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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

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Hamburg

Die 1972 geborene Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy ist in wenigen Jahren zu einer auch in der breiteren Öffentlichkeit bekannten Expertin für Provenienzforschung geworden. Den Begriff Provenienz, Herkunft, zählt der „Kluge“, [Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache von 1999 (S. 652)] zum „peripheren Wortschatz“, was sich gut mit dem teilweise bis heute anhaltenden Beschweigen kolonialer und nationalsozialistischer Raubzüge zur Beschaffung von Kulturgut für deutsche Museen verträgt. So provozierte Frau Savoy die Museumswelt mit der Aussage, das Humboldt-Forum in Berlin sei in Sachen Provenienzforschung ein Tschernobyl, die Herkunftsgeschichten würden mit einem Bleideckel abgeschirmt.

Die Zustände haben sich seit einem Jahrzehnt allerdings doch unübersehbar geändert, auch durch spektakuläre Geschehnisse wie z. B. durch das Wiederauftauchen der Sammlung Gurlitt. Es geht der Autorin gar nicht an erster Stelle um die Restitution von Kunst an ihre Herkunftsorte bzw. früheren Eigentümer, sondern zunächst um die Forderung, dass die kulturhistorischen Gegebenheiten des Erwerbs von Museumsobjekten zur Identität des Gegenstands gehören, also erforscht und dokumentiert werden sollten. Frau Savoy spricht in ihrer Antrittsrede nach der Berufung an das Collège de France, die Matthes & Seitz in einer sorgfältig herausgegebenen und flüssig übersetzten Broschur von 66 S. publizierte, von einer „Innenschau“ bezüglich der Sammlungsgegenstände, die ihnen mit Respekt begegnet und, es mag ein wenig spirituell angehaucht anmuten, sie zu Subjekten erhöht, da ihre Existenz in der Regel die unsere überschreiten wird, und die Schönheit eines attischen Standbildes oder eines Tuschebildes der Míng-Dynastie unsterblich ist, zumindest im Verhältnis zur menschlichen Zivilisation auf dem Planeten.

Die Erwerbsbedingungen (der) Kunstwerke und Objekte aufzuklären und offenzulegen, muss zum Standard jedes einzelnen Museums werden. (S. 56).

Um zu vermeiden, dass die materiellen Zitate aus anderen, z. T. untergegangenen, Kulturen nur als exotistischer Reiz wahrgenommen werden, ist, so verlangt die Wissenschaftlerin,

mit Menschen aus all den Regionen der Welt, aus denen Objekte zu uns gelangten, über die Zukunft unserer, d. h. auch ihrer Sammlungen zu sprechen. (…) Wir haben viel zu lernen von denen, die uns bereichert haben.

Ich habe in meinem Museumsvolontariat in den 1980er Jahren erlebt, dass einer Holzfigur des im Meditationssitz dargestellten Buddhas der mongolischen Yuán-Dynastie in China, 1279-1644, der Rücken geöffnet wurde, um die Weihegaben (kleine Edelsteine und Sätze aus Sutrās), zu entnehmen, die aus einem Holzobjekt erst ein spirituell belebtes Wesen machten. Ich wüsste gern, was ein buddhistischer Fachmann für sakrale Plastik aus China heute zu diesem wenig empathischen, kühlen, positivistischen Vorgehen sagen würde.

Dazu wären

neue Formen von Partnerschaften; flexible, an die Realitäten unterschiedlicher Regionen angepasste Ausstellungsmodelle

und ja, dann auch

glückliche und einvernehmliche Restitutionen( S. 58)

notwendig. Heute ist wieder vonnöten, mit Frau Savoy daran zu erinnern, dass „nationale Identitäten“ nicht als „uniforme und abgeschlossene Kategorien“ zu verstehen sind, sondern

„ein Ergebnis grenzübergreifender Verflechtungen häufig weit auseinanderliegender kultureller Räume zu begreifen (sind) “ (S. 18)

Wissen wir wirklich genau, woher in Pablo Picassos Pariser Atelier die afrikanischen Masken stammten, welche japanischen Holzschnittmeister die Vorlagen des französischen Japonisme lieferten? Ist es allgemein bekannt, dass in der Architektur der gotischen Kathedrale Details wie Fensterrosetten auf hocharabische Muster zurückgehen?

Der kleine Band ist eine höchst anregende und zeitgemäße Lektüre.

Bénédicte Savoy
Die Provenienz der Kultur / Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe
Übersetzung: Hanns Zischler, Philippa Sissis
Matthes & Seitz
2018 · 72 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-568-5

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