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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Jedem Dorf sein Underground

Hamburg

Seit der Punk Ende der Siebzigerjahre starb, lebt er als Untoter weiter. In den Köpfen der Menschen, die damals dabei waren, jung genug, um zu verstehen, was von England aus hochkochte, überging und sich ausbreitete wie der zerfetzte Sound aus Verstärkertürmen in abgefuckten Hinterhofkneipen. Auf einmal waren Uncoole cool und die Abweichung interessant, „weil die Vorstellung von einer Norm abgeschafft wurde, sodass alles faszinierend war und jeder gescheiterte Versuch ein Durchbruch war, und jede Enttäuschung eine Preisverleihung im Himmel.“ So bringt es der schottische Autor und Musiker David Keenan in seinem Debütroman „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“ auf den Punkt.

Über Punk ist freilich schon viel gesagt und noch mehr geschrieben worden, wenn auch noch nicht von allen. Keenan, der seit den Neunzigern für das britische Musikmagazin The Wire schreibt und sich im englischen Underground prächtig auskennt, hat deshalb gut daran getan, keine Geschichte über den Punk, sondern eine aus der Geschichte des Punks heraus zu erzählen – durch fiktive Personen, die sich in einer fiktiven Szene bewegen und eine fiktiven Band feiern, von der wir, wenn überhaupt, nur vage Andeutungen erfahren. Schließlich geht es im Buch weniger um deren Musik, als um das Gefühl, das sie vermittelte.

Das östlich von Glasgow gelegene Airdrie ist Schauplatz für diesen verrotzten Vorstadt-Underground der Achtzigerjahre – ein „Drecksnest“, in dem „einige der großartigsten Musiker, die herzzerreißendsten Sänger, die größten Säufer, die schlampigsten Arbeiter, die laschesten Lehrer, die engagiertesten Intellektuellen, die eigentümlichsten Amateure, und natürlich die größten Versager“ ein Zuhause fanden. Ein idealer Nährboden für eine Undergroundkultur mit einer alles zersägenden Wahnsinns-Band, die Keenan Memorial Device tauft. Sie war, wenn man den über 26 Stimmen, die im Buch zu Wort kommen, glaubt, sogar besser als Eno & Fripp oder La Monte Young oder die ganzen experimentellen Krautrockbands aus Deutschland, die mit Karacho über die Autobahn in eine neue Zukunft fuhr’n, fuhr’n, fuhr’n.

Memorial Device, das Erinnerungsgerät. Eine Band, die es nie gab und doch hätte geben können. Damals. In einem anderen Dorf, in einer anderen Stadt. Oder eben in Airdrie, einer typischen Kleinstadt irgendwo im Nirgendwo der schottischen Lowlands, verregnet, kühl, düster und in seiner auffressenden Langeweile kein bisschen schön. David Keenan erzählt die Geschichte einer Bewegung, die sich Anfang der 1980er Jahre zu entwickeln begann, von Musik zusammengehalten und durch das unvermeidbare Erwachsenwerden, dem Tod, oder beides aufgefressen wurde. Keenan gibt den einzelnen Personen eine Stimme, lässt sie erzählen, von ihrem Leben und den Geschehnissen, die sie damals erlebt haben. Mit der distanzierten Reflexion von 30 verflogenen Jahren, anhand von Interviews, Telefongesprächen, Briefen und verschiedenen Nacherzählungen, die durch kurze Geschichten ein größeres Ganzes erfinden, ohne in romantisierende Nostalgieschübe zu verfallen.

Es ist eine Geschichte aus zusammengetragenen Einzelteilen. Mehr noch, als die Personen, die sich mit dieser Szene identifizieren, sie am Körper tragen oder unter der Haut verewigt haben. Auch deshalb braucht es Zeit, oder gute 70 Seiten, um die Mechanismen, die geheimen Codes und den Insiderjargon zu verstehen, bis man sich überhaupt als außenstehende*r Beobachter*in dieser Szene bezeichnen kann; bis man akzeptiert ist unter Gleichgesinnten oder jenen, die so tun als ob;  bis man weiß, dass man die unterschiedlichen Blickwinkel braucht, die verworrenen Abbiegungen und Kreuzungen, um etwas von diesem Spirit von damals aufsaugen zu können. David Keenans Roman zerstreut sich wie ein 1000-teiliges Puzzle, das sich erst nach und nach wieder zusammensetzen lässt. Zuerst an den Rändern, später in der Mitte.

Dabei kommen verlorene Seelen zu Wort. Eigenartige Persönlichkeiten wie der psychisch labile Sänger von Memorial Device, der in einem Wohnwagen lebt und Vulkane baut. Menschen wie Ross, der Journalist und Autor des einzigen Fanzines über die Undergroundkultur von Airdrie, indem er die Leute dazu antreibt, auszusteigen und hinaus in die Welt zu gehen, obwohl er selbst zu Hause bei seiner Mutter wohnt. Außenstehende wie ein abtrünniger Attentäter der Irisch-Republikanischen Armee oder der Filmrequisiten sammelnde Vinylnerd, der sich einen Atombunker kauft, um dort zeittötendes Gras anzubauen. Sie alle, die Gestrandeten, die eingebildeten Wichser, autonomen Träumer und gescheiterten Pornostars, geben dieser einen Szene zu diesem einen Zeitpunkt ein von Alkohol- und Drogeneskapaden gezeichnetes Gesicht und lassen das Buch eben nicht wie eine Ansammlung von individuellen Kurzgeschichten aus einer längst vergangen Zeit wirken, sondern vielmehr wie ein verrostetes Getriebe der Gegenwart, dessen Zahnräder sich langsam, aber merklich ineinanderfügen – und Memorial Device als Innerstes freilegen.

„Damals befanden wir uns am Umkehrpunkt zwischen Angst und Ansporn. Was für ein Gefühl. Ich wünschte, die Erwachsenenwelt wäre immer noch Angst einflößend und unbekannt. Aber jetzt kann ich mich nicht mehr erinnern, was absurd ist, deshalb kann ich auch nicht wissen, ob es wahr wurde, was vielleicht auch besser so ist“,

sagt eine der Personen rückblickend und fasst damit ein Gefühl zusammen, das Keenan durch die 284 Seiten und 26 Kapitel dieses Buchs geistern lässt. Ein Gefühl eines Ausblicks auf eine Zukunft, die noch nicht verstellt war. Auf eine Zukunft, in der Dinge möglich waren – auch wenn sie niemals eintreten sollten.

Damals glaubten alle in Airdrie, die Tür zum Leben stehe ihnen offen. Heute, über 30 Jahre später, ist die beschissene Tür für die meisten nicht einmal mehr da. Die Vorstellung, dass alles irgendwann besser sein könnte, scheint sich in der nasskühlen Luft der Lowlands aufgelöst zu haben. Verschwunden oder tot, sowie ein paar von den damaligen Wegbereiter*innen. Die Übriggebliebenen verbindet letztlich eine Geschichte, in der sich zwischen Sex- und Drogenerfahrungen unvermeidbar existenzielle Fragen einmischen. Früher war vielleicht nicht alles besser. Heute aber auch nicht.

David Keenan
Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird
Aus dem Englischen von Conny Lösch
liebeskind
2019 · 336 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-95438-099-2

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