Tokyo Fragmente

Tokyo Fragmente 18

 

schläft nicht Am Morgen, bevor wir losfahren, soll ich einer (viel zu großen) Gruppe von Technikstudenten ein paar Geheimnisse der deutschen Sprache näherbringen. Aussichtsloses Unterfangen! Tatsächlich wird mehr als die Hälfte der 45 Studenten, alle in den hinteren Reihen, schlafen. Gewöhnlich hüte ich ihren Schlaf mit dem Schnurren meiner sanften Stimme und vermeide es, sie zu wecken, indem ich sie anspreche. Nur einige wenige, in den vorderen Reihen, wird in meine Richtung schauen, der eine oder andere – fast keine Mädchen – sogar meine Augen fokussieren, und manchmal werde ich am Gesichtsausdruck des einen oder anderen erkennen, daß er etwas sagen will, aber nicht sagen zu können glaubt, und ich werde versuchen, ihm zu helfen, es doch irgendwie, vielleicht auf anderen Wegen, herauszubringen. Hebamme, Geburtshelfer, das bin ich als Sprachlehrer (und überhaupt als Lehrer). Zweite, dritte, x-te Geburt, zusammengenommen nennt man das Entwicklung. Ergo, anderes Wort, verwandter Sinn: Entwicklungshelfer. Nicht nur in Bezug auf Fertigkeiten, sondern auf die Persönlichkeit. In Japan wird man mit zwanzig großjährig, vorher darf man nicht wählen und keinen Alkohol trinken, und tatsächlich sind die achtzehnjährigen Studenten noch Kinder. Einige von ihnen, das habe ich öfters erleben dürfen, machen in den vier oder fünf Jahren ihres Studiums erstaunliche, meist positive Veränderungen durch, vor allem, wenn sie ein halbes oder ganzes Jahr in Europa verbringen, in Deutschland oder in Österreich.

Freilich, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit fördern kann ich nur, weil ich selber eine bin, oder habe. Neben mir sehe ich eine Anzahl von erwachsenen Personen ohne Persönlichkeit, die vor einer Schar mehr oder minder Studierwilliger stehen und ihre Kinnladen klappern lassen. Was mir auch manchmal passiert. Trotzdem glaube ich – arrogant, wie ich bin –, daß ich eine Persönlichkeit bin und diese Erfahrung des Werdens weitergeben kann. Werden statt Sein! Nietzsche als Erzieher... Und Sein statt Haben, zum Beispiel Techniken haben, oder Terminpläne. Erich Fromm als Erzieher...

Also, noch einmal, klare Frage: Seid ihr Persönlichkeiten, Lehrer? Und ihr, Lehrer der Lehrer, lehrt ihr eure (angeblich erwachsenen) Schüler, eine Persönlichkeit zu entwickeln? Oder haltet ihr das für überflüssig, weil man das Persönlichkeit-Sein nicht durch Multiple-Choice-Tests und ähnlichen pädagogischen Klimbim checken kann? Lehrt ihr eure Schüler nur Fertigkeiten, Techniken, also das, was man haben und gegebenenfalls kaufen kann?

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Mein Lieblingsthema der letzten Zeit: Bildung, Erziehung. Um den sich abzeichnenden Weltuntergang zu verhindern. Sekkai no owari, Lieblingsband fast aller Schüler und Studenten. Drei liebe Jungs und ein ebensolches Mädchen mit dem Namen „Weltende“, der sie vereint. „Allende“, vor ein paar Jahrzehnten war das noch die Obsession eines verrückten Künstlers namens Wall, wenn ich den Namen richtig im Kopf behalten hab; jetzt ist es Mainstream. Als ich das gemalte Wort zum ersten Mal las, vielleicht 1972 oder 73, dachte ich an Chile, das ich damals nur aus der Zeitung kannte. Also Erziehung, um das letzte Ereignis zu verhindern. In meinen Ohren summt noch ein anderes Liedchen, das viel gespielt wurde, als Onkel Donald Weltpräsident wurde: It’s the end of the world as we know it... Und die Welt ist wieder einmal nicht untergegangen. Noch nicht. Und ich Dummkopf gebe mir weiterhin Mühe mit den Geheimnissen von Ichweißnichtwas. Im übrigen (großzuschreiben!): im Übrigen: Das Ende der bekannten Welt, ist doch gut, da steht etwas Neues an. Entwicklung! Deshalb singen sie auch so fröhlich, die amerikanischen Boys: And I feel fine...

Ende

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Zweites Frühstück im Konbini. Das war es, was ich vor der Abreise noch tun wollte, als gelte es, Abschied zu nehmen für immer, als würde ich eine Heimat zurücklassen (die ich ohnehin längst zurückgelassen, stückchenweise verstreut). Morgens, ehe die Trupps der Schüler ankommen, die den täglichen Schulweg, oft kilometerlang, zurücklegen, unter ihnen meine Tochter, aber sie ist jetzt zu Hause, seit letztem Samstag sind Schulferien – frühmorgens im Konbini sitzen, auf einem der vier Stühle vor der Fensterscheibe, und einen zellophanverpackten Donut aus dem Zellophan schälen, dann den heißen Kaffee schlürfen und zum Fenster hinausstarren, auf den einsamen Raucher neben dem hohen Aschenbecher – zwei Säulen, Mann und Ding, zwischen denen sich nur eine Hand mit gespreizten Fingern und ein Unterarm bewegen – und den Lastwagen, der gerade eingefahren kommt und mir die Sicht verstellen wird. Diese elenden, grün-blau gestreiften, blitzsauberen, luftgekühlten Konbinikästen, viel zu heiß im Sommer, am Fensterglas hier, das die Sonne gnadenlos bearbeitet, so daß mir nichts anderes übrigbleibt, als das Rollo und die weiße Leinwand (Plastikwand) herunterzuziehen, der durchschnittliche Konbinibesucher – in dem auch ich enthalten bin? – will ohnhin nichts sehen.

Und drüben, auf der anderen Seite der Straße, die zarte alte Frau, die in ihrem großen, dreieckig angelegten, mit vielerlei Zier- und Nutzpflanzen bestückten, von ihr wie von einer symphonischen Dirigentin beherrschten und geliebten Garten zugange ist, mit Gießkanne und erfahrenen Händen... Manchmal schenkt sie nachmittags einem der vorbeiziehenden Schulkinder eine hohe Blume, die das Kind wie ein Zepter nach Hause trägt oder unterwegs in einen der Bewässerungskanäle wirft.

Natürlich gibt es auch in Tokyo Konbinis. Jede Menge gibt es dort, an jeder Straßenecke und auch dazwischen, in den cuadras, wie das bei mir immer noch heißt. Aber es ist etwas anderes, wenn sie so übers Land verstreut sind, über Stadt und Land, mit weiten Parkplätzen, welche die Fernfahrer und ihre Lastwägen anziehen, und Vögeln und quer über die Straße schlurfenden Opas in grünen/grauen Einheitspatschen, mit sorgsam gepflegten Kreuzungsgärten und Himmel, Wolken, Wolken, Himmel, dem der Kasten die Stirn bieten darf, oder genauer: die Kante, auf der schon wieder ein paar Krähen sitzen. Und das Leuchten in der Nacht, die hier wirklich Nacht, also finster ist. Und das Zittern der Ähren der Reisfelder. Und das Nebeneinander von wuchernder Vegetation und tapfer widerstehendem Beton, Asphalt. Die aus den Rissen und Spälten schießenden kerzenförmigen, blütenlosen Pflanzen, die mir manchmal bis zur Schulter reichen. Und die Spiegelungen der Scheinwerfer Ampellichter Baseballmützen Seitentüren Reklametafeln; die Spiegelung der grünen und blauen Konbinistreifen. Zuletzt (und auch wieder zuerst): die sinnlose Verbeugung des müden, ewig gedankenlosen, aber fleißigen Studenten hinter dem Ladentisch, sein Dank an die Leere, wenn der Käufer längst verschwunden ist im beginnenden Tag, der ihn erst morgen wieder ausspucken wird.

Reisfeld mit lauernden Reihern

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Das Flugzeug ist in Haneda „rodeomäßig gelandet“. Der exakt passende, wie ein ideales Kleidungsstück sitzende Ausdruck stammt von Mayuko, und ich frage mich, woher sie ihn hat. Selbst gefunden? Erfunden? (Immerhin kommt es vor, daß sie bei Spaziergängen in der freien Natur plötzlich ein Haiku von sich gibt, auch die sind: exakt.) Oder von mir? Sie vergleicht das Flugzeug mit dem, was sie, wie die meisten zehnjährigen Mädchen, liebt, nämlich Pferde, und den Piloten mit einem Reiter, der sie selbst sein könnte. Später, als wir vor der Auslage eines eleganten Cafés die Tortenstücke begutachten, erscheinen ihr diese „furchtbar klein“, und als ein Hündchen an der Leine ihrer Herrin vorbeitrippelt, wird auch dieses mit demselben Epitheton versehen. Furchtbarkleine Tortenstücke, aus der Sicht österreichischer Süßspeisenkultur, doch bemerkenswert ist die Geschichte der letzten Jahre, als die Deflation anhielt und Teuerungen von einigen „Analytikern“ regelrecht herbeigesehnt wurden: Die Waren, die Verpackungsinhalte wurden kleiner und kleiner, der Preis aber blieb gleich. So wuchs dann die Zahl der Konsumenten, die zwei statt einem Tortenstück kauften, um sie zu Hause oder im Café zu verdrücken. Auch das ist eine Art der Teuerung, eine Art der – aufs Ganze gesehen – Verarmung, obwohl man zugeben muß, daß Japan immer noch ein sehr reiches Land ist und der Reichtum sich hier recht gut verteilt. Furchtbare Kleinheit... im Gegensatz zur hübschen Kleinheit, die hier so beliebt ist.

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Mayuko hat einen Teil ihrer Schulaufgaben nach Tokyo mitgenommen. Schulferien sind für japanische Kinder keine echten Ferien, nicht wirklich schulfrei, die Bürger werden von klein auf daran gewöhnt, daß es im Prinzip nichts anderes gibt als Arbeit, daß sie immerzu isogashii sind, also viel zu tun haben, und daß die Zeit zum Schlafen nie ausreicht, was ein Grund ist, weshalb die Sehnsucht nach Schlaf so verbreitet ist. Wenn ich Studenten im Anfängerunterricht nach ihren Hobbys frage, antworten immer einige – ein konstanter Prozentsatz – von ihnen: Schlafen. Mayuko will in Tokyo vor allem mit ihrer gleichaltrigen Freundin zusammensein, die früher in dieselbe Schule ging wie sie. Natürlich hat auch ihre Freundin wenig Zeit – aber am Ende dann doch, zum Glück sind Kinder noch in der Lage, Zeitpläne zu unterlaufen, was mitunter zum Streit mit den Eltern, diesen Wächtern der Zeit, führt. Karen geht in eine Nachhilfeschule, vier Tage die Woche, von morgens bis mittags, danach stehen Hausaufgaben für die Nachhilfeschule, die juku, an. In Tokyo gehen fast alle Schüler in eine Juku. Karen mangelt es sicher nicht an Intelligenz, aber das gesamte System ist so angelegt, daß die Schüler ohne zweite Schule die Hausaufgaben, Prüfungen und Tests, ganz besonders Eintrittsprüfungen für die nachfolgende Schule oder Universität, unmöglich schaffen können. Hier liegt ein wesentlicher Grund, weshalb es teuer ist, Kinder aufzuziehen, und in der Folge, daß Japaner immer weniger Kinder in die Welt setzen (ein weiterer Grund ist, daß sie in jungen Jahren keine Zeit dafür haben).

Zeit für Kinder

Zwei kurze Standardsätze, die man ständig überall zu hören bekommt und die in der heutigen Gesellschaft vollkommen inhaltsleer sind: Isogashii, ich habe sehr viel zu tun, ich kann leider nicht kommen, nicht mitmachen usw. Und sumimasen, Entschuldigung, es tut mir leid...

Die Isogashii-Sager haben in Wirklichkeit meistens gar nichts zu tun, jedenfalls nichts Sinnvolles, sie wollen bloß nicht kommen, nicht mitmachen, reden, helfen usw. Den Sumimasen-Sagern tut gar nichts leid, sie wollen nur, daß eine peinliche Sache vom Tisch gewischt, unter den Teppich gekehrt wird, oder sie denken gar nichts, das Entschuldigen ist bei ihnen automatisiert, und der Automat funktioniert, wie er immer funktioniert.

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Beim Öffnen des Fensters am frühen Morgen ein Geruch wie in Mexiko-Stadt... oder nein, der Vergleich kann nicht stimmen, Mexiko liegt fern vom Meer in 2500 Meter Seehöhe, es ist wohl der beliebige Geruch einer beliebigen Großstadt, die luftigen Reste von all dem Essen und Trinken, das nachts in Restaurants, Bars und Kneipen konsumiert worden ist, die Ausdünstungen einer großen Zahl von Mernschen, die nahe aneinander leben. Menschen mit ihren Maschinen, die ebenfalls ausdünsten. Klar, der Geruch hier enthält eine Spur Meeresluft, schließlich sind wir im Minato-ku, also im Hafenbezirk, die letzten Ausläufer der Küste keinen Kilometer entfernt.

(Aber wann „stimmt“ ein Vergleich? Tatsächlich hinkt jeder, jeder enthält eine Spur – oder ziemlich viel – Ungleichheit, Differenz.)

Großstadt mit Geruch

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Im Zug eine Frau auf der Bank uns gegenüber, Mayuko vergleicht sie mit ihrer Mutter, findet Ähnlichkeiten, die mir nie in den Sinn gekommen wären. Ich erschrecke über das Alter, die Behäbigkeit, das entblößte Zahnfleisch, die dicken Knie – kurz, über den Mangel an Schönheit dieser Person.

Kann schon sein, daß wir in dauerhafter Illusion über das Alter und das Aussehen unseres Nächsten leben. Die Zeit schreitet voran, doch der frühe Eindruck bleibt bestehen und wird schrittweise zu einem Bild, das der Wirklichkeit immer weniger entspricht. Der Körper verfällt, womöglich auch der Geist, doch die Erinnerung bleibt und beeinflußt unseren gegenwärtigen, nur widerwillig angepaßten Blick. Das gilt auch und noch mehr, weil wir uns selten – im Spiegel – von außen sehen, für die Selbstwahrnehmung.

Kann aber auch sein, daß sich unsere Sichtweisen, die kindliche, frische einerseits und die erwachsene, träge andererseits so sehr unterscheiden. Mayuko sieht die Frauen nach dem Bild ihrer Mutter, ich suche in ihnen immer noch die ideale Geliebte, die ich einst, bei einer Tanzveranstaltung in der alten Festhalle auf der Insel Nakanoshima, gefunden zu haben glaube und nach dem Bild von damals sehe, obwohl die Person an meiner Seite längst nicht mehr dieselbe ist.

(Später dann, wieder zu Hause, bei einem der von Jahr zu Jahr spärlicher werdenden Feste im Freien, überrascht sie mich, als sie von fern ihre Mutter erblickt und nahezu außer sich gerät, weil diese so kawaii, und das heißt in diesem Moment auch: so jugendlich sei. Ich kann nicht anders, als ihr beizustimmen, allein schon, um mich zu trösten und meinen Blues zu lindern.)

Großstadt ohne Geruch

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Friedliches Tun, wie wir zu zweit ein Bild zeichnen, mit ein paar Farbstiften auf ein großes Blatt Papier. Hier, auf dem Parkettboden unserer vorübergehenden Wohnung. Warum kommt das in der Kunstgeschichte nicht vor, zu zweit Malen? Höchstens, daß der Meister seinen Schüler ein bißchen mittun läßt, oder ihm die Ausführung weniger wichtiger Werke überläßt. Gilbert & George? Ja, aber die gehören in die Nachmalepoche. Pop, Performance, Collage, Unternehmertum. Unser Zusammenleben ist Kunst. Aber einfach Zeichnen, Malen, wie es heute nur noch Kinder tun (und ewig tun werden)? Das Zu-zweit-Tun ist befruchtend, man bekommt Ideen, bekommt sie geschenkt, Ideen, die man allein nicht hätte, überhaupt: mehr Ideen, sie wuchern geradezu. Und: schöner ist, für mich, das Zuschauen, wie der andere, aus meiner Idee und meinem Strich heraus, weitermalt, wie er allein dahinmalt, aber nicht ohne mich. Solches Zuschauen verschafft mir ein angenehmes, ja, zweifellos – Hört, ihr Pädophilenjäger! – erotisches Gefühl. Ein Gefühl im Bauch, im Unterleib, recht deutlich lokalisierbar. Nicht so hysterisch wie Sex. Ein ruhiges Gefühl ähnlich dem, das ich manchmal habe, wenn ein Student, eine Studentin, den oder die ich lange Zeit unterrichtet – unterwiesen? – habe, in einem bestimmten Moment vollkommen frei zu sprechen, zu denken, zu erklären beginnt. Sie oder er braucht mich nicht mehr, aber es ist gut, und schön, wenn ich zusehe, zuhöre. Ähnlich auch, wenn das Kleinkind die ersten Schritte allein geht (aber diese Zeitspanne ist zu kurz, um erotische Gefühle zu wecken). Oder wenn das jetzt schon größere Kind nach zahllosen Versuchen auf dem Fahrrad eine schöne Strecke ohne jede Hilfe allein dahinfährt.

Zwei Bilder sind so aus unserer Koproduktion entstanden; eines erhält den Titel Auge Auge, weil darin ein Auge im Auge vorkommt, ein Betrachterauge und ein Malerauge, ähnlich und verschieden; das andere heißt Race/Rache, weil es ein Wettrennen zeigt und von Rache erzählt, einer fröhlichen Rache, die mich jetzt, da ich schreibe, an meinen Haß vom Vor- oder Vorvortag denken läßt, obwohl ich ihn auf dem Bild nicht dargestellt finden kann (da bräuchte es eine tiefenpsychologischer Interpretation): Haß auf die Schule, die Lehrer, „das System“. Ein Haß, der viel stärker ist als der Haß meiner Tochter, die die strukturelle Gewalt – so haben wir das früher genannt – unmittelbar erleiden muß. Die Art der Gewalt, ihre Inhalte gewissermaßen, haben sich im Vergleich zu meiner eigenen Schulzeit verändert, aber sie ist immer noch da. Natürlich unausgesprochen, unformuliert. Pedanterie, eine Art des Piesackens, die als notwendig im Interesse des Kindes, das sich später in eine piesackende, pedantische Gesellschaft eingliedern muß, ausgegeben wird. Haß auf den Übereifer, der zu der landesweiten Erschlaffung geführt hat, die ich nicht nur an meinen Studenten, sondern überall in der Bevölkerung beobachten kann. Schlappschwänze!

Arakawa Schleuse

„Beruhige dich!“ (sagt meine Tochter). Auch das Sich-Beruhigen kann und, ja, muß man lernen. Vorauseilende Gleichgültigkeit. Die selbstverstänliche Anpassung, so selbstverständlich, daß es im Japanischen kein Wort dafür gibt – immer, wenn ich an diese Gesprächsstelle komme, taste ich mit oder ohne Wörterbuch danach herum, blättere, taste, versuche, aber die Tatsache oder Erleidenssache läßt sich nicht so recht ausdrücken.

Die beiden von uns gemalten Bilder erinnern mich an jene, die ich in tiefster Einsamkeit als zirka Sechzehnjähriger nachts in meinem winzigen Zimmer an der Gasthausecke gemalt habe, ebenfalls mit Buntstiften. Vor allem an eines, das zeigt ein großes Fauteuil zeigt, aus dem eine Gestalt herauswächst, in vielen Farben schillernd, wobei der Grund jedoch, die Quelle gewissermaßen, von einem unverwischbaren Grün ist. Dieses Bild, das ich seit Jahrzehnten für ein echtes Kunstwerk halte (mein einziges), liegt wahrscheinlich immer noch in einer Mappe in einer Schachtel in einem Keller einer Wohung im fünfzehnten Berzirk in Wien, auf der Schmelz, also an der höchstgelegenen Stelle dessen, was man als Stadt bezeichnen kann (Wienerwald exklusive), daher vor Überschwemmungen geschützt. Es liegt dort zusammen mit anderen Mappen mit Typoskripten, unveröffentlichten Texte meiner Jugend, die ich mir eines Tages ansehen will, aber das sage ich nun schon seit Jahrzehnten, wahrscheinlich wird der Tod dazwischenkommen und ich werde...

Nichts werde ich.

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Es ist nicht lange her, da habe ich einen Kommentar von Bettina Balàka zur sogenannten Zentralmatura, speziell über die SRDP Deutsch, gelesen. Ich habe nachsehen müssen: SRDP heißt „Standardisierte Reife- und Diplomprüfung“, die Standardisierung junger Menschen verfolgt man also mittlerweile ganz unverblümt und von oberster Stelle gefordert, gefördert. Lange Zeit habe ich Japan spontan, ohne das dauernd zu reflektieren, mit anderen Ländern verglichen und Besonderheiten – all das „Fremde“, „Exotische“ – auf Kulturunterschiede zurückgeführt. Mit der Zeit habe ich begonnen, den Zeitaspekt zu berücksichtigen: Vielleicht war ja etwas, das mir merkwürdig vorkam, einfach neu, vielleicht entsprach es einer Entwicklung, die in vielen Ländern der Erde vor sich ging, wie zum Beispiel die Bürokratisierung sämtlicher Lebensbereiche oder die wachsende Verplanung der Zeit, Arbeitszeit ebenso wie Freizeit, Lern- und Arbeitszeit, bei gleichzeitiger Beschwörung der Freiheit (jedenfalls in Europa, in Japan fällt das weg).

Mein konkreter Schulhaß neulich hatte sich an einer Kleinigkeit entzündet. Meine Tochter hatte bei einem Aufsatz Punkteabzüge in der Benotung bekommen, weil sie bei direkter Rede auf Anführungszeichen – in Japan zwei Striche, rechtwinkelig aneinandergefügt, zwei Winkelchen im von oben nach unten fließenden Text – verzichtet hatte. Bei Bettina Balàka lese ich von einem Schüler in Österreich, der negativ benotet wurde, weil er zwischen den Absätzen keine Leerzeilen gelassen hatte. Der Lehrer meiner Tochter, dachte ich, sollte hin und wieder Romane lesen, um wenigstens zu wissen, daß Autoren direkte Rede nicht immer durch Striche kennzeichnen. Und bei den österreichichen Leerzeilen denke ich: Genau wie in Japan. („Genau wie in Japan.“) Inhalte werden formalisiert, formale Kriterien höher bewertet als inhaltliche, selbständiges Denken wird hintangestellt, nein, unterbunden, Anpassung an Regeln, nach deren Sinn nie gefragt wird, ist die oberste Regel der Schule. „Hier aber wird Massenware verlangt. Alle schreiben das Gleiche gleich.“

So ist es, im Westen wie im Osten, vermutlich weltweit, global. Globalisierung ist Standardisierung. An der Uni bin ich mit achtzehnjährigen Studenten konfrontiert, die unfähig sind, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, Akzidentielles von der Substanz. Sie sind unfähig, einen längeren Text kurz zusammenzufassen, weil sie seinen wesentlichen Inhalt nicht erkennen, sondern nur die Abfolge von Daten, die sie in der richtigen Reihenfolge wiedergeben, das heißt kopieren können – genau das, und sonst nichts, haben sie in der Schule gelernt. Cut, copy and paste, ob mit oder ohne Computer. Das oft beschworene „sinnerfassendes Lesen“ ist nicht regulierbar, nicht standardisierbar, nicht quantifizierbar und auch nur bis zu einem gewissen Grad trainierbar, es braucht ein Minimum an schöpferischen Fähigkeiten und vor allem: an Neugier, Motivation des Erfassenwollens. Kreativität, Neugier und Motivation aber, die jedes Kleinkind in mehr oder minder großem Maß besitzt, werden den Schülern von der Schule über die Jahre hinweg ausgetrieben. Der Lehrer will nicht, daß die einzelnen Schüler etwas Besonderes, seiner Persönlichkeit Entsprechendes können, sondern daß alle das gleiche tun und in der Masse funktionieren.

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So gehen die Assoziationen, die Verknüpfungen, so geht die transversale Vernetzung all der Weltpunkte, die in einer persönlichen Geschichte vorkommen. Zufällig läßt man sich von einer Zehnjährigen, die allein und selbstbewußt, in einem überschaubaren Gebiet dieses riesigen Verkehrsnetzes, mit U-Bahn und Bus die Stadt durchstreift, in ihr Lieblingslokal führen, einen schmalen, dreistöckigen Oden-Laden in Azabu-Juban, und man liest einen Namen und riecht schon: Miso, Miso-Oden, und zufällig hat man vor fünfzehn Jahren in Nagoya gelebt und ruft sich diese Miso-Eßkultur zurück aus der Schlucht der Vergangenheit mitsamt Düften und Gerüchen und Aromen, die hier wie dort dieselben sind, geblieben sind. Ruft die Schlürfer zurück – Miso-Nikomi –, die Mahlzeiter und den Mann, diesen zeitweiligen Freund, der einen durch die Nacht geleitet, und die Bardame, die sich mit überlegenem Lächeln, die ihre ganz andere Geschichte im überlegenen Lächeln verdichtet: was für eine Präsenz, diese Frau, stärker als jede Schauspielerin, ein Blick genügte, ein Schulterzucken, unwillkürlich wich man zurück, fühlte sich schon im voraus erwählt oder verstoßen.

Ach, die Erzählung schweift, schweift ab und franst aus, hin zu den Rändern. Analogia entis, dieses höchst menschliche principium, bewirkt, daß alles zusammenhängt – nicht alles natürlich, aber vieles, alles wäre unmöglich, da entfiele einem später – das heißt, ziemlich bald – allzuviel. Das Dunkle der Miso-Sauce lockt ein Gleiches, oder Ähnliches, Mole Poblano, nicht Sojapaste sondern Schokolade, mit Huhn, erst neulich gegessen in einer der Restauranthütten am Straßenrand in Coyoacán, vor einem Jahr – Ist das neulich? – oder zwei Jahren, vor zwanzig Jahren, alles wie neu... in der Erinnerung, die die Gegenwart durchlöchert mit analogischen Wurfpfeilen. Gleicht einer Großstadt, die Erzählung, gleicht Tokyo oder Buenos Aires oder Mexiko, oder jeder beliebigen anderen, in Japan franst sie selbst noch ins Meer hinaus, in Form von Flugplätzen, Lagerflächen oder steil aufragenden Wohnvierteln (in Buenos Aires dagegen ist am Flußufer Schluß, und manchmal geht die Bewegung in die Gegenrichtung, Wasser ins Land, die Straßen hinauf, por el Bajo, bei Südostwind, der Fluß franst hinein in die Stadt).

Schokodunkel, Misodunkel... Nachtdunkel und Regen, als wir das Oden-Lokal verlassen. Falls sich das Mädchen verläuft, hat es immer noch sein Handy, um die Mama anzurufen und zu fragen, ob links oder rechts. Oder den Navigator... Aber das Mädchen zieht die Mutter vor.

Konbini im Regen (Provinz)

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In unserer Provinz, Präfektur Hiroshima, gab es letzthin Regentage, an denen kein Schulunterricht stattfand, aus Sorge um das Wohl der Kinder, Angst vor Überschwemmungen oder Erdrutschen, die es in den vergangenen Jahren bei uns öfters gegeben hat. Ein bißchen zuviel Sorge mitunter, an manchen Tagen regnete es dann fast gar nicht, und umgekehrt mußten die Schüler an Tagen mit schwerem Regen sich doch auf den Weg machen. Manchmal wäre es gut, am frühen Morgen aus dem Fenster zu schauen statt auf irgendwelche Weisungen zu hören, die sich auf rasch veraltende Wettervorhersagen stützen. Aber das tut man nicht mehr, schon gar nicht die Lehrer, man tut es genauso wenig, wie man seinen Weg durch die Stadt und übers Land durch Schauen und Nachdenken sucht. Vertrauenswürdig sind nur die Informationen des Navigators.

Die Kinder durften an diesen Regentagen nicht draußen spielen, auch dann nicht, wenn es in Wahrheit nicht regnete. Einmal rief meine Frau aus einem anderen Grund in der Schule an, um Mayukos Klassenlehrer zu sprechen, aber der war nicht da, er war auf Streife, das heißt, mit seinem Auto unterwegs, um die Gegend zu kontrollieren und im Freien spielende Kinder zurechtzuweisen und nach Hause zu schicken. Die Schule kontrolliert und standardisiert das Privatleben der Familien, und zwar in vielen Bereich, nicht nur an Regentagen. In Tokyo wäre das in dieser Form unmöglich, das Lehrerchen mit seinem PKW im städtischen Dschungel verloren. Ein Grund, weshalb die ländlicheren Schulen engstirniger und – der in Japan gebrauchte Ausdruck: kibishii – strenger sind. Dafür gibt es mehr Nachhilfeunterricht, die Schüler in Tokyo sind noch fester eingespannt in die Zeitpläne.

(„Nachhilfeunterricht“ ist eigentlich falsch, es handelt sich um Zweitschulen, die zu den ersten hinzukommen. Gibt es eigentlich schon Drittschulen, die die Zweitschulen ergänzen?)

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Die Stadt gehört uns Dasselbe Wohlgefühl wie beim Zeichnen zu zweit und beim Zuhören im Seminarraum, wenn ich hinter den beiden Mädchen hinterhertrotte und beobachte, wie sie durch die Straßenschluchten ziehen, ich von ihnen fast unbemerkt. Aber dann auch zufrieden, als wir uns für eine Zeit ganz trennen, in der größten Papierhandlung, die ich je gesehen habe, zwölf Stockwerke und dazu noch einmal sechs im Hinterhof. Ich sitze oben unter dem Dach, schlürfe Rotwein, betrachte die tiefe Baulücke unten, die ruhenden Bagger, bekleckere mich, kehre zurück zu meinem Buch, wo gerade die Rede ist von einem stillen Abend in Buenos Aires, im zehnten Stock eines Hochhauses, Emilio Renzi sieht zu, wie sich die Dämmerung auf den fernen Fluß legt. Das habe ich auch oft getan, die wechselnden Farben dort draußen und dort oben bestaunt – die Lektüre von Piglias Tagebüchern ist eine der Bestätigung, des Wiedererkennens, des Dabeiseins im Gewesenen, voyeuristisch, affirmativ. Why not? Den zehnten Stock denke ich mir dazu, es ist warscheinlich nicht dieselbe Wohnung wie die, in der ich zweimal war, und dazu die Treffen in den Bars und Kneipen der Umgebung, genau so, wie Emilio/Ricardo das seit jeher praktiziert hat; nicht dieselbe Wohnung, aber eine ähnliche, in der Nähe vom botanischen Garten, wo Alan Pauls sein Studio hatte oder immer noch hat, aber nicht im zehnten Stock, sondern im zweiten, wenn ich mich recht entsinne, in einem niedrigen Haus mit Patio und Terrasse. Dann aber, im Tagebuch des Emilio Renzi, solche Sätze, die mich ein bißchen herausschleudern aus der gewohnten Bahn: „Das Leben eines Spions, der sich in feindliches Gebiet eingeschleust hat. Das war von Anfang an meine Identität, oder meine Gewißheit in der Welt...“ Die dauerhafte Fremdheit, ja, aber auch die Gefahr, denn wenn so einer identifiziert wird, dann Gnade Gott... Ricardo ist nichts Schlimmes passiert; manche in Argentinien haben ihm das sogar vorgeworfen. Rodolfo Walsh, der in Renzis Tagebüchern oft vorkommt, mitsamt seinen Schwierigkeiten, Fiktion zu schreiben, und mit Hochachtung vor seinem dokumentarischen Erzählen, Rodolfo Walsh wurde 1977 von den Häschern der Militärdiktatur ermordet.

Lücke (nicht mehr lange) Karen und Mayuko schneien herein ins Café, essen gemeinsam ein tiefrotes Eis und sind auch schon wieder weg. Ricardo wollte nie Kinder, keine Familie: eine frühe Entschiedung, an die er sich hielt. Nachts fühlte er sich einsam, wenn keine Frau neben ihm lag. Zeitweise lag dann jeden Tag eine andere neben ihm, abwechselnd eine aus einer kleinen Zahl von Geliebten. Das war in den frühen siebziger Jahren und eben auch – in Buenos Aires. Aber hier, in dieser wohlgeordneten, immer wieder tüchtig neuaufgebauten Stadt... Ist hier heute noch Platz für einen Osamu Dazai? Nein, nur für brave Leute, fleißige Arbeiter wie Murakami H. und Oe Kenzaburo.

Race

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