»sonne geschlossener wimpern mond«
Ich stehe auf der Startlinie, alles bereit, Oberkörper nach vorne gebeugt, alles Gewicht auf ein Bein verlagert, Vorwissen ist aktiviert, sozialer Anspruch vorhanden ‒ und dann bleibt der Startpfiff aus. Es ist nicht leicht, dieses Schweben, Dazwischensein auszuhalten, dieses Aussetzen von erwarteter Anspannung. Ich würde sagen, es ist körperlich unangenehm, am Anfang, und dann lese ich doch weiter und gewöhne ich mich daran, beruhige mich.
Es sind langsame, bedächtige Texte, kurz, extrem kurz, fein und irritierend, irgendwo zwischen Delphi und Oberkleveez verortet. Wo nun genau, ist nicht klar, ich hadere mit Philolaos, Parmedines und Melissos, und nehme sie dennoch an, weil mir die Zusammenhänge, die Bilder vertraut erscheinen. Die Orientierungslosigkeit wird zu einem angenehmen, da unverbindlichen Zustand, Bewegungen finden im Kreis statt, mit Rechenkunst kommt man nicht weit (eines wenn eines / dazukommt ist nichts), etwas passiert aus dem Nichts, endet im Nichts, ist ein Nichts. Die Welt ist immer noch flach, die Mutter ein Maulwurf.
b
selbst bei geschlossenen lippen ein
schmaler spalt im geviert ein
handgriff von außen nach
innen ein
zimmer das einer mit sich schleppt
Ich denke an Tarkowskijs Filme, die erstarrte Kamera zeigt eine Pfütze, Blätter, Muster, Schlamm, Farbverläufe, ich habe mir die Pfütze genau angesehen, habe mich auf die Merkwürdigkeiten des Regisseurs eingelassen, wann es geht es nun weiter, gab es da was zum Weitergehen, die Pfütze bleibt, ein Blatt bewegt sich ein bisschen, das Wasser bewegt sich ein bisschen, und Stille. Wann kommt ein Bruch, wann wird die Stille aufgehoben, was passiert jetzt ‒ aber es passiert nichts. Und wenn ich die Geduld verloren habe, zucke, seufze, genervt bin, ja, das ist Tarkowskij, das ist so halt, dann, ab einem Moment, beginne ich es zu verstehen ‒ eine Pfütze, das ist also eine Pfütze, so ist sie also, so sehe ich sie mir an, ich sehe sie mir zum ersten Mal im Leben an, wie das Blatt sich ein bisschen auf dem Wasser bewegt, wie das Wasser die Bewegungen nachahmt. Die Pfütze erfüllt vielleicht einen Zweck, man könnte ihr einen zuschreiben, als Ökosystem, Lebensraum von Kaulquappen vielleicht, aber dieser langanhaltende Blick auf die Pfütze ist unpragmatisch, verschwenderisch. So ähnlich hier:
dissimilation
fachgerechter schnitt im gewölk
macht eine linie immer zwei punkte
sichtbar wie wellenfraktale
verschwinden im drunter und drübersieht sie ein anderer vielleicht fällt
nichts aus dem aufgebrochenen himmel fällt
nichts ins zerbrochene meer
Es sind alchemistische Experimente, die unterschiedliche Zeiten, Antike und Heute, verschmelzen lassen, gekreuzte, wieder halbierte Elemente, entworfene, sofort wieder verneinte Numerologien. Es ist ein Stillstehen, Dastehen, In-Sich-Aufnehmen des penibel Betrachteten (etwa Auster, Hühnergott, Museumsexponat, Seele), Vergleichen und sorgsames Abwägen, das die drei Teile des Bandes, naturalienkabinett, kosmogonie und grammatologie bestimmt. Am Ende steht eine unverwertbare, überraschende und treffende Erkenntnis. Das begrenzte Wortarsenal kombiniert sich in immer neue Verbindungen mit einer Prise feinen Humors:
anaximenes. fletschern
wie atem wie erde wie luft
wie ein stein
flach wie die welt
springt über wasser darunter
messen sterne die strecken ‒ als
zunahme von temperatur ‒ einzig
begrenzt im unendlichen sind
allerlei arten zu springen
Und noch ein Ratschlag aus der alphabetisch geordneten grammatologie, die Ewigkeit zu erfahren:
e
ist leiter was
ewig ist braucht keinen
anfang: stell dich bei sonnen
aufgang einfach auf den kopf
Alles Betrachtete führt schließlich zum Menschen zurück, zum Versuch, dessen Eigenart näherzukommen. So der Abschluss des Bandes, des Alphabets:
z
sanftes durchbrechen der schall
mauer zwischen türkis und
grau die seele des menschen
ist ein geräusch
‒ Eine wunderbare Nichtsnutzigkeit, Texte, die sich nicht an Schlagwörter klammern, sich nicht legitimieren müssen, da:
nutzen nur neben
effekt
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