Anzeige
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
x
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

„Trotzdem will ich jetzt wieder öfter an früher denken.“

Hamburg

Wo beginnen? Wo in dieser Bilderfülle einen Anfang machen? Wie die Essenz dieser Geschichte, die so stark von ihren Bildern und den kleinen Akzenten darin lebt, wörtlich hinterfragen?

Barbara Yelin, die einfühlsame Zeichnerin dieses Buches, ist als Comic-Autorin keine Unbekannte. Mit ihrer Geschichte „Irmina“ hat sie sich längst unter die besten Illustrator*innen gezeichnet und wurde mit Preisen gekürt. In „Der Sommer ihres Lebens“ arbeitet sie erstmals mit dem Schriftsteller Thomas von Steinaecker (Die Verteidigung des Paradieses etc.) zusammen. Die gemalte Story, die nun als Buch im Format einer Graphic Novel vorliegt, war geplant als Fortsetzungs-Bildergeschichte zunächst für eine Zeitung, wurde dann aber auf der Seite Einhundertvierzehn des S. Fischer Verlags veröffentlicht. Dort kann man auch Ergänzungen der Autoren zur Entstehungsgeschichte lesen.

Die beiden Autoren haben die Geschichte für das Format Buch überarbeitet und erweitert. Es geht um die essentiellen großen Fragen: Wie bewege ich mich in der Welt? Was ist Lebensglück? Was Liebesglück? Wie wirke ich als Frau? Wie wichtig ist Beruf als Berufung? Was bedeutet das alles? Was ist der Sinn? In 15 Episoden kann gelesen und betrachtet werden, was denn ein Leben ausmacht. In diesem ganz speziellen Fall ist es das Leben von Gerda Wendt, geboren in den 50er Jahren, die aus ihrem Platz im Altenheim heraus in die Vergangenheit zurückdenkt. An die großen und kleinen wichtigen Momente und manchmal auch an das „Was wäre gewesen, wenn …?

„Oft denke ich, ich bin bereits tot. Und das hier ist die Ewigkeit.“

Sie tut das, um das Leben noch zu spüren. Denn das Tageseinerlei im Heim, scheint kein Leben mehr zu sein. Vielleicht aber ein Wandelgang des Erinnerns.

„Früher … raste die Zeit. Erinnere ich mich daran … sticht es.“

Das Damals ist also das, was noch zu spüren ist. Das Damals wird zum Lebenshelfer. Und dieses Stechen spürt auch der Betrachter.

Und wie gelungen ist es Yelin eben diese Rückblicke, die ja im Erinnern auch als Bilder aufscheinen, als gemalte Geschichte aufs Papier zu bringen! Die Zeichnerin übersetzt das Entsinnte aus dem Kopf von Gerda über den Weg der Farbe und Form in unsere Köpfe hinein. Der Leser ist hier nicht nur Leser, sondern auch Betrachter, Aufarbeiter und Interpret. Ohne Gefühle wird es dabei nicht gehen. Ohne eigene Erinnerungen. Diese Geschichte erreicht den Leser wahrhaft persönlich.

Auf der allerersten Seite, die man leicht überblättern könnte, singt eine einzelne Amsel. Solch kleine beinahe unscheinbare Details baut Yelin ein, die jedoch immer auch eine weiterführende Rolle spielen. Dann kommt die erste Begegnung mit Gerda, die mit ihrem Rollator ihr Zimmer sucht. Sie irrt durch die Gänge und Stockwerke des Heims und überlegt: Flur Zwei? Flur Eins? Und schon kommt ein Switch in die Schulzeit von Gerda: Sie hat eine Eins in Mathematik, nicht zum ersten Mal und das als Mädchen! Yelin schafft innerhalb der Bilder einen direkten Übergang vom Jetzt ins Damals, von Alt nach Jung. Das ist ein starkes Mittel zur Verdeutlichung der inneren Erlebnisse Gerdas. Es geht weiter mit dem Vater, der Gerda für die Note Eins lobt: „Willst wohl Einstein heiraten?“ Doch Gerda hält Einstein natürlich für viel zu alt. Und schon sind wir, im gleichen Bild, wieder im Altenheim und der Blick fällt auf die betagte Gerda. So geht es weiter mit Gerdas über den Rollator gebeugten Körper – Switch: Gerda durch den schweren Schulranzen gebeugt gehend auf dem Weg zur Schule: Gerda ist als Schülerin durch ihre Begabung eine Außenseiterin. Sie lebt in der Welt der Bücher und der Wissenschaften. Sie möchte dazu gehören, doch sie bleibt unsichtbar. Etwas, was im Alter wiederkehrt.

Der Vater hat in der Tochter das Interesse am Sternenhimmel geweckt. Doch Gerda möchte nicht nur schauen, sondern auch wissen und verstehen. Sie wählt den Weg der Wissenschaftlerin. Sie wird Astrophysikerin und geht komplett auf in ihren Studien und Forschungen. Dieser Weg ist steinig, nicht weil Gerda nicht brillant wäre, sondern weil Gerda eine Frau ist. Der Text Thomas von Steinaeckers weiß das deutlich zu machen. Auch Yelin zeigt es im ganzseitigen Bild der verzweigten Treppenaufgänge von M.C. Escher`schem Format, durch die sie ihr Chef führt, der ihr Potenzial erkennt, ihr Wissen aber für sich auszunutzen gedenkt, vom Verdienst ganz zu schweigen. Und Gerda arbeitet hart, sie bleibt Einzelgängerin, bis sie eines Tages einem Mann begegnet und echte Zuneigung erfährt – die Liebe: eine andere, neue Welt. Yelin verdeutlicht diese Schwerelosigkeit gekonnt mit lichten Wasser-Farben. Und von Steinaecker findet die Worte:

„Im Sommer des Jahres 1973 … waren alle Gesetze außer Kraft gesetzt. Und ich verstand, dass sich unter Umständen … sogar auf der Erde die Anziehungskraft … in Schwerelosigkeit verwandeln kann.“

Für ihr berufliches Weiterkommen wäre es förderlich als Wissenschaftlerin nach England zu gehen, doch es kommt, was kommen muss: Gerda entscheidet sich gegen die Karriere für die Liebe, für eine Familie. Doch die Ehe scheitert. Gerda beginnt wieder zu lernen, kann wieder in ihren Beruf zurückkehren: „Ich fühlte mich so glücklich, wie schon lange nicht mehr.“

Yelin gelingen stimmige Skizzen, passende Farbtöne. Mit Gouache und Tusche arbeitet sie von Preussischblau bis Türkis für die melancholische Grundstimmung der gesamten Geschichte und dazwischen von Apricot bis Ocker, oft durchmischt mit weißen Lichtstreifen. Ganzseitige Bilder wechseln mit den typischen Comic-Kästchen ab und verstärken die Erzählwirkung. Thomas von Steinaecker füllt die Sprechblasen mit den aktuellen Dialogen und überschreibt die Kästchen mit Gerdas Gedanken.

„Von den etwa hundertzwölf Milliarden menschlichen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Planeten … seit Anbeginn der Zeit … werde ich ...eine … gewesen … sein.“

Dazwischen, immer am Anfang eines Kapitels finden sich wiederholt Bilder, die die Routine im Heim aufzeigen und den Alterungsprozess Gerdas verdeutlichen: Die alltägliche Waschung durch die Pflegerin wird immer schwieriger, durch die zunehmend weniger bewegliche Gerda, die sich schließlich nur noch im Rollstuhl sitzend fortbewegen kann. Doch immer gibt es auch Lichtblicke, wie die Begegnung mit dem dementen alten Mann, die in eine beiderseitige Zuneigung mündet. Wie in einer Wiederholung – damals Vater und Gerda – stehen nun die beiden betagten Schlaflosen nachts am Fenster des Heimzimmers und vertiefen sich in Betrachtungen des nächtlichen Sternenhimmels. Und diesmal erklärt Gerda.

Es ist keine leidvolle Geschichte, sondern eine versöhnliche, die auch darauf hinweisen könnte, dass nach dem Tod nicht alles vorbei ist, dass die Seele womöglich unsterblich ist. Im Abspann am Ende des Buches wird sich Gerda als kleines Mädchen von der Familie verabschieden und ihren eigenen Weg Richtung Berufung gehen. Und der einzelne rufende Vogel schließt sich am Schluss einem Schwarm an.

 

Barbara Yelin · Thomas von Steinaecker
Der Sommer ihres Lebens
Reprodukt
2017 · 80 Seiten · 29,00 Euro
ISBN:
978-3-95640-135-0

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge