In Augenschein

zu Gast: Tristan Marquardt

Gespräche über anonymisierte Texte (Ausgabe # 003)

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe In Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Tristan Marquardt, 1987 in Göttingen geboren, zählt zu den Gründungsmitgliedern Berliner Lyrikzirkels G13 und ist seit 2009 mit dessen Geschicken verbunden – dass das eine fruchtbare Angelegenheit ist, lässt sich etwa in der Anthologie „40 % paradies“, 2012 bei luxbooks erschienen, nachlesen. 2011 war er Finalist beim 19. open mike, 2012 beim 20. open mike. In München, wo er inzwischen ansässig ist, agiert er hingegen als Gastgeber und veranstaltet die Lesereihe meine drei lyrischen ichs. Dieser Tage erscheint sein erster Gedichtband das amortisiert sich nicht bei kookbooks.

Zur Beziehung von Stil und Inhalt liegen mir in Ihrem Falle zwei Fragen zugleich auf der Zunge, darum möchte ich sie auch zugleich stellen: Wie gestalten sich Gewichtung und Einschätzung von Stil und Inhalt in Ihrem eigenen Schreiben und wie in den Diskussionen des Lyrikzirkels G13? Überwiegen Wechselwirkungen oder Unterschiede in diesen beiden Konfrontationen mit lyrischen Texten?

Eigentlich lassen sich beide Fragen gemeinsam beantworten. Ich beginne einmal mit unserer Verfahrensweise bei G13. Wir treffen uns in offener Kombination. Die neuen Texte werden zunächst von der Autorin oder vom Autor vorgetragen, dann auf Papier verteilt, und dann erneut von einer anderen Person vorgelesen. Dann folgt eine Diskussion, bei der der oder die Verfasser/in nicht mitdiskutieren dar. Sie soll einerseits natürlich so offen wie möglich sein, braucht aber andererseits Kriterien, um sich zu bewegen. Das Problem ist es, subjektive Kriterien und Geschmacksfragen von objektivierbaren Kriterien zu trennen – letztere bauen auf Konsequenz auf. Als ein gangbarer Weg hat sich da relativ bald herausgestellt, die Korrespondenz zwischen der Sprache, die benutzt wird, und dem Inhalt, der bearbeitet wird, zu besprechen, eine Korrespondenz zwischen der Form und dem Gegenstand. Im Hinblick auf diese Korrespondenzen bin ich durchaus ein Fanatiker. Was sich also schließlich als wichtige Fragestellung herauskristallisiert hat, ist: Welchen Anspruch stellt der Text an sich selbst? Wo ordnet er sich ein, was sind Sprechweisen und Formen, die anzitiert werden, und wird er denen gerecht? Kann man da immanent Widersprüche feststellen, und wenn ja, sind sie produktiv oder nicht? Das ist in der Lyrik für mich eines der größten Probleme: Ich lese oder höre zum Beispiel immer wieder Texte von neuen Autoren, die „lyrisieren“. Da wird ein bestimmter hoher Ton angepeilt, ein für besonders lyrisch befundenes Vokabular fließt ein: der natürlich eingekaufte Pathoseinschlag. Exemplarisch sind hier Texte, die aktuell und persönlich sein wollen, aber eine Sprache bedienen, die unpersönlicher und angestaubter nicht sein könnte, weil sie ein großes Zitat darstellt. Das ist für mich auch vor allem deshalb ein so wichtiges Thema, weil ich selbst lange genau diesem Widerspruch verfallen war, bevor wir G13 gegründet haben. Es hat die Begegnungen mit anderen Lyrikern, ein deutlicheres Gespräch mit härterer Kritik gebraucht, bis ich bemerkt habe, dass der Stil, in dem ich schrieb, ganz klare Ursachen hat. Ich hab es am Anfang so gemacht, wie es wohl keine seltene Sache ist: Ich schrieb in Momenten, die ich als inspirativ begriff, sehr schnell und ohne zu überarbeiten. Das klang dann, wie man mir später sagte, nach einem merkwürdigen Mischwarenladen aus Hölderlin, Rilke und George. Da fehlte die Konsequenz, die Verarbeitung, der Inhalt zu diesen Wörtern: Es war eben nur der Stil und entsprechend oberflächlich.

Waren Hölderlin, Rilke und George auch einschlägige Leseerfahrungen und verantwortlich dafür, was überhaupt Lyrik in Ihrem Kopf war?

Unbedingt, diese drei hatte ich intus. Durch die Kritik und das Konzept der Konsequenz kam überhaupt erst diese ganze Gedankenwelt auf – was ist eigentlich der Zusammenhang zwischen der Sprache, die ich wähle, und dem, was ich schreiben möchte? Wird das, was ich sagen möchte und schreiben kann, nicht vielleicht eingeengt durch diese so andere Sprache? Und dann verschob sich mein Lyrikbegriff. Das kam im Gespräch mit Leuten, die viel schreiben, und der Lektüre von Texten, die außerhalb der gerade erwähnten Trinität lagen.

Würden Sie auch sagen, dass das Einzugsgebiet dieser seltsamen (meist schon im Gymnasium fertig gebauten) Übereinkunft, was Lyrik sei, momentan kaum mehr als das 19. Jahrhundert ist?

Prinzipiell ja, mit Rilke als spätestem Ausläufer. Aber der Horizont weitet sich natürlich automatisch, je länger man das macht. Ich glaube nicht, dass es gute Literatinnen und Literaten gibt, die wenig lesen, das halte ich für abwegig. Allein schon aus dem Interesse an der Sache heraus. Wenn mich etwas so beschäftigt, dass ich einen Text darüber schreibe, dann interessiert es mich doch auch, wie andere Menschen das machen.

Gerade das ist ja auch stilistisch ungeheuer aufschlussreich, was alles in welcher Vielfalt sagbar ist.

Da darf man sich auch einfach selbst nicht zu viel zutrauen. Es gibt ganz viele Dinge, die man von selbst nicht weiß und die erst mit dem Lesen kommen. Aber noch einmal zur Konsequenz. Meiner Meinung nach geht es darum, ob das Verhältnis von Form und Inhalt produktiv ist. Ich habe einen ganz performativen Sinnbegriff, Sinn stellt sich ein zwischen Text und Leser, in Bezug auf Textwelt und Leserwelt. Es ist Humbug, zu behaupten, es gäbe eine Autonomie der Textwelt, in der sie ihren eigenen Sinn konservieren könnte. So spielen sich dann auch die Strukturangebote und Irritationsmomente von Gedichten ab und werden kritisierbar. Wenn, beispielweise, ein Text einen hochgradig jugendsprachlich inspirierten Duktus fährt, aber der Inhalt den Erwartungen und der Welt dieses Stils nicht gerecht wird, dann öffnet sich eine Schere. Wenn das produktiv ist, wunderbar. Ob es intendiert ist oder nicht, ist vollkommen egal: wenn sie produktiv ist, ist sie produktiv. Aber manchmal muss man eben sagen – naja.

Dann gehen wir doch nach diesen schönen und komplizierten Gedankengängen zu einigermaßen heiteren Textbeispielen.

 

I.

„O ich sah ihre schimmernde Vulva
In allen Farben des Herbstlaubs,
Weinrot und nußbraun und rosa.
Tief bis ins innerste Fruchtfleisch.
Pfirsiche, Thunfisch und Anemonen,
Steinpilze, Austern und Feigen.
All diese Herrlichkeiten, bei Gott,
Kamen mir in den Sinn.
                                       Ficken,
Immer nur ficken, dachte ich, fickend.“

Der Inhalt könnte reduzierter nicht sein. In der großen Tautologie des Schlusses ist das Wort „ficken“ eigentlich sehr treffend – weil es unsinnlicher kaum sein könnte. Wenn ein Geschlechtsakt beschrieben wird, bei dem man einerseits noch reflektieren kann und den man andererseits deutlich sehen will, dann tut sich da eine Distanz zum Geschehen auf, in der die Selbstthematisierung dieser Sprache stattfindet. Das merkt man bereits daran, dass das ganze Gedicht in Anführungszeichen gesetzt ist: Es ist als Zitat ausgezeichnet. Dazu kommen klare Pathosmarkierungen wie „O“ und „bei Gott“. Gerade das „bei Gott“ aber, hinter dem sich das homerische „bei Zeus“ verbirgt, scheint in der Opulenz des dichterischen Duktus unangebracht, spielt in ein episches Register hinein. Formal ist es schon gut gemacht, wie das „Ficken“ bei Einhaltung der Zeilenlänge ganz alleine steht: Das ist schon sehr konsequent. Diese Herausstellung scheint mir aber auch ein Hinweis darauf, dass der Text sich nicht ganz traut, sich ohne den Effekt nicht genügt. Wozu diese vielen unsichtbaren Ausrufezeichen?

Aus diesem Widerspruch von inszeniertem Hochdruck und ausgestellter Distanz würden Sie also ableiten, dass es sich um einen schüchternen Text handelt?

Ein schüchterner Text, ja, ein sehr schüchterner Text. Es soll offenbar ein Gegensatz hergestellt werden zwischen der Sprache des ersten Abschnittes, schillernd, voller Assonanzen und Halbreime, und auf der anderen Seite dem dreimaligen Kontrastwort „Ficken“. Aber dieser Kontrast kommt nicht zur Wirkung, weil die ersten Zeilen in ihrer Ironie ja implizit schon beinhalten, was die letzten dann explizit machen. Spannender ist die Schlussbewegung als solche. Sie kehrt die von Anfang an aufgebaute Distanz des Begehrens in radikale Präsenz um – das ist das gebrochene, spannende Moment. Dass man aber dafür dann die steifste aller grammatikalischen Formen, das Partizip, nehmen muss – naja (lacht). Die Uneigentlichkeit des Sprechens lässt sich hier auch in kleinen Details beobachten. Der Fruchtfleisch-Vergleich ist auf der Ebene der Sichtbarkeit schon auf die Pfirsiche zugeschrieben – aber das Innerste der Frucht ist ja gerade das, was sich der Sichtbarkeit entzieht. Da wird also bereits das Imaginäre aufgerufen und damit auch die Uneigentlichkeit dieses ganzen Sehens.

Die Imagination als optische Kulinarik?

Ja, um sie zu verspeisen, „all diese Herrlichkeiten“. Das finde ich schön, dass hier „Herrlichkeiten“ gesetzt sind, das ist – zumindest gendertheoretisch – das beste Wort für diese Stelle. Eine so unglaublich männliche Perspektive kann nur als herrlich bezeichnet werden.

II.

in dir: abstoßende geschäftigkeit, pulsierendes
leben. präventiv hast du deine gedanken kastriert:
vor lauter metaphorik kommst du
nicht zum stich, im close up findest du
das schwanzende nicht mehr:

pünktlich zum empfang stehen die statisten,
überlebensgroß und apfelfrisch. deine müdigkeit
findet hier nicht statt. es ist das jahr
der topevents: high class adult entertainment:
die stadt schluckt alles und du hältst drauf.

offen liegt der tag vor dir,
doch du findest nicht hinein: überall
hochglanz und imprägniertes leder, trotzdem
fickt niemand.

Mir fällt jetzt Verschiedenes zugleich ein. Positiv könnte man sagen, der Text sei sehr viel polyvalenter in dem, was das Wort „Ficken“ abdeckt, als der erste. Die Frage ist hier ja vielmehr, wer mit wem oder was mit wem. Diese merkwürdige Spannung zwischen „pulsierendem leben“ und „abstoßender geschäftigkeit“ (ein merkwürdiger Versbruch) lässt es offen, was hier eigentlich womit zur Vereinigung kommen soll – und das macht die Sache spannender. Was mich aber irritiert ist der Begriff „Metaphorik“, weil der Text dadurch schlagartig eine Selbstbezüglichkeit bekommt. Man kann nicht „Metaphorik“ sagen und behaupten, sie wäre ein Problem des lyrischen Ich allein: Der Text thematisiert sich durch diese Entscheidung sofort selbst. Dann allerdings ergibt sich ein Widerspruch, weil der Text stilistisch kaum metaphorisch arbeitet. Wo ist die „lauter metaphorik“, die das Problem macht, davor und danach? Diese Ebene, die Auseinandersetzung mit Metaphorik, wird, auf den ersten Blick zumindest, nicht durchgezogen. Stilistisch stehen die literaturwissenschaftliche Vokabel und die Gegenwartmarker der ständig bemühten Anglizismen nebeneinander, PR-Schreibe spielt hinein, Urbanität, eine business-class-Welt. Mir scheint hier unglaublich viel Material zusammengetragen, das auf ganz unterschiedliche Gebiete verweist. Ob die Schlusszeile nun emotional oder physisch zu begreifen ist, bleibt unklar, ebenso wie das „du“ – dieses im Moment so viel bemühte „Du“, das zugleich ein Ich meinen kann, ein „lyrisches Du“. Alles das wird nur zusammengehalten, indem die verschiedenen Bereiche sich auf Nichtstattfindendes beziehen. Die unio bleibt aus. Dem entspricht die variierende Handhabe der Verslänge, die formale Unruhe. Dadurch regt mich der Text an, ihn noch mal zu lesen, um herauszufinden, ob es wirklich das ist, was all das Divergente zusammenhält.

Wo würden Sie bei dieser Suche einhaken?

Das ist das Problem, dass mir genau das nicht klar wird. Der Text ist, könnte man vielleicht sagen, auf eine andere Art und Weise schüchtern, weil er sich nicht festlegen will. Eine diffuse Oppositionshaltung, die in dem Text zum Ausdruck kommt, ist vielleicht ein Nenner, mit dem man weitermachen kann. Es bleibt aus, alles wird verhindert, nicht einmal die Müdigkeit findet statt – aber was ist denn der Ausweg? Worin besteht es denn, zum Stich zu kommen, und möchte ich das überhaupt? Was bemüht wird, ist eine Hoffnung oder eine Sehnsucht nach Eigentlichkeit, wo keine Metaphorik, kein business mehr im Weg stehen. Aber was wäre als eigentlich zu denken in der Welt, die beschrieben wird? Noch eine Sache zum Stil und zum Versbruch. „in dir: abstoßende geschäftigkeit, pulsierendes“. Dass das Leben in die nächste Zeile genommen wird, soll offenbar den Puls freistellen. Das geht ein wenig in Richtung Elke Erb, jeder Vers soll für sich stehen können, die Aufmerksamkeit liegt auf dem einzelnen Vers, nicht so sehr auf dem Satzgefüge. Ich finde es aber oft problematisch, wenn die Bedeutungsschwangerschaft des Versbruches an manchen Stellen produktiv gemacht wird und an manchen nicht. Das ist auch hier so, es leuchtet manchmal ein, manchmal nicht. Aber auf jeden Fall möchte ich klarstellen, dass ich finde, dass das ein spannender Text ist. Er regt zur Arbeit an, mehr als das erste Gedicht. Aber diese Arbeit hat kein Ergebnis, das mich ruhen lässt.

III.

sorglos gehst du um ein
            gestirntes tier · bist du
                        operation · am offenen zeit-

strang ein strumpfband
            ein ausgedehntes ·verlangen
                        trägst du · namen die du
                                   gerissen · behutsam

ablegst vor mir
            wie jungtiere · seidene
                        strümpfe · ein kokon von deiner
                                   haut · um uns

gewickelt bis wir vollständig
            erblindet· passagiere der zeit

Dieser Text scheint mir sehr bewusst so viel an Form aufzufahren. Ich beobachte eine hochkomplexe Form, die gleichmäßigen Einrückungen in den Strophen – dadurch wird natürlich die Unregelmäßigkeit der Versanzahl pro Strophe sofort zur Frage. Ebenso das Verhältnis von recte und kursiv gesetzten Worten, was ja offenbar nicht mehr, wie im zweiten Text, zitiertes Material ausweist. Der Text kennt nur ein einziges Satzzeichen und das ist kein gebräuchliches mehr: das Kolon, ein griechisches Satzzeichen irgendwo zwischen Punkt und Doppelpunkt. Der Dichter, der dieses Satzzeichen bis zum Gehtnichtmehr gebraucht und es für die deutsche Literatur geprägt hat, ist Stefan George. Das alles führt dazu, dass mir dieser Text auf den ersten Blick recht arty erscheint. Er bemüht sehr viel, ist im Sinne der ausgespielten formalen Mittel ein hochlyrischer Text. Die Form arbeitet darauf hin, dass die einzelnen Passagen Raum bekommen: Und die klassische Frage lautet nun natürlich, ob eine solch arrivierte Form das Weiß um sich herum rechtfertigt. Einrückung und Kolon beanspruchen besonders viel Weiß und also auch besonders viel Bedeutsamkeit. Formal ist das ein sehr lauter Text. Um nun inhaltlich mit diesem Text fertigzuwerden, bräuchte ich mehr Zeit. Was ich beobachten kann, ist, dass in der sehr behutsamen Bewegung einer klassischen Ich-Du-Beziehung erst das Gegenüber erscheint, dann das Ich, und es schließlich im Wir mündet. Allerdings im Zeichen der Beobachtung, das Ich bleibt immobil. Es scheint ein komplexes Verhältnis in der Schwebe zu bestehen, dem die Form zuarbeiten soll. Aber mir ist nach dem ersten Blick noch vieles unklar.

Mir ist auch nach häufigem Lesen noch vieles unklar. Der Text geht nicht so offenherzig vor, wie die ersten beiden, scheint mir, der Zugang wird deutlich erschwert.

Dem Text gelingt es aber durchaus, eine Komplexität zu erzeugen, die man nicht schubladisieren kann. Die Wortfelder sind sehr klar definiert und werden eng miteinander vernetzt: Tiere, Zeit, Strümpfe und Gewebe. Die Wörter sind eindeutig nicht austauschbar und erscheinen nicht als „Zubehör von“. Trotzdem muss ich sagen, dass mich der Text auf eine gewisse Weise abschreckt. Er gibt mir das Gefühl, dass da viele Gewichte dranhängen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich soviel Last tragen möchte.

Das ist ja einer der großen Balanceakte der Lyrik: Wie wird einerseits formale und inhaltliche Komplexität suggeriert, aber andrerseits auch das Vertrauen geweckt, sich auf dieses Rätsel einzulassen?

Natürlich, und dann kann man auch gleich wieder skeptischer werden. Ich glaube beispielsweise inzwischen, dass hier das Kolon überhaupt nicht als Kolon benutzt wird, sondern bloß visuelle Funktion hat. Es soll nicht entscheiden, in welchem Verhältnis die Elemente links und rechts von ihm stehen. Wenn aber ein Leser zufälligerweise das Kolon aus anderen Zusammenhängen kennt, funktioniert das nicht. Der obere Punkt des Doppelpunkts. Man muss es ja nicht in der Tradition der Griechen und Georges verwenden, aber Umbesetzung ist immer eine schwere und riskante Arbeit.

IV.

in uns gab es Varianten, welche die schönsten Geliebten
bekamen, weil sie sie auszusprechen wagten.
und Varianten, die sich aus Langeweile nur noch jovial
durch die Straßen bewegten.
manche in uns hielten Rotierer in ihren Händen.
wie Märchenwesen.
einige lebten in bereinigten Staaten.
andere in uns wuchsen erst noch heran, als neunte
oder zehnte Kraft
in uns. jede ihrer Berührungen ein Obdach
im Sinne von Obdach.
sie liebten die, aus denen Raum heraustrat.
oder von der Syntax abhängige Alphabeten.
Bewohner der Zukunft. elfisch fremde
Borderline-Primaten.

Wenn ich auf der Linie der Korrespondenz bleibe, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, dann habe ich hier das Gefühl, dass der Text gegen Ende noch einmal zu sehr auf die Pauke hauen will. „oder von der Syntax abhängige Alphabeten.“ Ob der Zusatz, den diese Zeile dem Text gibt, zuträglich ist, wage ich zu bezweifeln. Weil auch hier die Selbstbezüglichkeit stark in den Vordergrund tritt und der Text, der in seiner Offenheit doch sehr klar und empathisch völlig nachvollziehbar bleibt, in meinen Augen mit der Ebene der Grammatik Schwierigkeiten bekommt. Gerade die Offenheit der Bezüge feiert am Beginn auch formal die Varianz, von der die Rede ist. Aber plötzlich wird durch die „Syntax“ ein Abstraktionsraum aufgemacht, der mir wie ein Balast erscheint. „weil sie sie auszusprechen wagten“ macht bereits die Ebene der Sagbarkeit in einer Art und Weise auf, die völlig eingebettet ist – aber das Wort „Syntax“ ist dann doch recht hart. Die Tautologie der von der Syntax abhängigen Alphabeten könnte auch einen bewusst gebauten Widerspruch provozieren. Das könnte ein Text von Ron Winkler sein. Die drei Schlusszeilen, in denen sich die völlig abgedrehten Bilder häufen, würden dazu passen und wären aufgefangen von anderen Texten und ihren ähnlichen Gedankenfiguren. In diesem einzelnen Text erscheint es mir aber etwas inkonsequent, diese Schlusshäufung fällt aus dem Ton des Gedichtes. Es wirkt wie eine Form von Ende-Ende. Dieses Phänomen findet man ja häufig in Gedichten: Das Gedicht muss noch einmal sagen, dass es jetzt zu Ende geht, obwohl es schon zu Ende ist. Das ist ein Problem, das ich durchaus auch habe. Was mir stilistisch sehr gefällt, ist, dass der Text eine gewisse Einfachheit hat, Parallelität im Bau der Varianten – was aber innerhalb der Varianten geschieht, ist reizvoll und hält dem die Waage. Der Text scheint eine Struktur für sich zu nutzen, um seine Lesbarkeit zu ermöglichen; ganz anders als etwa der dritte Text. Dieser Text übernimmt in diesem Sinne sehr viel Selbstverantwortung. „Obdach im Sinne von Obdach“, ich weiß nicht, wie oft ich diese Figur schon gelesen habe, ich habe sie auch schon selber geschrieben, das ist ein alter Witz – aber ich mag es sehr. (lacht) Geschmacksfrage. Hier geht es auf, finde ich, weil der Text sich aus Parallelisierungen und Varianten einen eigenen Boden baut, auf dem er sich sehr frei bewegen kann. Überhaupt, die ersten Verse sind verdammt fett, aber ich nehme sie dem Text ab. Einen Text, der das Aussprechen wagt, mit dem Wagnis der Aussprache zu eröffnen, das ist schon stark. Auch „Langeweile“ und „jovial“ zusammenzubringen ist spannend, weil die beiden Begriffe einerseits zusammenpassen, andrerseits aber nicht zusammenpassen, und zudem aus zwei ganz verschiedenen Begriffsfeldern kommen.

Beides sieht ja ähnlich aus, auch wenn die Wörter gegenpolig geladen sind.

Und dadurch wird eine Spannung hergestellt, die man mit anderen Wörtern nicht hätte herstellen können. Wenn man einfach sagt, dass die Leute hedonistisch sind, weil ihnen nichts besseres einfällt – ist es seinerseits langweilig. Aber so formuliert, wirkt es. Da hat der Stil das seine dazu beigetragen.

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