Die Fermente der Gewalt
Während sehr viele amerikanische Lyriker und Lyrikerinnen das konkrete, sichtbare Detail zelebrieren, geht es der in Boston geborenen, seit zwei Jahrzehnten jedoch in Europa, zumeist in Paris, lebenden Ellen Hinsey um den großen ontologischen Wurf. Unter dem Titel „Des Menschen Element“ ist nun endlich ihr im Original bereits 2009 veröffentlichter Band „Update on the Descent“ erscheinen — und stellt nichts Geringeres dar als einen philosophischen Traktat in poetischer Diktion oder, wenn man so will, eine Dichtung, die hauptsächlich im Gewand von Sentenzen den Bedingungen unserer gegenwärtigen Existenz auf den Grund geht.
Die Komposition des Bands folgt strengen Regeln. Die drei Teile: „Des Menschen Element“, „Zeugnis“ und „Mitternachtsdialog“, gliedern sich jeweils in die Abschnitte „Historien“, „Korrespondenzen“, „Annalen“, „Notizbuch“, „Zeugnis“, „Korrespondenzen“ und „Chronik“. Eine solche Einteilung ist weder monoton noch phantasielos, sie verweist einerseits auf den starken geschichtlichen Charakter, der alle drei Teile prägt, und andererseits auf deren tiefe innere Verbundenheit. Sie erörtern nämlich, nach Hinseys eigener Notiz, „die drei Bedeutungen des Wortes descent als Abstammung oder Erbe des Menschen, Höllenfahrt und Abstieg vom Kreuz“. Eines der schönen Paradoxe der Dichtung besteht ja darin, wie hier vorgeführt wird, daß eine dichte Fügung die weitesten Bedeutungen und Bereiche umschließen kann.
Es lohnt also an dieser Stelle, einen kurzen Blick auf die Traditionen zu werfen, in denen sich Hinseys Gedichtband bewegt. Sein ganz eigener Ton entsteht durch Verschmelzung typisch amerikanischer Elemente, wie der Aufzählung konkreter Dinge und Ereignisse, und typisch französischer Elemente, wie der Bevorzugung abstrakter Begriffe, prosanaher Zeilen und kühner Metaphern. Natürlich ist eine solche Beschreibung ziemlich grobkörnig und klischeeverhaftet, dennoch kommt sie dem eigentümlichen Reiz, den Hinseys Band ausstrahlt, einigermaßen nahe. Der hohe Ton der philosophischen Gedanken wird auf diese Weise immer wieder rückgebunden an den sensorischen Bereich des Menschen und somit geerdet.
Dieser Blick auf den formalen Aspekt war nötig, weil er — wie oft bei gelungener Dichtung — bereits den Schlüssel zum Verständnis liefert. Es entsteht eine Spannung zwischen den Gegensätzen, die aufgerissen werden, beispielsweise zwischen dem „einmaligen Moment des Jetzt“, der voller Möglichkeiten und Erneuerungen steckt, und den wiederkehrenden Ereignissen der Geschichte, für die gleich zu Beginn stellvertretend die zum Schlag erhobene Hand steht:
Von jeher hat die auf den Boden gesudelte Schrift des Blutes die heimliche Ohnmacht der Hand gelindert.
Hinsey verwebt Themen und Motive in einer unglaublichen Engführung, bleibt jedoch immer verständlich, immer ganz nahe an den Bedingungen des Menschen, die sie ausforscht. Dafür greift sie auf historische, literarische, mythologische Szenen zurück, beispielsweise auf eine Passage aus der „Ilias“, in der König Priamos nachts Achilles im Feldlager aufsucht, um die Rückgabe des Leichnams seines gefallenen Sohnes Hektor zu erbitten, wo es geschieht, daß in einem kurzen Moment beinahe gelingender Barmherzigkeit,
Seite an Seite, in der verriegelten Gruft der Nacht, in einer Gemeinschaft aus Atem und Haut, die zwei erwachsenen Männer weinten, ein jeder um den seinen.
Während unter jedem Wort der ewige Strom der Rache floss.
Oder auf den berühmten Abstieg zur Hölle am Beginn von Dantes „Göttlicher Komödie“, der unversehens umgedeutet oder vielmehr weitergedeutet wird:
Die wirkliche Reise ist befremdlicher: jene, bei der wir nie geführt werden. Unser täglicher Abstieg in des Menschen Element.
Die erhobene Hand führt direkt ins Warschauer Ghetto und zu den Folterkammern im ehemaligen Jugoslawien, schließlich sogar bis hin zum Jüngsten Gericht, das zitiert, aber nicht in herkömmlicher theologischer Manier bestätigt wird. Die Gewalt, die Destruktion, die Tyrannei — letzte vorgestellt in einer ebenso ironischen wie zynisch entlarvenden „kurze[n] Biografie“ —, sie scheinen zum menschlichen Element zu gehören, und doch stimmt Hinsey keine Anklage, allenfalls eine Klage an, die nach den Ursachen und der Verantwortung (auch der Sprache) fragt.
Warum wurde das Land in Heimat und Gebiet unterteilt?
Weil hier die Raben am Fluss nisteten, dort in regendurchweichten Eichen.
Solche Nichtigkeiten sind die Ursache von Gewalt, und eine „beunruhigende Lösung“ für das Unvermögen, sich am Leben in seiner Zeitlichkeit zu erfreuen, lautet: „Sich vom Unbehagen am Sein vorübergehend Erleichterung zu verschaffen durch Freisetzen von Terror.“ Die Aktualität und Immergültigkeit dieser Worte beweist sich durch tagespolitische Ereignisse allenthalben und vielerorten. Hinsey wendet „Die Zerrissenheit des Geistes zwischen Aufgeben und Weitermachen“ in eine bedingungslos positive Richtung: „die Befremdlichkeit des Seins auszuhalten“ und das von Gewalt aufgeladene Gedächtnis der Geschichte zugunsten der zeitlosen Möglichkeiten des Moments zu löschen, eine Tilgung, für die auf symbolischer Ebene der Abstieg vom Kreuz steht (das im übrigen nie erwähnt oder bildlich beschworen wird).
Die Ausgrenzung des anderen bedeutet immer auch, „die Grenzen seiner Ärmlichkeit zu bestimmen“. Darum wählt Hinsey ganz bewußt die Fülle, den reichen, vollen, hohen Ton, der dem Thema angemessen ist (die Tonhöhe der philosophischen Überlegung und Überlegenheit, die nichts verdächtig Pathetisches an sich hat) und in der einfühlsamen deutschen Übersetzung gewahrt bleibt (sieht man einmal von zwei, drei modisch-falschen Imperativformen ab). Das ist souveräne Gedankenlyrik, die das Gefühl berührt. Chapeau!
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