Heintje vs Batman
Als Bruce Sterling 1989 den Begriff „Slipstream” einführte („… a kind of writing which simply makes you feel very strange; the way that living in the late twentieth century makes you feel, if you are a person of a certain sensibility”) und damit das Science-Fiction-Genre unterminierte und zugleich erweiterte, lieferte er eine ausführliche Liste potentieller Slipstream-Werke gleich mit. Dass diese ziemlich andro- und anglozentrisch daherkam, ist verzeihlich – umso mehr Sinn macht es heute, sich zu überlegen, welche Autorinnen, vor allem außerhalb der USA, sich in diese Liste mit aufnehmen ließen. Wie wäre es zum Beispiel mit dem gerade bei Jung & Jung neu herausgegebenen Frühwerk Elfriede Jelineks?
Zuerst 1970 erschienen, ist wir sind lockvögel baby! ein so absonderliches wie außergewöhnliches Stück Fantastik, ganz im Sinne Sterlings. Mehr jedenfalls als „Pop“ (eine oft vorgenommene Einordnung, der Jelinek selbst im Nachwort von 2017 widerspricht). Zwar besteht das Prosa-Experiment zum überwiegenden Teil aus vorgefundenem Material, doch die Cut-up-Technik ist ebenso charakteristisch für den Slipstream. Der entscheidende Unterschied zur Zitatcollage des Pop: Jelinek verleibt sich die Wirklichkeit nicht ein, sie fordert sie heraus und zerreißt sie systematisch: „Ich habe in den lockvögeln die Wirklichkeit von mir geworfen und durch Künstlichkeit ersetzt.“
Man darf davon ausgehen, dass ein solch gewagtes Debüt von einer beinahe unbekannten 24-Jährigen heute nicht mehr verlegt würde. Und auch die aktuelle Neuauflage haben wir ausschließlich dem Umstand zu verdanken, dass Jelinek inzwischen vom Literaturbetrieb – insbesondere durch den Literaturnobelpreis 2004 – zur Genüge abgesegnet wurde. Denn, man kann es ruhig so sagen: wir sind lockvögel baby! ist unlesbar, wenn auch im besten Sinne.
Ein paar Jahrzehnte lang mag die satzzeichenlose Kleinschreibung – basierend auf sprachkritischen Impulsen der Wiener Gruppe – antiquiert gewirkt haben; heute meint man in ihr die beinahe prophetische Voraussicht heutiger Textnachrichten-Orthographie zu entdecken. Was den Lesefluss nicht unbedingt erleichtert. Ganz abgesehen von einer Fülle an Wörtern, bei denen man oft nicht recht weiß, ob es sich um Neologismen oder österreichische Umgangssprache handelt.
Als Hauptprotagonist lässt sich ein gewisser Otto ausmachen, der allerdings von Kapitel zu Kapitel, gelegentlich sogar von Satz zu Satz, seine Identität wechselt, und also kaum mehr sein kann als eine subjektlose Sprechposition. Vom erbitterten Klassenkämpfer wird Otto zum Superman, vom Installateur auf einem Luxusdampfer zur schwangeren Krankenschwester, die sich in ihrem eigenen Kind wiedergebiert. Überdies gibt es den „genialen arzt forscher und rennfahrer manuel cortez maria y mendoza“ und die „die alte russische exilgräfin dunja“, deren Gesicht wiederum „der jungen deutschen krankenschwester maria“ aufgepflanzt wurde. Dazwischen singen und kopulieren Conny Froboess und Rex Gildo, während Heintje mit Frank Zappa verschmilzt. Der heute und hierzulande wohl kaum mehr bekannte Comicheld Turok kämpft unermüdlich gegen Dinosaurier, während der „white giant“ – eine schwache Reminiszenz an den Weißen Riesen – den mal liebenden, mal strafenden Vater für King Kong und Batman mimt.
Jelinek bietet uns groteske Überzeichnungen statt Identifikationsfiguren, scheinbar willkürlich zusammengesetzte Versatzstücke aus Trivialliteratur, Nachrichten und Werbung statt eines Plots. Wie soll man diesen unlesbaren Text nun also angehen?
„sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern“, befiehlt Jelinek, ganz autoritär, ihren Leser_innen antiautoritäres Verhalten. Die Rebellion allerdings reduziert sich auf genau sechs Optionen, in vorgestanzte Kästchen gedruckte Alternativtitel zum Selbstausschneiden, wodurch die Ausbruchsfantasie als pure Illusion nur umso deutlicher hervortritt. Es gibt kein Außerhalb dieses Textes, der Erlösungs-, Rache- und Aufbegehrensfantasien sämtlich in sich birgt.
wir sind lockvögel baby! lässt sich lesen als Dokument einer Zeit, als „zur bonanza time ein ungewöhnlicher stromverbrauch festzustellen ist“; als kalter Krieg herrscht und die Angst vor der Bombe sich die Waage hält mit dem melancholischen Wunsch nach Auslöschung. Es lässt sich lesen als pervertierte Fanfiction, als Agenten-Thriller-meets-Provinzposse, wenn Batman und Robin sich inzestuösen Liebesspielen hingeben, während „die gelbe gefahr“ im Raum Amstetten Industriespionage für Rotchina betreibt und Verhörszenen in verschämt-lüsterne SM-Settings umschlagen. „ottos und seiner freunde schwänze waren von jeher mit einem spitzen angelhaken versehen“, heißt es an einer Stelle: „das kind das man der frau machte kam über und über mit schuppen bedeckt auf die welt“ – was ziemlich treffend Jelineks absurde Fantastik zusammenfasst, angesiedelt im fluiden Spektrum zwischen Giallo-Spektakel und Yps-Heft-Gimmick. Natürlich lässt sich der (Anti-)Roman auch lesen als politischer Kommentar, wenn die nicht tot zu kriegende Vergangenheit in Form erschossener Soldaten immer und immer wieder aufersteht, wen 50er-Jahre-Aufschwungseskapismus auf Nazi-Nostalgie triff („ja in seligen jungvolktagen galt die conny mit den blonden haarschnecken sogar als seine tanzstundenflamme“). Überhaupt sind Jelineks Figuren Cartoon-Zombies, die dutzendfach sterben und im nächsten Satz quicklebendig auf der Matte stehen. Recht erschöpft wirken irgendwann die Sex- und Gewaltorgien, an denen man sich eben doch sattlesen kann; was übrigbleibt ist das ermüdend Sequenzielle eines Pornos ohne Handlung, der einfach nicht enden will.
Last but not least, steckt in den lockvögeln ein feministisches Manifest, so verspielt und grotesk überzogen, wie man es lange nicht mehr gelesen hat: Ein Vatermord reiht sich an den nächsten, denn „die girls haben sozialen aufstieg im kopf“ – womit Jelinek ein zentrales Motiv ihres Romans Die Liebhaberinnen vorwegnimmt. Derweil kondensieren sich in „luci nugget“ sämtliche männlichen Ängste vor der phallischen Frau: Als überdimensionales Riesenweib à la Angriff der 20 Meter Frau wird sie von Otto „bestiegen“, und zwar wortwörtlich: „seine finger berührten die kante von lucis schacht. aber es gelang ihm nicht halt am kitzler zu finden.“ Ein Berg aus Eis, der langsam schmilzt, wie sich später herausstellt: „der halbe kontinent steiermark ist schon von luci überschwemmt.“ Während männliche Kastrationsängste die Frauen ins Unermessliche wachsen lassen, schrumpfen die Superhelden immer wieder auf Kinderzimmerformat. Selbst King Kong verwandelt sich bisweilen in ein hilfloses Baby mit „patschehändchen“ und „verschmiertem gesichtchen“, dem seine Allmachtphantasien dann auch nicht mehr weiterhelfen.
Vor allem aber ist es das Konstruktionsverfahren selbst, das sich als widerständig erweist. Mitten hinein in eine Krimiszene platzt die Warnung: „VORSICHT! der echte schweizer emmentaler wird häufig mit ähnlich aussehenden jedoch nicht aus der schweiz stammenden käsen verwechselt“ und imitiert den jähen Cut eines TV-Werbeblocks. Pornographie und Heimatschmonzette, Horror-Trash und Hausfrauentipps fließen nahtlos in eins, sodass letztendlich die Herstellung eines Reisebügelbretts auf derselben Bedeutungsebene stattfindet wie der Kampf eines Comichelden gegen hungrige Dinosaurier, die Reparatur eines undicht gewordenen Regenmantels auf derselben Ebene wie die „rassenunruhen“ in den USA. Eine faszinierende, fatale Gleichzeitigkeit, in der Jelinek die Mechanismen des World Wide Web vorausgeahnt zu haben scheint.
Dass der Roman in einem furchtbaren Blutbad enden wird, ist eigentlich klar. Was jedoch nichts ausmacht, da ja ohnehin alle, egal wie weit sich ihre Gliedmaßen verstreut haben mögen, sofort wieder aufstehen werden. Eine Versöhnung der etwas anderen Art. „all together now!“
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