Tokyo Fragmente

Tokyo Fragmente 20

 

Im Waggon stehe ich an der Tür und schaue hinunter auf das Smartphone einer sitzenden jungen Frau. Ungefähr zehn Minuten klickt sie ausschließlich Fotos an, Hunderte, wenn nicht Tausende; und sie interagiert, wählt welche aus, klickt, bewertet, liket, kopiert, speichert, verwirft, betätigt irgendeine Funktion. Es ist eine ausschließlich visuelle Interaktion, ohne eine Spur von Text. „Hello Kitty“ steht außen am Phone, dazu eine Menge Herzchen. Die Fotos vielleicht von Modeschauen, von Idol Boyz, von Musicals, viele Kostüme, kräftige Farben… der Abstand ist zu groß, als daß ich genau feststellen könnte, worum es sich handelt. Kostümparty zu Hause? Lädtst du mich ein? I like you!

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Lack

Plötzlich, in den zwei, höchstens drei Warteminuten auf dem Bahnsteig, die genaue, bildstarke Erinnerung an eine Frau vor mir in der Warteschlange vor dem Kabuki-Theater in Ginza, wohl in der Anfangszeit der Smartphones. Diese Unbekannte, die sich zur Mittagsstunde für kurze Zeit ins Kabukireich entführen lassen wollte, war elegant gekleidet, mittlereren Alter, die Haare kastanienbraun, der Körper so klein, daß ich ihr leicht über die Schulter schauen konnte. Ihre Finger bewegten sich auf dem Bildschirmglas, dieses Tupfen und Wischen, heute eine millionenfache Gewohnheit, faszinierte mich, und noch mehr faszinierten mich ihre rot lackierten, goldgerandenten Fingernägel: sehr feine Säume, goldene Linien, die an manchen Stellen fast ein wenig zitterig wirkten, was den Reiz des Körperkunstwerks noch erhöhte. Was aber zeigte sich unter dem Glas? Nichts anderes als Fingernägel in den verschiedenesten Rottönungen, auch Fläschchen und winzige Pinselchen, eine endlose Folge, mal nach oben, mal nach unten gewischt. So bewegten sich unsere Körper eine Weile in unregelmäßigen Schritten und Rucken vorwärts, und meine Augen wanderten zwischen dem Smartphone, dem Haar und den Fingern der Frau hin und her. Irgendwo – genauer gesagt, im Aufzug, der eine dicht gedrängte Gruppe von Zusehern in den vierten Stock brachte – verlor ich sie aus den Augen. Später jedoch, als wir alle unterm Dach des Kabuki-Theaters Stellung bezogen hatten, sah ich die Frau an der hinteren Wand auf einer Bank stehen, ihre Füßchen in glitzernden Patschen aus rotem Samt, das Smartphone im beigen Täschchen verstaut, eleganter und schöner als die rot-goldene Prinzessin weit vorne – tief unten – auf der Bühne, die breit war wie der Horizont einer aufgehenden Welt, aber von den Schauspielern mit einer eigentümlichen Kraft bestanden und manchmal durcheilt wurde.

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Regen?

Ein Platzregen, wir warten am U-Bahn-Aufgang auf Mayukos Freundin, die dann bald kommt, sich zu uns unter die Markise des Cafés flüchtet. Im Nu rinnen Bäche den Rinnstein hinunter, darauf tanzen Luftblasen. Eine Zeitlang schauen wir einmütig zu, während ein Mann unter der Markise des Nebengeschäfts hartnäckig in sein Handy hineinredet wie die Zikade in den berühmten Stein. Seinem abwesenden Gegenüber macht er Vorwürfe, viele Vorwürfe, einen ganzen Berg, und wird immer lauter, zieht Blicke auf sich, wird trotzdem nicht leiser. Das abwesende Gegenüber ist seine Frau, seine Freundin – ich weiß nicht, warum ich automatisch auf dieses Bild verfalle (vielleicht läßt der Tonfall keinen anderen Schluß zu). Am Straßenrand werden Taxis angehalten, den Taxilenkern bringt der Regen ein gutes Geschäft. Eine Frau mit kurzem Rock und hochhackigen Schuhen setzt sich ohne die übliche Schamvorsicht auf den Rücksitz, und ich schaue ihr zwischen die Beine, was sonst soll ich tun, die Scham verbietet und lockt, eine Sekunde, das Weiß ihres Höschens, gleich fällt die Tür zu. Die Drogerien und Konbinis, in denen Schirme verkauft werden, machen ein gutes Geschäft, und auch die Kneipen und Cafés machen ein besseres Geschäft als sonst.

Wir beschließen, im Laden gegenüber einen Schirm zu kaufen, ducken uns darunter; ich laufe daneben, die Nässe ist mir egal, die Schuhe werden ohnehin eingeweicht. Ich habe das Gefühl, im Wasser zu plantschen, als wäre die ganze Stadt zu einem Becken wie das vor dem Café in Shimokitazawa geworden. Die Mädchen können sich nicht entscheiden, wo wir das Abendbrot essen, und ich beschließe: Im Soba-Laden dort drüben. Der ist eigentlich zu teuer, wie sich herausstellt, die klimatisierte Luft fühlt sich für Durchnäßte eiskalt an, und am Ende hat Karen immer noch Hunger, also gehen wir in einen kleinen Supermarkt, um Nigiri zu kaufen. Zufällig kommen wir wieder an die Kasse, wo die grauhaarige, nicht gerade elegante, aber stark geschminkte Frau steht, die mich ein wenig an meine vor über dreißig Jahren verstorbene Mutter erinnert. Es gibt hier mindestens sechs Kassen, aber jedesmal geraten wir an diese Frau, obwohl ich es nicht darauf anlege, immer wird ein Platz ausgerechnet an dieser Kassa frei, wenn wir mit unseren wenigen Waren angetrottet kommen. Sie will englisch mit mir reden, aber mein Japanisch ist besser als ihr Englisch, das hat sie inzwischen akzeptiert. Schon vor vier Tagen sind wir ins Gespräch gekommen; trotz ihres volkstümlichen Aussehens scheint sie gebildet zu sein, zum Beispiel weiß sie, daß man in Österreich Deutsch spricht. Sie kann sogar einen Satz auf deutsch: „Ich liebe dich“, sagt sie und wartet auf meine mimische Reaktion, die sie voll und ganz befriedigt.

„Ich auch...“, sage ich und füge nach einer winzigen Pause hinzu: „...nicht.“

Ich glaube nicht, daß sie das verstanden hat. Oder kennt sie am Ende auch das Showa-Chanson? Je t’aime... moi non plus.

Als wir auf die Straße hinaustreten, spüre ich, wie kalt es geworden ist. Richtig kalt, ja. Ein Temperatursturz, in Japan habe ich so etwas im Sommer noch nie erlebt, auch nicht an Regentagen, da ist die Luft dann noch schwerer zu atmen.

Rest von Pracht (siehe Tokyo Fragmente 9, Bild 9

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Lange geschlafen, allein, Mayuko ist bei Karen. Viel geträumt und viel davon im Gedächtnis behalten. Ein Traum spielt in einem großen, verwinkelten Haus, das Adelheid Dahimène gehört, die vor sieben Jahren verstorben ist. Es gibt dort ein großes, unbenütztes Zimmer, das eigentlich ich hätte beziehen sollen, aber Adelheid hat es an ein junges Paar vergeben, zwei Argentinier, das Mädchen ist eine dieser in ihrer Heimat nicht seltenen Schönheiten, und auch der Junge ist schön, sein Körper angespannt, als müßte er jeden Augenblick losschnellen. Er ist einer dieser herrisch auftretenden jungen Männer, wie sie einem in Buenos Aires oft begegnen, beim Tango zum Beispiel, aber auch in vielen anderen Kontexten. Ich spüre Neid wegen der verlorenen Wohngelegenheit, aber auch wegen der schönen Frau, also Sexualneid, und diese Gefühle sowie meine Bedürfnisse muß ich zurückhalten. Darin besteht meine eigene Anspannung und die Spannung im Traum, die langsam unerträglich wird, bis die Szene wechselt.

Jetzt sitze ich in einem kleineren Zimmer an einem Tisch vor dem Fenster, an dem eine Straße oder ein Weg vorbeiführt. (Ähnlich wie mein Arbeitstisch in der Via Reitano in Catania, im Erdgeschoß, und auch wie jenes Zimmer in Stifters Erzählung Turmalin.) Peter Handke taucht vor dem Fenster auf, er betrachtet mit der für ihn typischen Aufmerksamkeit die Umgebung, bis ihm langsam meine Anwesenheit bewußt wird, wohingegen ich ihn schon lange beobachte. Wir sprechen, ich weiß nicht mehr was, erinnere mich aber an seine Freundlichkeit, die mich überrascht. Er zeigt sich besorgt nicht nur um mein Wohlergehen, sondern um meine Literatur.

„Was schreiben Sie denn gerade?“
„Nun ja, ich schreibe, wie Peter Handke vor meinem Fenster auftaucht und...“
„Ach so, Sie schreiben mit. Das ist schön.“

Er ist nicht mehr dieser ewige Eigenbrötler, denke ich im Traum... Nein, jetzt, erst jetzt denke ich das, in meinem hellen Bewußtsein. „Eigenbrötler“, das wäre eine Figur für eines seiner Theaterstücke. Oder wenigstens ein Name, der eine Lücke schließt („die Lücke, die der Autor läßt“).

Traumwesen

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Ein bißchen schreiben, ein bißchen schlafen, tagsüber, das wäre ein Leben! Ich muß an Ricardo denken, Ricardo Piglia alias Emilio Renzi, der immer wieder in diese Strudel der Vorträge und Seminare, Rezensionen und Reportagen, Freunde, Feste und Frauengeschichten hineingezogen wurde und sich da immer wieder herausziehen mußte, um das schreiben zu können, was er schreiben wollte: Literatur, Erzählungen, Romane. So steht es in seinem Tagebuch, das ist der Rhythmus, dem er nachforschte, ohne seiner habhaft zu werden. Ruhige Zeiten, manchmal, früh aufstehen, vormittags schreiben, nachmittags Verlage, Bars, Freunde, der unerträgliche David Viñas, immer wieder ertragen, der herzrührende Manuel Puig, der es im Unterschied zu Ricardo verstand, sich auf seine Bücher und ihre Veröffentlichung – und Vermarktung – zu konzentrieren. Daß er tot ist, Ricardo, daß ich nie wieder seine kleinen verschmitzen Augen sehen werde… Der letzte Satz, den ich im Ohr behalten habe: ¡No te olvides de la ensalada de frutas!, einem Kellner im Café in der Nähe seiner Wohnung zugerufen. Dieses Netzwerk von Cafés, Restaurants und Bars, in Buenos Aires außerordentlich dicht, war für ihn lebenswichtig, was die Ernährung, den geistigen Austausch, die Geschäfte, den zwischenmenschlichen Umgang betraf.

Stille in der Wohnung, die Geräusche draußen werden spärlich, sie vereinzeln. Regen klopft, wird stärker, nimmt den Raum ein, den Hörraum. Zikaden und Vögel verstummen vor der größeren Macht. Vereinzelt rufen sie dazwischen, durch die Fugen und Spälte der Macht. Meine Tochter schläft, und ich gehe auf und ab, höre, lese, stehe reglos, schaue, sitze. Lege mich hin. Mi sdraio, noch ein Satz aus der tiefe der Zeit (weibliche Stimme).

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Patience 2.0

Gerade habe ich überlegt, daß ich vor wenigen Jahren in diesem Buch hier nicht ohne Befremden die Smartphone-Manie beschrieben habe. Inzwischen ist der Smartphonegebrauch im Sitzen und Stehen, Gehen und Fahren völlig normal, und zwar weltweit. Wie zur Bestätigung läßt sich in der U-Bahn mir gegenüber ein junger Typ mit dickrandiger Brille nieder, packt ein Smartphone und ein Tablet aus. Dann noch ein Smartphone und noch ein Tablet. Alle vier bedient er gleichzeitig mit einer gelassenen Frenesie, die inzwischen ebenfalls normal geworden ist, die alltägliche Ruhe im Sturm. Trägt ein schlichtes weißes T-Shirt mit der Aufschrift The Patience. Was diesem Stück hier, gäbe es im Buch Überschriften, als Überschrift dienen könnte.

Allzweckgeräte

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Und noch einmal der Blick von oben herab auf das Display, Bilder und Bilder, leichtfingrig fortgewischt, Ziffern darunter, vielleicht auch ein paar Buchstaben, Preise, virtuelles Kaufhaus, endlose Hallen, Nischen, Vitrinen, Pölsterchen, Podeste, darauf Stoffe, Tüchlein, Täschchen, traditionelle Dinge, Heian-Style. Das Handy vor dem Hintergrund eines weißen Kimono-Stoffs mit feinem, vielfältigem Muster, das leichte Schatten wirft, so daß sich das Weiß ein wenig verdunkelt, ins Beige spielt. Kontrast zum Hello-Kitty-Mädchen früher. Pop versus Tradition. Alt gegen Jung? Nein, Pop versus Tradition. (Es gibt genug Pop-Omas mit bunten Pyjamahosen und violetten Haaren.) Oder Mann versus Frau? Was schauen die Smartphoner so im Vergleich zu den Smartphonerinnen? Games, Kampfspiele, gar Pornographie? Geschicklichkeitsspiele mit Balken, Quadraten und Kugeln? Die Frauen bleiben bei ihrem kawaii, bei hübschen und sanften Dingen, die man shoppen kann, wenigstens theoretisch, virtuell. Idols? Jungs für Mädchen, Mädchen für Jungs. Geschicklichkeitsspiele mit Balken, Quadraten und Kugeln. Nein, ich kann keine Geschlechtsunterschiede im Smartphonegebrauch ausmachen. Es ist, als schauten alle alles und täten nichts anderes als schauen. In ihren Filterblasen, die im U-Bahnwaggon aufsteigen wie Luftblasen Seifenblasen Mangadenkblasen? Auf dem weiten Meer? Fragen für Algorithmen, was gehen sie dich an...

unifunktional & schwer

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Naruhoudo..., denke ich vor dem im Yasukuni-Schrein: Eh klar! Die Frau im weißen Kimono steht an der Theke eines Seitengebäudes und verkauft Andenken, Omikuji, abergläubisches Zeug. Das ist ihr Job, sie erledigt ihn so gewissenhaft wie alle Verkäufer in diesem gewissenhaften Land ihren Job erledigen. Oder ist das rot-weiße Schreinmädchen dort hinten, wo jetzt ein Trupp Marinesoldaten umherkurvt –Knabengesichter, habe ich vorhin gesehen –, die Kimonofrau aus der U-Bahn?

Vor zwölf oder dreizehn Jahren war ich das erste Mal hier, kurz nachdem ich in Hiroshima das dortige sogenannte Friedensmusem besucht hatte, das am sogenannten Ground Zero steht. Zwei Museen mit zwei gänzlich verschiedenen Grundhaltungen, beruhend auf unterschiedlichen Werten; Friedenssehnsucht versus Kriegergeist. Mit diesem Tenor hatte ich damals einen kleinen Bericht geschrieben, eine essayistisch schweifende Erzählung, die ich mit einer Anekdote über meinen japanischen Schwiegeronkel, den Drogenhändler, beschließe und die ich heute nicht anders schreiben würde (abgesehen vielleicht vom Titel „Drogenhändler“, nachdem man mich immer wieder beredet hat, Alkohol sei keine Droge).

Immer noch setzt es mich in ein entrüstetes Staunen, mit welcher Unverfrorenheit im Yushukan, dem Kriegsmuseum, all die kriegerischen Unternehmungen Japans im 20. Jahrhundert als großmütige antiimperialistische Gesten dargestellt werden. Das ist nämlich die erste und wichtigste Rechtfertigung: Japan war die stärkste Macht, die sich am entschiedensten gegen den Einfluß der westlichen Kolonialmächte stellte, um ihren asiatischen Brüdervölkern zu Hilfe zu kommen. Daß es auch einen östlichen Imperialismus gegeben haben könnte, dieser Gedanke darf im Yushukan nicht einmal in Keimform auftreten. (So nebenbei erfährt der Besucher, der Hauptgrund für den zweiten Weltkrieg sei der harsche Wiedergutmachungszwang nach dem ersten Weltkrieg gewesen: genau so hatten die Nazis argumentiert.) Beim chinesischen Boxeraufstand im Jahr 1900 werden die Attacken auf Ausländer noch als im antiimperialistische Akte begüßt, während die Feindschaft, die den Japanern in der Mandschurei zu Beginn der dreißiger entgegenschlug, als üble Ausländerfeindlichkeit bezeichnet und auf das Konto der Kommunisten geschrieben wird. Wo die Guten, wo die Bösen stehen, ist in diesem Museum vollkommen klar: Die Japaner sind immer die Guten. Auch das Massaker von Nanking 1937 wurde natürlich von Chinesen ausgelöst, und getötet wurden von der japanischen Armee lediglich als Zivilisten verkleidete chinesische Soldaten. Aber was hatten die Japaner überhaupt in China zu suchen? Die Frage wird nicht gestellt, aber im antiimperialistischen Kontext beantwortet sie sich von selbst.

Junge Krieger

Ich glaube, daß die vertrackten Kriegsspiele letzten Endes sehr einfach sind; ja, daß sie nicht über die Komplexität von Knabenstreitigkeiten hinausgehen. Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen. Wenn du mir was angetan hast, muß ich mich rächen... Die Kette reißt niemals ab. Am Ende der Chronologie, die das Museum bietet, steht eine Ausblick auf die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen nach dem zweiten Weltkrieg. Mahatma Gandhi wird dabei Seite an Seite mit Ho Chi Minh genannt. Da dürfen einmal sogar die Kommunisten im Heldenlicht erscheinen, die sonst an allem, was für die Japaner schiefgelaufen ist, schuld sind. Der „Antiimperialismus“ der Japaner richtete sich in der ersten Häläfte des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich gegen die Länder, die wir als „Westen“ zu bezeichnen gewohnt sind. Zu Konfrontationen kam es immer wieder auch mit Rußland. Dort, in den – von Mitteleuropa aus gesehen – kalten Weiten jenseits (oder eben diesseits) des Urals war für die Japaner genauswenig zu holen wie für die Japaner. Diese Einsicht hatte mein Grovater seinem Sohn, meinem Vater, vermacht: Gegen Rußland kann man keinen Krieg gewinnen. Er mußte es wissen, denn er war in Sibirien in Gefangenschaft, nach dem ersten Weltkrieg, und erreichte erst nach jahrelangem Fußmarsch die Heimat. Mein Vater hat mir die Botschaft in nochmals vereinfachter – und ebenso triftiger – Form weitergegeben: Krieg ist immer schlecht.

Das darf man im Yasukuni-Schrein nicht sagen, nicht einmal denken. Die Götter- und Heldenverehrung dort, sie regt mich nicht auf, ich finde sie sogar irgendwie rührend, wie den ganzen Ahnenkult in Japan, in jeder Familie. Was soll daran schlimm sein. Schlimm ist die Kriegsromantik, die das Museum vermittelt; eine Romantik, die mit der technologisch konditionierten Wirklichkeit unseres Jahrhunderts nichts mehr zu tun hat.

Kehrende

Ob den vielen Freiwilligen, die in den Alleen des Parks unter gewaltigen Bäumen jemals solche Gedanken durch den Kopf gehen? Ich glaube nicht. Zufällig, aufgrund der neugierigen Langsamkeit, die mein Rhythmus mir vorgibt, bin ich in eine Hundertschaft heimattreuer Bürger geraten, die fleißig Laub kehrten, verbissen und entspannt, entspannt und verbissen, beides zugleich. Sie blickten nicht auf und blickten doch auf – ich weiß, daß gerade die, die so tun, als würden sie vor lauter Arbeitseifer  nichts sehen, jede Einzelheit vermerken. Längst gibt es keine kriegerischen Kämpfe mehr zu kämpfen (wenn doch einmal, erledigen das die Maschinen). Statt dessen – man hat dem Vaterland zu dienen – Arbeitseinsätze und peinliche Sauberkeit, auch in der Natur.

綺麗 = schön & sauber

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Diese Zuweisungen, Einweisungen in wechselnde Schubladen, oder Kästchen, Wandkästchen wie in alten Apotheken, mal hier mal dort, habe ich nie zurückzuweisen verstanden. Ist auch egal, aber künftig wird man das nicht mehr mit mir machen können, weil ich gar nichts mehr bin, nichts Bestimmtes. Nur Schriftsteller, also die Unbestimmtheit, Unbestimmbarkeit in Person. Immer wieder neu zu bestimmen: gut, das könnt ihr ruhig machen, aber keine Einweisungen, Zuweisungen. Was ich nicht schon alles war! Publizist, Essayist, Politikaster, Sachverständiger für französische Philosophie, Literaturkritiker, Übersetzer (zähneknirschend), Professor, Feuilletonist (sogar ein guter), Nebenerwerbsgastwirt, reicher Erbe, Aussteiger... Nur nicht ich. Ich war ich nicht (für sie). Monden, der Roman, ist das vorläufige Endergebnis meiner Unzurechnungsfähigkeiten. Unzurechenbarkeiten. Unzurechenbar, das bin ich. Und doch auch, letztes Wort: unzurechnungsfähig.

Ich, zu Hause, unsauber

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Café Amati als Treffpunkt und Warteort in Shinjuku: pseudoitalienisch, aber was wäre nicht pseudo, Imitat, fake. Imitation oft besser als Original. Auch Eleganz pseudo? Puppenhaus, Pappwände, roter Plüsch, abgetretener Holzboden (scheinabgetreten) usw. Draußen der nie endende Strom der Passanten, von denen oft nur Abschnitte, Körperteile, in den Blick kommen, Beine oder Rumpf oder ausschwingende Arme. Auch in diesem Fluß kehrt niemals das Gleiche wieder, und selbst wenn, erscheint es nicht als das Gleiche, erscheint niemals eine Person, die man schon kennt oder zu kennen glaubt, und selbst wenn, wäre sie sogleich entschwunden. Dagegen die Aufzeichnungen Piglias aus den sechziger, siebziger Jahren, wo man in der auch nicht gerade kleinen Großstadt Buenos Aires auf die Straße gehen konnte, um zufällig Bekannte zu treffen, nicht nur in bestimmten Lokalen, sondern auch auf der Straße, in Kinos, in Theatern. Piglia blieb niemals allein, wollte es auch nicht wirklich. Er behauptete, um seine Schriftstellereinsamkeit zu ringen, tat es jedoch ohne Konsequenz. Nicht mit der Konsequenz eines Franz Kafka. Aber wer tut das schon, außer Kafka.

Eleganz, spezifisch japanische. Unterschied zu den Chinesen, die es nie schaffen werden, elegant zu sein, jedenfalls nicht in der Masse. Japaner dagegen: massenhaft elegant. Ich erinnere mich an Okinawa, wo wir im zweiten Stock (nach europäischer Zählung) über dem großen Fisch- und Gemüsemarkt in Naha saßen und in einem der vielen in der Halle versammelten, kaum voneinander getrennten Restaurants saßen und mitten im Lärm und Chaos – die Leute von Okinawa gleichen da eher den Chinesen, oder Taiwanesen – ein weibliches Paar, vermutlich Mutter und Tochter, aus Tokyo: weißhäutig, still, ab und zu flüsternd, die Arme an den Körper gedrückt, die Stäbchen sorgsam zum Mund führend, die Hand unters Kinn haltend, falls etwas bröseln sollte... Leben versus Erstarrung, die Urszene. Tourismus, eine Variante davon: im Leben baden, sich davon wie ein Fels umspülen lassen. Muß angenehm sein, oder? Wenn man ausreichend Vorkehrungen gegen eventuelle Unannehmlichkeiten getroffen hat.

Eleganz und Einsamkeit

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Was tun an einem heißen Sommertag? In Wien wäre die Antwort: Auf ins Freibad! Hinaus ins Krapfenwaldl oder zum Gänsehäufel! Hier nicht, man will sich auf keinen Fall exponieren. Wer nicht zu Hause bleibt, geht ins Kaufhaus, weil es dort kühl ist. Itoya, 12. Stock: Baulücken tief unten, rührige Bagger: Wird das über mich hinauswachsen? Ginza war einmal interessant, das alte Einkaufsviertel, schon vor dem Erdbeben 1923, das die meisten, europäisch gestylten Gebäude zerstörte. Jetzt die schwarzen oder dunkelbraunen Glaskästen am Horizont, in die man nicht hineinsehen kann. Düstere, glänzende Ungeheuer. Unten die schwarzen oder grauen Geländefahrzeuge mit dunkel getönten Scheiben, die meiner Frau eine Zeitlang solche Angst machten. Mit Recht?

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Stadterneuerung

Ich habe mir vorgenommen, die Gelegenheit diesmal nicht verstreichen zu lassen und in der Bar, die den Stafettenstab vom Showa-ten übernommen hat, nach Yoshiuki zu fragen. Vielleicht kann ich doch noch eine Spur von ihm finden. Im Internet nichts, keine Visitenkarte in den Tiefen der Schubladen zu Hause (der Asahi-Shinbun-Typ hatte mir eine gegeben). Wie groß war mein Erschrecken, als ich vor das kleine Bahnhofsgebäude von Musashikoyama trat, auf eine riesiges Baustellentor stieß und die Bars und Kneipen daneben geschlossen fand – alle, ausnahmslos, die Rolläden heruntergelassen. Eine Weile streifte ich in der Gegend herum, weil ich nicht gleich begriff, was los war, und hoffte, irgendeine kleine, pragmatische Erklärung zu finden. Vielleicht würde sich der eine oder andere Rolleaden ja noch heben, vielleicht war ich zu früh gekommen... Aber nein, es dämmerte schon, die Dämmerung wich der Nacht und der Vormacht des künstlichen Lichts.

Zu spät, wieder einmal. All die kleinen Läden und Lokale würden binnen Jahresfrist abgerissen sein, vielleicht noch im Lauf dieses Sommers. Weite Teile des Areals waren schon beseitigt, dem Erdboden gleichgemacht, hinter lückenlosen, fast spaltlosen Baustellenwänden wurde in den Tiefen der Erde gescharrt. Ich ging um das Loch herum, sah da und dort noch ein Restaurant, ein Izakaya in Betrieb, manche würden sich vielleicht retten, würden die Umwälzung überstehen, sich größer werden, vom künftigen Aufschwung profitieren, ihr Publikum erweitern... Genau wie in Momo, im Film, wo Mario Adorf, der sympathisch träge Wirt, der früher, in den Filmen meiner Jugend, immer finstere Bösewichte gespielt hatte, der im Zuge der rasenden Umstrukturierung des verschlafenen Dörfchens am Rande der Großstadt zum Fast-Food-Manager wird, der für seine alten Freunde keine Zeit und keinen Platz mehr haben darf. 2019 soll die Stadterneuerung von Musashikoyama abgeschlossen sein, und in Tokyo kann man Gift darauf nehmen, daß die Lemuren die strengen Zeitpläne einhalten. Türme, die in den Himmel wachsen, mehrstöckiges Shopping-Center statt Shotengai, elegante, begrünte Plätze: wahrscheinlich wird mir das sogar gefallen, wie mir Ebisu oder Musashikosugi und sogar Roppongi-Hills gefallen.

Geschichte I

So findet meine persönliche Showa-Geschichte doch noch einen Abschluß, ein natürliches und urbanes, rasches, aber nicht abruptes Ende, wo Abriß und Erneuerung den Grundrhythmus abgeben. Beschleunigung durch neue Technologien, aber letztlich wie im alten Japan, wo man nicht für die Ewigkeit baute wie in Europa – all die Burgen und Kathedralen, Palazzi und Festungen: unvorstellbar, daß sie jemals verschwinden. In gewisser Weise liegt die japanische Ewigkeit in der Erneuerung selbst, die, früher zumindest, auf Wiederholung abzielte, nicht auf Veränderung. Ewige Wiederholung des Gleichen, diese Maxime brauchte man hierzulande nicht erst philosophisch zu begründen. Allerdings wird dieses Prinzip bei Großprojekten heute nicht mehr befolgt, und man kann sich schwer vorstellen, daß fünfzigstöckige Türme in zwei Jahrzehnten schon wieder abgerissen werden.

Ich dilettiere… Das alles geht mich nichts an, ich bin kein Stadtplaner, nur ein Flaneur aus der Provinz wie die Schmetterlinge, die sich in die Häuserschluchten verirren, und ein Schreiber, der das Flüchtige und Fahrige, das Durcheinander und die Veränderung festhalten will. Auch das Verschwindende, vom Aussterben Bedrohte, dem Tod Ausgelieferte. Wie viele Orte – und Menschen – leben nur noch in meinen Büchern! Zum Beispiel das Show-ten. Und seine Insassen. Keiko, wer weiß, ob sie noch lebt. Womöglich hat sie sich zu Tode gesoffen wie ihr Vorbild. Paradox, daß mein Festhalten den Tod bringt, den es überwinden möchte, denn Aufschreiben, In-Worte-Fassen, das bedeutet Erstarrung, Ende, Ewigkeit. Aber dieser Tod durch Worte schafft ein anderes Leben, über die Abriß- und Ersetzungsvorgänge hinaus. Im Grunde nicht anders als die christliche Dialektik. Imitatio Christi… Ich sterbe: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Bye-bye, Gun-chan, bye-bye, Yoshiyuki, bye-bye, Keiko-san.

Geschichte II-III

Ob es schöner wird? Ich meine den Ort hier, Musashikoyama. Vielleicht habt ihr euch längst verzogen, ihr drei. Ich aber, in dieser gespenstischen, von einem letzten roten Himmelsstreifen verzierten Nacht, empfinde eine tiefe Trauer, als wohnte ich einem Ableben bei. „Ableben“, das ist das Wort. Was danach kommt, ist nicht Erneuerung, sondern ein schwarzer Stein, der alles ausfüllt. Er schwebt vom schwarzen, meinetwegen durch Baustellenflutlicht erhellten Himmel herab, legt sich in die von den Baggern gegrabene Mulde, füllt noch die Umgebung, das Stadtviertel und schließlich die ganze Stadt aus.

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