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Kritik

Damals ging ja die Welt noch nicht unter, sie ging auf!

Angela Winklers autobiografische Skizzen »Mein blaues Zimmer« als Manifest eines flüchtigen Jetzt
Hamburg

 

»Der Text,
das ist die Hülle, die Schalen der Zwiebel,

man schält sie und schält und findet keinen Kern.«

Text, Zwiebel, Schale. Dinge, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, sich scheinbar gegenüberstehen, den alten Diskurs von Kunst und Natur weiterfortschreiben; eine Ausformulierung der Frage, wie viel Natur im künstlerischen Prozess noch steckt oder wie sehr sich die Natur die Kunst aneignet. Könnte man meinen. Aber genau so ist es nicht, zumindest nicht in den autobiografischen Skizzen, die Angela Winkler 2019 mit Brigitte Landes veröffentlicht hat.

Ein Text, der wenig mit einer Zwiebel gemein hat, den man nicht schälen muss. Ein Text, der vielmehr offen und neugierig auf seine Lesenden wartet, die Rezipienten als Adressaten unverhohlen in den Erzählprozess mit einflicht, der nicht auf einen einzelnen Kern hinarbeitet, sondern von den Schalen erzählt, vom sich Offenbaren, sich Entblößen in einem Land, das gerade mit seiner Nachkriegsgeschichte und Aufbruch beschäftigt ist, Theater und Film sich neu verorten müssen.

Ein Text auch, der einen unvermittelt mitnimmt. Ins Berlin dieser Tage. Anfänglich. Um dann in Angela Winklers Biografie abzutauchen, blitzlichtartig, um von Mutter, von ihrem Vater zu erzählen, um dann zu den ersten Theater- oder Filmarbeiten zu wechseln, Jagdszenen aus Niederbayern etwa, weiter blitzlichtartig, die ersten bekannten Namen auftauchen lässt, Peter Stein, Klaus Michael Grüber, ein illustres Wiederentdecken der Theater- und Filmszene ab Ende der 60er Jahre. Ein vermeintlich leichter Ton beherrscht die Szenerie, durchsetzt von substanziellen Einsprengseln, die einen erahnen lassen, welche Bedeutung das Theater für Angela Winkler von Anbeginn hat:

»Auf der Bühne kann man alles. Ich bin jedes Mal selbst überrascht. Vielleicht könnte ich einen Handstandüberschlag oder einfach einen Kopfstand, den ich nie konnte.«

Verstärkt durch Angela Winklers unprätentiöse Art, die vielen Schwierigkeiten, Herausforderungen ihrer Schauspielarbeit zu erzählen – angefangen von der Arbeit mit dem Text, dem langwierigen Sich-Annähern, den vielen Versuchen, sich eine andere Person begreifbar, erspielbar zu machen; darin auch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Regisseure, egal ob Peter Zadek oder Simon Stone. Mosaikähnlich setzt Angela Winkler Erinnerungen, sprachlich eindrucksvolle Tagebuchaufzeichnungen und Bildmaterial zu ihrer subjektiven Theatergeschichte zusammen, die lautlos von ihrem eigenen Ton getragen wird, immer wieder auch von ihrem Rückzugsort der Natur erzählt. Manche Passagen gewinnen umso mehr, als die Tagebuchaufzeichnungen mehr Unmittelbarkeit, Assoziatives an den Tag legen, einen direkt ins Geschehen mitnehmen, auf die Bühne, zur nächsten Figur, zur nächsten Geburt, ins nächste Land. Und immer wieder das Theater als Anker:

»Jedes Aufbäumen, jeder Irrwahn, alle Freude sind in diesem begrenzten Ort enthalten. Darum spiele ich so gerne Theater. Wegen dieser punktgenauen Konzentration. Wenn ich ein Stück lese, passiert es, dass an bestimmten Stellen meine Gedanken abschweifen. Sie füllen sich mit ganz persönlichem Erleben und mit Bildern, die mich beschäftigen. Bei einem guten Stück passiert das immer an denselben Stellen. Ich sitze da und komme nicht weiter, weil ich in einer Welt des Erinnerns bin.«

Eine eingängige Welt des Erinnerns und des Vergegenwärtigens ist dieses Buch; eine Reise durch die Geschichte des Theaters, das Sichtbarmachen eines Körpers, einer Stimme (»Woher hole ich den Ausdruck in der Stimme, im Körper?«), zahlreiche Begegnungen mit Figuren, die Angela Winkler auf ihre ganz eigene Art und Weise in den letzten Jahrzehnten verkörpert, sie teilweise auch geprägt hat. Katharina Blum. Iphigenie. Else Lasker-Schüler. Hamlet. Und vielleicht ist die Hamlet-Erinnerung einer der schönsten, unterhaltsamsten dieses blauen Zimmers, in dem die Eigenheiten einer Angela Winkler auf die Erwartungen des Publikums treffen:

»Da habe ich als Hamlet auf dieser Bühne gestanden: als kleiner Mensch, so wie es Zadek wollte, verloren auf der großen Bühne. Aus dem Publikum rief jemand bei dem berühmten Sein-oder-Nichtsein-Monolog: ›LAUTER!‹ Ich sagte: ›Sie kennen das doch alle«, und habe weitergespielt. Am Ende des Monologs fragte ich das Publikum: ›Haben Sie mich verstanden?‹

Und ja, man versteht Angela Winkler durchweg, hört ihr gern zu, liest sich in ihre Gedanken, Notate und Erinnerungen ein: Ihre Beweggründe, die Leidenschaft, das Hadern als Schauspielerin, aber auch als Mutter, man nimmt ihr alles ab, wünschte sich vielleicht hier und da diese Skizzen in ihrer Stimme zu hören, wie sie dann klingen, in welchen Hallraum sie führen würden, etwa Irinas Sätze aus Drei Schwestern, die auch das Ende dieser leichtfüßigen Skizzen markieren:

»Irgendwann werden wir verschwinden. Man wird uns vergessen, unsere Gesichter, unsere Stimmen. Keiner wird mehr wissen, wer wir waren. Aber unser Leben ist noch nicht zu Ende. Wir werden weitermachen. Immer weiter.«

Angela Winkler
Mein blaues Zimmer / Autobiographische Skizzen
Kiepenheuer & Witsch
2019 · 240 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-462-04823-0

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