Ruf als wir, Leute, die mit ihren Händen (!) arbeiten, das musst du dir mal vorstellen. Und dann geht es dahin. Denn wie du aus dieser meiner läppischen Klage leicht sehen kannst, sind unsere Geister durch die Umstände dermaßen heruntergekommen, durch Jahrhunderte des Selbstmitleids und der koketten Skepsis derart niederträchtig geworden, dass man bezweifeln könnte, ob wir überhaupt mehr verdient haben.

Aber keine Sorge, es gibt nach wie vor viele Geldverleiher, und zu einem solchen würde ich auch gehen (das kann man heute übrigens am hellen Tag und in aller Öffentlichkeit, ohne sich zu schämen), um dir einen guten Preis für dein Grundstück zu bieten. Allerdings, und das ist die zweite schlechte Nachricht, die ich dir bisher verschwiegen habe, kann ich dir tatsächlich nur für das Grundstück etwas bieten. Die Villa selbst ist in den letzten zweitausend Jahren so schlecht gepflegt worden, dass nur noch die Mauern des Erdgeschosses stehen. Ohne die parischen Wandverkleidungen, versteht sich. Es ist – bitte nimm mir das harte Wort nicht übel – eine Ruine, und du würdest, wenn du es sehen könntest, niemals zulassen, dass ein Freund von dir dort wohnt. Zudem hat auch dein Grund erheblich an Wert verloren. Das möchte ich dir ganz sachlich und ohne Eigennutz mitteilen. Das Problem ist die Masse an Menschen, die sich an den Ufern des Sees drängen. Am Ansatz deiner Halbinsel hat sich ein Dorf gebildet. In seinem Zentrum liegt zwar eine ganz hübsche Befestigungsanlage, aber sie ist zur bloßen Fassade eines kläglichen Theaters geworden. Die Reisenden haben letztlich ihr Gesicht stark verändert. Fuhren sie zuvor noch neugierig durch die Gegend, um etwas zu sehen, lassen sie sich jetzt antransportieren und schnell wieder abtransportieren, um etwas gesehen zu haben. Du wirst verstehen, welche Katastrophe in dieser leichten Verschiebung liegt. Sie drängen sich durch enge Gassen und zu beiden Seiten wird ihnen billiger Tand nachgeschmissen. Wo der wiederum herkommt – das will ich dir gar nicht erst erzählen, auch in diesem Brief nicht. Einerseits ist es zu traurig. Andererseits hat sich so viel auch nicht verändert, seit du Sirmione verlassen hast, es ist nur unbeschreiblich mehr geworden. Es geht nur um Geld; es herrscht Eile und Bedenkenlosigkeit; das größte Chaos der Welt vollzieht sich in Rom und geht von Rom aus. Das wird dich wenig erstaunen. Aber was sich zwischen dem Ansatz der Halbinsel und deinem Grundstück abspielt, kannst selbst du dir nicht vorstellen. Es wimmelt von Barbaren. Besonders Germanen und Britannier, natürlich auch Gallier, Lugdunenser, Dakier, Thrakier und Sarmatier, Skythen, Agathyrsier, Massageten, Numidier, Baeticer, Garamanter, Parther, Taxilier, Nasamoer, inzwischen auch Augyläer und Adyrmachidäer, ja sogar Cynokephalen, Panotier, Skiopoden und Blemmier – und dazu kommen noch mehrere Völker, für die ihr noch gar keinen Namen hattet. Dein Grundstück musste man sogar einzäunen, um die Mehrheit der Tölpel draußen zu halten. Rings um diesen Zaun aber stehen bestimmt fünfzig neue, hässliche Häuser, jeder freie Fleck wird bebaut.

Der Beton, mit dem ihr bereits manche Gebäude ausgeführt habt, ist heute der Hauptbestandteil unserer Städte; so arm sind die einen, so geizig die anderen. Einerseits sind inzwischen sogar unverschämte Stimmen laut geworden, die bezweifeln, dass das Grundstück überhaupt deiner Familie gehört hat, sie wollen euch offenbar enteignen, ohne sich die kleine Mühe zu machen, bei dir nachzufragen; andererseits wird der Name deiner Familie überall auf Schilder geschrieben, um die Menge anzulocken: ihr seid also durchaus noch sehr berühmt, aber ich bezweifle, dass dir die Art und Weise gefallen würde. Jedenfalls, ohne einen Zaun also kann man nicht mehr alleine und bei sich sein, selbst in Sirmione. Ein Glück, dass die Steilklippe verhindert, dass dein Grundstück von allen Seiten zugebaut wird; aber die Klippe war ja schon immer die Schönheit dieses Ortes. Ich kann es nur wiederholen, dass ich dich nicht mit schlechten Neuigkeiten quälen will, um den Preis zu drücken. Es soll gerecht zwischen uns zugehen.

Sofern es dir aber lieber ist, könnte das Grundstück auch im Besitz deiner Familie verbleiben, wenn ich es nur nutzen dürfte. Damit wäre ich zufrieden, das käme auch meiner Vermögenslage als Dichter entgegen. Allerdings bräuchte ich dann eine schriftliche Bestätigung, die mir die alleinigen Nutzungsrechte für die nächsten fünfzig Jahre einräumt (das dürfte genügen, denn wir werden heute nicht mehr so alt). Das wäre eine gute und einfache Lösung, Pesco soll einen entsprechenden Schriftsatz aufsetzen, das wird er noch schaffen, unsere Gesetzbücher haben sich ausgehend von euren kaum weiterentwickelt (und überhaupt: Pesco soll, auch wenn ich jetzt dir geschrieben habe, einmal auf meine Briefe antworten, wenn er schon tot ist, wird er doch wenigstens das noch hinbekommen). Schicke das aber bitte an meine Dienstadresse, damit meine Geliebte nicht dahinterkommt und den Dichter verlässt, um einem der zahllosen geschwätzigen Schüler des Heliodor nachzulaufen, die nach wie vor gut bezahlt werden. – Da ist es wieder, Gift und Galle, es wächst aus dem Boden, durchzieht mich mit reichen Flözen Schwachsinnigkeit. Aber ich will ehrlich mit dir sein: Ich bin froh, wenn das Wasser von Sirmione türkis leuchtet, die wilden Rosen und der Mohn dort blühen und mit großer Bewegung ein Schwarm Ringeltauben aus dem Oleander steigt.

Ich soll dir, wie stets, Grüße von Gioviano, Jacopo und Pietro bestellen und zusätzlich auch von Ricardo, Sohn des Domeneck. Er sagte mir neulich, dass er noch nie in Sirmione gewesen ist, was mich in helle Aufregung versetzt hat. Aber soll ich ihn denn hierher bringen, durch die Menschenmassen hindurch, seit die Halbinsel einen Kropf aus Barbaren hat, zu der erstickten Ruine auf deinem Grundstück? Ich bin zumindest von Kindheit an diesen Ort gewöhnt, gleichsam abgehärtet gegen das Hässliche, empfänglicher und dankbarer täglich für das Schöne. Aber was soll das? Ich bin mir sicher, Ricardo würde den Ort verstehen. Ja, es ist noch der Ort, von dem du sagtest

                        Paene insularum, Sirmio, insularumque
                        ocelle,

und es ist immer noch einer der Orte, an dem du sagen konntest

da mi basia mille, deinde centum,
dein mille altera, dein secunda centum,
deinde usque altera mille, deinde centum

ein Ort, mit dem im Kopf Gioviano dann sagen konnte

                       Sexcentas, age, basiationes

oder

                        centum basiola et Catulliana,

der Ort im Kopf, an dem unser Jacopo nicht mehr zählen wollte, denn

                        basia: pauca quidem si numerentur erunt,

und Pietro schließlich zu zählen aufhörte,

                                               pro millibus unum
                        basiolum da, quo se insinuent animae
,

die Vorstellung und der Lebensgenuss, von dem Ricardo erst letzten Frühling wieder schrieb

                        da mi basia mille, deinde centum,

der Ort, an dem die Wiederholung Lust ist im Körper, Lust ist im Geist, und der gewöhnliche Gang der Zeit deshalb keine Bedeutung mehr hat. Vielleicht ist es aber auch alles falsch und man muss schon so drauf sein wie ich, um das alles in Sirmione zu suchen, ausgerechnet jetzt. Wie dem auch sei, ich bleibe dabei: Bitte überleg’s dir mit dem Grundstück.

Beste Grüße und auf bald,

stets dein

Tobi

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