Kultursalon Madame Schoscha

Brief aus Barcelona [29]

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha
Barcelona

Illustration: Gastón Liberto Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr an wechselnden Orten in Berlin stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag.

 

Die Weite sollte einen Steinsaum haben, den eine unschuldige Kinderhand abmisst 1

Ich hatte diesen Brief schon geschrieben, lieber Altobelli, liebes Fräulein Ohm. An Sie beide wohlgemerkt, da ich nicht entscheiden konnte, wem ich zuerst antworten soll und da ich wusste, dass Sie sich vor Jahresende auf jeden Fall noch einmal begegnen werden. Aber nach dem Freitag, den 13.11., sah ich meine geschriebenen Seiten noch einmal durch und konnte mich nicht dazu durchringen, sie abzuschicken. Sie landeten stattdessen im Papierkorb.

Die Schriftstellerin Sibylle Berg schrieb nach Paris keine Kolumne - wie sonst - für das Spiegel Magazin, mit den Worten: „Wenn man sprachlos ist, einfach mal die Klappe halten.“ Es geht mir ebenso. So vieles was zu sagen wäre und dann wieder nichts, was zu sagen bleibt. Und wenn die Worte schon auf meiner Zunge liegen, wenn ich glaube, eine Meinung formulieren zu können, dreht sich wieder der Wind: Je mehr ich lese, desto komplizierter wird die Welt. Immer, wenn ich glaube, ich habe das Ende des roten Fadens gefunden, dem ich wieder folgen könnte, schlüsselt sich das Weltbild ein weiteres Mal auf, differenziert sich immer mehr. Und statt möglicher Antworten, kommen Fragen hinzu - vielmehr summieren sich nur weitere Fragezeichen in einer diffusen Wolke. Der Versuch, der Schuld oder vielmehr den Anfängen allen Übels zu dieser Thematik auf die Spur zu kommen, artet in eine geschichtliche Schnitzeljagd aus. Auf die Kategorien schwarz oder weiß, gut oder böse ist längst gepfiffen, war es schon immer. Und das Einfärben von Profilbildern, sagte ein Freund, bleibe so lange fragwürdig, solange es keine Farben für weltweite Solidarität gibt.

Es fällt mir also schwer, Ihnen in diesen Tagen zu schreiben. Aber ich hatte versprochen, Sie nicht noch einmal warten zu lassen. Und gleichzeitig erscheint es mir absurd, nicht über die Ereignisse zu sprechen oder sie aussparen zu wollen, weil schon alles gesagt scheint. Wir können uns in dieser Zeit vermutlich nicht genug und auf allen Ebenen der Kommunikation miteinander verbinden. Und letztlich wird es dennoch irrelevant sein, was ich Ihnen heute schreibe. Der oben schon erwähnte Freund formulierte kürzlich in einer ernsthaften Bar, er habe all das Gelaber satt. Niemandem nützten all die Meinungen, die durch die sozialen Netzwerke geisterten. Handeln sei das Einzige was bleibe. Jeder solle einfach nach rechts und links sehen und sich fragen, was er tun könne? Alles andere, all die aufgeblasenen Worte, zu denen sich heutzutage jeder verpflichtet fühle, spielen keine Rolle. „Endlose Reflexionen und wenig Leben“, fällt mir hierzu ein Satz aus Altobellis letztem Brief ein.

Das war noch vor Paris. Ich habe mich seitdem erkundigt: Es bedarf keiner Erklärung mehr, was in Deutschland alles für Flüchtlinge getan wird, überall kann jeder, mit Rücksicht auf die eigenen Kapazitäten, einen Beitrag leisten. Wobei ich hierzu nun oft höre: „Momentan habe ich wirklich keinen Spielraum… Klar, wenn einer von denen blutend bei mir vor der Haustür läge, würde ich natürlich…“. Ich denke, hier könnten wir uns alle vielleicht doch noch einmal selbst überprüfen. Aber ich habe mich gefragt, wo geht konkrete Hilfe in Barcelona? In einem Krisenland, das restriktive Asylpolitik betreibt und wo hohe Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel herrschen. Wo in ganz Katalonien noch kein einziges Flüchtlingsheim steht. Wo nach Schätzungen im vergangenen Jahr etwa 600 Flüchtlinge in diese Region gekommen sind und ungefähr 80 Prozent aller Asylgesuche in Spanien abgelehnt wurden. Einige Städte Spaniens haben sich nun an einen Tisch gesetzt, darunter Barcelona und vorneweg unsere neue Bürgermeisterin Ada Colau: Sie rief ein spanisches Städtenetzwerk ins Leben, das sich dem Flüchtlingsthema verstärkt annehmen und helfen will. Es gehe darum, auch hier eine Willkommenskultur zu schaffen, heißt es, aber auch eine bisher noch nicht vorhandene Infrastruktur zu schaffen. Das Land soll im Zuge der europäischen Verteilung nun auch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Ada Colau macht überall den Anfang: Sie besuchte Merkel, um sich zu informieren, wie in Deutschland Flüchtlingshilfe organisiert wird. Sachspenden werden nun auch in Barcelona immer häufiger gesammelt. Und von der Stadt wurde ein elektronischer Briefkasten für die Anwohner eingerichtet, die Hilfe anbieten wollen: Kleidung, Sprachunterricht, Unterkunft ect. Zunächst einmal müsse gesammelt werden, was in Barcelona möglich sei, so Colau. Es bewegt sich etwas. Ich habe den Briefkastenservice genutzt. Sie erinnern sich an mein Klavierzimmer, in dem ich morgens das Frühstück mit meinem Besuchskater teile. Ein Bett steht nun darin.

Es ist kein Monat her, da schrieben Sie, Fräulein Ohm, wie Sie sich um die Natur des Menschen, um seine Angst vor dem Fremden sorgen. Sie hofften, die Menschen hier erzwingen kein Blutopfer, um "ihren Glauben" zu legitimieren. Das Blutopfer wurde kurz darauf und wieder und wieder erzwungen. Nicht nur bei uns. Und anders, als Sie es in ihrem Brief meinten. Und dennoch raubt mir die "Antwort" auf Paris, von der alle sprechen, den Schlaf. Die Worte "Krieg", "Kampf" schnüren mir die Kehle ab. Wir springen auf den uns zurasenden Zug auf, bedienen uns dem Vokabular der Angreifer. Grundsätzliche Ursachen und Wirkungen, die Wurzeln des Terrors werden bei dem momentanen Aktionismus dagegen zwar von einigen mitgedacht, verhindern aber nicht, dass „der Krieg“ in aller Munde ist und Kampfjets bis unters Dach geladen täglich nach Syrien unterwegs sind. Wohin führt das? Wohin kann das nur führen? Ich mag die neue Bürgermeisterin Barcelonas, wie Sie vielleicht bemerkt haben, sie findet immer wieder die richtigen Worte. Auch zu den militärischen Maßnahmen gegen den Terror, sagte sie nur, dass sie nicht glaube, ein Land auf diese Weise zu attackieren, könne eine effektive Lösung gegen Terrorismus sein oder einen Krieg dauerhaft stoppen. Ihre leiseren, vielleicht auch idealistischen Töne gegen den IS, klangen in mir aber gleich an: die Wirtschaft des Krieges demontieren, die Finanzwege des Terrors kappen. Und auf lange Sicht: Aufklärung, Bildung und Chancengleichheit, als präventive Maßnahmen gegen fundamentalistische Geisteshaltungen innerhalb gewisser Bezirke und Gruppierungen. Der Ruf nach Laizismus, der darüber hinaus nun von überall zu hören ist, war das Einzige was mich in letzter Zeit wirklich überzeugt hat. Auch wenn es sich hierbei natürlich um langfristige und deshalb vermutlich nicht einzigmögliche Lösungen handelt. Und abschließend Colaus formulierte Aufgabenteilung für alle europäische Staaten: Flüchtlingen Schutz und Aufenthalt gewähren, die Gewalttäter isolieren.

Bei den Gewalttätern, (die in Paris ja wieder aus Europa kamen und nicht wie viele bellen mögen, „von dort“), musste ich an Ihren letzten Brief denken, lieber Altobelli. An das Zitat, dass wir, während wir lebten, Jahre darauf verschwenden würden, vergeblich auf einen Telefonanruf, einen Brief oder einen Blick von jemandem oder etwas zu warten, das alles wieder richtig mache. Auf was haben diese jungen Männer und Frauen zeitlebens gewartet? Was haben sie bei uns gesucht und dort gefunden? Es scheint, diese Menschen haben irgendwann selbst „dafür Sorge getragen, sich vollständig zu fühlen“.

Ich wünschte, Fräulein Ohms Überlegungen aus ihrem letzten Brief zum religiösen Glauben per se, wäre Ursprung aller Gläubigen: Der Wunsch „zu-uns-selbst zu kommen, damit wir frei leben können.“

„Mich verführt keine abenteuerliche Zukunft, // kein Fluß mit ungewissen Gewässern der Gegenwart // treibt mich vorwärts. Ich wünsche mir, unschuldig // und feinsinnig zu sein, um im Schatten // des alten Baumes der Erinnerung zu sitzen, ohne // Sorgen oder jähe Schrecken. Nach und nach // entwirre ich Gestalten und Anwesenheiten, // Leere und Glanz, Sonnenauf- und –untergänge, // um das grobe Selbstbildnis zu entwerfen, // das jemand vielleicht liebevoll bewahrt.“ Miquel Martí i Pol

Dieses Gedicht habe ich gerade in dem Band Parlavà-Suite des katalanischen Dichters dazu gefunden. Sie haben diesen Sommer vielleicht von Martí i Pol gehört, als nämlich sein enger Freund Pep Guardiola, einst Trainer bei Barça, jetzt Trainer bei Bayern München, im Literaturhaus München Gedichte von ihm vortrug, die den nervös werdenden bayrischen Fußballfans in Lederhosen, die Schamesröte ins sowieso schon Hefeweizen erhitzte Gesicht trieb, als Guardiola von nackter Haut und Fingerspitzen an Brüsten las. Der Gedichtband ist in der Edition Delta erschienen, die ich gerade für mich entdeckt habe. Dort finden sie katalanische, spanische, lateinamerikanische und koreanische Poesie zweisprachig mit deutscher Übersetzung. Ich werde die nächsten Monate dort viel zu stöbern haben.

Aber ich schweife ab: Den Wunsch sie „kämen zu sich selbst“, wie ich Fräulein Ohm oben zitiere, hege ich ab und an auch, wenn ich die Touristenmassen in Barcelona beobachte: Wenn ich mir die Menschen hier ansehe, aus allen Herren Ländern, wirken sie auf mich, als seien auch sie auf der Suche nach etwas, was sie in ihrer Heimat nicht finden können. Wie einst die Lemminge aus diesem Computerspiel der 90iger Jahre, laufen sich hier alle hinterher oder entgegen, rempeln, stolpern - ich wundere mich, dass noch keine der Gruppen von den Klippen des Montjuïcs ins Meer gefallen ist, so wie alle Hans-guck-in-die-Luft durch die Stadt stiefeln, als wäre ihre Betrachtung dieses Ortes maßgeblich für seine Existenz. Ihre krampfhafte Suche nach Bildern und Erlebnissen, die diese vage Hoffnung birgt, sie könnten damit irgendetwas in ihrem Leben verändern, verbessern. Ich muss bei der Untersuchung meiner eigenen Gefühle gegenüber der Touristen nun immer an Fräulein Ohms Worte aus ihrem letzten Brief denken, in dem sie fragt, warum wir dem Fremden immer ablehnend begegnen. Es handelt sich hierbei wohl um einen biologischen Mechanismus: Teil einer Gruppe zu sein (sein zu wollen), dort wo Schutz und Heimat erfahren wird, wo man sich auskennt. Diese Gemeinschaft gilt es vor möglichen Bedrohungen von außen zu schützen, vor Destabilisierung dessen, was wir kennen, was diesen Ort für uns als identitätsstiftenden Raum ausmacht. Jeder der nicht dazu gehört, muss erst einmal geprüft und ggf. als potenzieller Feind eingestuft werden. Es ist dann ein Prozess, bis dieses von Außen ein Innen werden kann, seinen Platz findet. Ich glaube, das ist die Biologie. Ob wir mittlerweile geistig soweit vorangeschritten sein sollten, um entgegen unserer biologischen Dispositionen denken und handeln zu können, steht auf einem anderen Blatt: Dass dieser Prozess (von Außen nach Innen) friedlich und mit Herzenswärme möglich ist.

Ich finde diese Gedanken hier in Barcelona deshalb interessant, weil sich hier täglich Herden von Fremden durch die Stadt wälzen. Darunter viele Deutsche: Wie wir hier ans Mittelmeer strömen, uns ausbreiten, die Strände überfluten, die Hotels, diese augenunfreundlichen Betonklötze, die sich an der Küste wie an einer Schnur aufziehen und diese Landstriche für alle Zeit verschandelt haben - und die nur für uns gebaut wurden. Mit unseren lauten Stimmen, unseren schweren, weißen Körpern, unserer Arroganz, die es uns erlaubt, überall und mit jedem Deutsch zu sprechen. Schließlich verstehen die uns doch. Stimmt. Und schließlich haben wir monatelang dafür geschuftet. Dafür bezahlt. Für das Recht, einmal im Jahr die Sau raus lassen zu dürfen. Hier geht das, hier werden keine Fragen gestellt, am wenigsten von uns selbst. Und nachts die Berge von Müll, die Pappschachteln aus den Fressbuden. Und das Brüllen aus feucht-fröhlichen Kehlen, die durch die engen Gassen hallen, der Uringeruch in jedem U-Bahn-Schacht. All dies lässt das schon einmal in anderem Zusammenhang verwendete Bild der Heuschreckenplage in mir aufkommen. Wie wir hier einfallen, ohne jede Form von Achtung oder Interesse für die Menschen, die hier leben. Und gleichzeitig aber in unserem Land eine Regulierung der Massen fordern, vielmehr ein Ausbleiben derselben. Den Menschen in Deutschland eine Bleibe verwehren wollen, denen zuhause - und zwar nicht aus der uns bekannten Langeweile - buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt.

In Barcelona findet also eine andauernde Gentrifizierung statt: Der Tourismus flutet nach und nach einen Kiez, bis die Einheimischen keinen Platz mehr zum Atmen finden und jede Form von Alltäglichkeit für sie unmöglich wird. Wohnungen werden billig von Ausländern gekauft und noch billiger als Ferienwohnung vermietet, von deren Balkone dann die barbrüstigen Halbstarken auf die Straße pissen. Zwar bleiben die Reisenden immer nur ein paar Tage in Barcelona, aber für die Einheimischen sind es dennoch jeden Tag Millionen von ihnen, mit denen sie zurecht kommen müssen. Und trotzdem erfahren die Touristen hier keine Gewalt, werden nicht verprügelt, obwohl manche von ihnen ganz objektiv betrachtet eine Tracht Prügel verdient hätten. Ihre Ferienwohnungen werden nicht angezündet, obwohl manche davon, nach dem ein oder anderen Aufenthalt, tatsächlich nur noch abgefackelt werden könnten. Das sind auch wir, die Deutschen, die hier am Strand in Stammtischmanier am lautesten krakeelen und in Deutschland die Zündhölzer aufblitzen lassen.

Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Flüchtlingen, die gerade zu uns strömen und den Touristen, die manche Teile Europas fluten. Dieser Vergleich wäre absurd und zynisch. Der einen Leid ist in keiner Form mit der Arroganz der anderen zu vergleichen. Und dennoch bleibt in meinem Kopf das Bild der Reisenden, der deutschen Reisenden, die hier mit ihrer sandalenbekleideten Flegelhaftigkeit alles platt latschen, was sich ihnen in den Weg stellt. Und die sich einen Dreck um die Einheimischen und deren Kultur scheren, außer sie findet sich in Form einer „Pae-La“ auf ihrem Teller wieder. Und die nun mit dem Finger auf die Menschen zeigen, denen im Moment keine andere Wahl bleibt, als ihr Land zu verlassen, um einen Ort der Sicherheit zu finden: diese Ausländer, die sich husch integrieren sollen, ach was, die gar nicht zu integrieren sind, die verdammt noch mal ganz schön undankbar daher kommen. Die hier eigentlich gar nichts zu suchen haben.

Und dann wieder der Terror. Der uns am Ende des Tages wieder alle gleich macht. Seit Juni 2015 ist die zweithöchste Terrorstufe in Barcelona ausgerufen. Am Plaça Catalunya laufen seitdem schwer bewaffnete Terroreinheiten mit Maschinengewehren Patrouille. Mehrere Medien geben an, auf der Liste der Terroristen sei Barcelona weit oben. Seit langem, so wird seit Monaten immer wieder berichtet, werde auch hier ein Anschlag erwartet. „Nach Paris erobern wir Rom und El Andalus (die iberische Halbinsel)“, heißt es in einem aktuellen Video der IS. In einem anderen spricht ein spanisch sprechender Dschihadist davon, dass sie sich in El Andalus nur zurückerobern würden, was einst sowieso ihren Vorfahren gehört habe (siehe Mauren/Spanien). Schon seit Monaten beobachte ich mit gewisser Beunruhigung, wie in Katalonien regelmäßig terroristische Gruppierungen aufgelöst werden, wie von vereitelten Anschlägen gesprochen wird, so scheinbar auch dieses Jahr auf die U-Bahn. Die Zahl der Salafisten vor allem in Katalonien (ich las: wo Spanien Feindbild sei und deshalb fruchtbaren Boden für Extremisten biete), sei hoch. Darunter interessanterweise auffallend viele Frauen. Der Attentäter aus Paris Abdeslam Salah soll sich noch kurz vor den Anschlägen in Figueres aufgehalten haben, einen Steinwurf entfernt von Barcelona: eine der Städte mit den höchsten Touristenzahlen Europas. Innerhalb der Medien und der Bevölkerung wird viel spekuliert, die Angst ist spürbar, das Innenministerium wiederum versucht zu beschwichtigen und die Gefahr differenzierter darzustellen. Das sind die Informationen, die ich Ihnen aktuell geben kann. Ich weiß nicht einmal, was ich selbst damit anfangen soll. Ich wehre mich gegen die aufkeimenden Gedanken, wenn ich die stark frequentierte U-Bahn Strecke zwischen Liceu und Passeig de Gràcia besteige oder zu Fuß die Ramblas überquere. Ich will, dass die Worte einer jungen Frau, die die Anschläge in Paris überlebt hat, wahr sind, unsere Wahrheit bleiben:

„Unsere Umarmung versinnbildlichte kompromissloses solidarisches Miteinander. Eine Waffe, die schärfer schießt, als jede Kalaschnikow und heller strahlt als jede Explosion. Vive la liberté!”

(Rheinische Post vom 17.11.15)

Da ist auch in mir der Impuls ebenfalls in Aktionismus verfallen zu wollen, schreien, trampeln, Blumen in Gewehrläufe stecken, irgendetwas tun, irgendetwas finden: das alles wieder besser macht. Aber ich weiß nicht, was das sein könnte. Helfen Sie mir gerne aus meiner Perspektivlosigkeit.

In allem was ich darüber hinaus die letzten Wochen zu den Ereignissen gelesen habe, hat mich nur ein Text nachhaltig und erneut so berührt, das er mich wie ein Mantra durch die Stunden begleitet. Dazu dieser Blick des Redners - der über alle Zeiten eine Brücke zu schlagen vermag. Ich wollte Ihnen heute eigentlich kommentarlos nur diese Worte schicken, vielleicht wäre das besser gewesen, „die Klappe zu halten“. Alles ist damit gesagt. Auf beiden Seiten. Ich wünschte, sie könnten einsickern, diese Worte, in jedes menschliche Wesen, in unsere Welt:
 

"Nur wer nicht geliebt wird, hasst. Wer nicht geliebt wird. (…) für eine anständige Welt! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt.“ Abschlussrede von Charlie Chaplin, aus dem Film Der große Diktator (1940)

Wenn es Ihnen abschließend beiden ähnlich wie mir geht, wenn in ihrem Kopf die Bilder und Kraftausdrücke der letzten Wochen kreisen und Sie nicht mehr wissen, was sie denken oder fühlen sollen, dann schauen Sie in das von mir kürzlich entdeckte Buch The Brown Sisters. Es ist Medizin in diesen Tagen: Ein Dokument über die Zeit. Über das Leben in seiner Essenz. Es reduziert alles auf das was es ist. Nicholas Nixon hat 40 Jahre lang jedes Jahr ein Foto von seiner Frau und ihren drei Schwestern aufgenommen. Diese Bilder zeigen nichts anderes als diese vier Frauen, jährlich aufs Neue schwarz/weiß vereint. Und trotzdem können Sie stundenlang in diesem Buch verweilen, sich die Geschichten der Gesichter erzählen lassen, die jedes Jahr etwas Neues berichten. Die älter werden und den Betrachter sanft daran erinnern, dass für uns alle die Zeit begrenzt ist. Dass es am Ende für alle nur dieses Eine gibt: Zu leben (und leben zu lassen).

„I have only one thing to do and that's be the wave that I am and then sink back into the ocean” (Fiona Apple)            

Ihre Madame Schoscha

PS: Liebes Fräulein Ohm, für Ihre große Reise in den Osten wünsche ich Ihnen von Herzen das, was Sie hoffen auf diesem Weg zu finden. Vielleicht bleibt ihnen Zeit, hin und wieder eine Karte zu schreiben. Wenn nicht: wir begegnen uns wieder.

PPS: Anbei eine herrliche Illustration von Gastón Liberto zum Thema mit dem Titel: „Mein Auge ist mein Licht“

 

 

  • 1. In Auszügen aus: Martí i Pol, Miquel: Parlavà-Suite: 4, S. 19, Edition Delta, Stuttgart 2012.

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