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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Einzig der Freiheit des Denkens verpflichtet

Die Erinnerungen des russischen Philosophen und Kulturwissenschaftlers Grigorij Pomeranz (1918-2013) stellen ein eindrucksvolles Zeugnis eines freien Geistes dar
Hamburg

In seinen Erinnerungen „Mein Leben“ schildert der russische Atomphysiker und Menschenrechtler Andrej Sacharow seine erste Begegnung mit dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Grigorij Pomeranz im Jahr 1970. Anläßlich eines inoffiziellen Seminars in einer privaten Wohnung, wie es damals unter kritischen Intellektuellen üblich war, war Sacharow nach eigenem Bekunden „tief ergriffen von seiner Belesenheit, der Weite seines Horizonts und seinem »Akademikertum« im besten Sinne des Wortes“.

In seiner Heimat war die Publikationsmöglichkeit für Grigorij Pomeranz stark eingeschränkt und von 1976 bis zur Perestrojka in den 1980er Jahren durfte er nichts mehr veröffentlichen. Seine Wortmeldungen waren nur im Ausland oder im Samisdat, also im „Selbstverlag“, erschienen. Besondere Aufmerksamkeit erregte sein über Jahre geführter Disput mit dem nationalkonservativen Schriftsteller Alexander Solschenizyn. Dabei war Pomeranz von einem grundlegend anderen Temperament als Solschenizyn, den er als einen „Mann des Zorns“ bezeichnete. Einig waren sie sich freilich in der Ablehnung der sowjetischen Diktatur als einer Formation, die dem menschlichen Geist und nicht zuletzt der russischen Kultur zutiefst feindlich gegenüber stand.

Unter den freien und unabhängigen Denkern hatte sich Pomeranz erstmals einen Namen gemacht, als er 1965 in einem Vortrag am Moskauer Institut für Philosophie eindringlich davor warnte, Stalin zu rehabilitieren. Die Aufarbeitung des Bolschewismus zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Auch nach dem Ende der Sowjetunion hielt er eindringlich an diesem Vorhaben fest:

„Solange Stalins Name nicht der allgemeinen Verdammnis anheim gegeben wird, wird es bei uns keine Buße geben. Und wenn es keine Buße gibt, dann wird es auch zu keiner Wiedergeburt Russlands kommen“.

Grigorij Pomeranz wußte, wovon er redet. Kurz nach Kriegsende war er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden, 1949 folgte seine Verhaftung. Wegen „antisowjetischer Agitation“ wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und verbrachte mehrere Jahre im Straflager. Erst im Zuge der einsetzenden Entstalinisierung nach dem Tod Stalins kam Pomeranz wieder in Freiheit. Er hielt sich mehr recht als schlecht als Bibliothekar über Wasser. Spätestens nach der öffentlichen Verunglimpfung des Schriftstellers Boris Pasternak näherte sich Pomeranz Dissidenten-Zirkeln und der zaghaft entstehenden Menschenrechtsgruppierungen an. Die winzige Wohnung von Grigorij Pomeranz wandelte sich zu einem Treffpunkt junger und unangepasster Leute, um sich dort über Philosophie, den Hinduismus oder Gegenwartskunst auszutauschen.

Die vorliegenden Erinnerungen „Notizen eines hässlichen Entleins“ geben nicht nur Auskünfte über ein bewegtes Leben, sondern verschaffen einen eindrucksvollen Einblick in die Tiefe einer eigenständigen Gedankenwelt. Noch vor dem Krieg hatte Pomeranz am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte studiert. Seine Dissertation über Fjodor Dostojewskij war seinerzeit als „unmarxistisch“ gebrandmarkt wurde und hatte ihm somit den akademischen Weg versperrt.

Ein ähnlicher Mechanismus sollte sich 1968 wiederholen, als Grigorij Pomeranz wegen seines Engagements für die Menschenrechtsbewegung am Institut für Orientstudien versagt worden war, seine Dissertation über den Zen-Buddhismus zu verteidigen. Nicht zuletzt seine jüdische Abstammung, die in der Sowjetunion durchaus Nachteile nach sich zog, hatte Pomeranz zu religionsphilosophischen Betrachtungen angeregt. Dabei holte er, angeregt durch seine buddhistischen Kenntnisse, weiter aus: „Ich will verschiedene Überlieferungen verstehen als Erzählungen mit ein und demselben Geist“.

Bei allen gedanklichen Exkursionen in historische, religiöse und soziologische Anregungen umkreist Pomeranz mit seinen kulturphilosophischen Überlegungen letztlich das Schicksal Russlands mit seiner wechselvollen Geschichte. Als junger Mann hatte Pomeranz in der Roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft, war verwundet und mit Orden ausgezeichnet worden. In seinen Erinnerungen fließen auch Schrecknisse aus jenen Jahren ein, wobei er in besonderer Weise über Gräueltaten der eigenen Leute vor allem gegenüber deutschen Frauen nachhaltig entsetzt war. Pomeranz war ein russischer Patriot, der die martialische Siegerhysterie bis in die heutige Zeit hinein als Schaden und Schädigung Russlands durchschaut hatte.

„Ewigen Wahrheiten“, vor allem wenn sie in parteiamtlichen Auftrag verkündet wurden, stand Pomeranz ablehnend gegenüber: „Ich fürchte nicht, verloren zu gehen, wenn ich den Rahmen der Konfessionen und der nationalen Voreingenommenheiten und sonstiges übertrete“. Folglich geben seine Erinnerungen eine Fülle von Lebenserfahrung, Einsichten und Erkenntnisse verschiedener philosophischer Richtungen und Traditionen wieder. Zugleich war Pomeranz kein Vertreter einer wohlfeilen Beliebigkeit. Seine Liberalität hatte ihn verpflichtet, den steinigen Weg abseits einer kritiklosen Karriere zu wählen. Als Richtschnur orientierte er sich an seinem Gewissen und die zu erwartenden Nachteile im konkreten Leben nahm er in Kauf.

Grigorij Pomeranz
Notizen eines hässlichen Entleins
Übersetzung: Wilhelm von Timroth
Nostrum
2015 · 610 Seiten · 59,50 Euro
ISBN:
9783981646511

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