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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Eine Arche aus Versen

Hamburg

Ein Glücksfall ist es, dass die Stimme der israelischen Dichterin Tirza Atar nun in deutscher Übersetzung hörbar wird. Gundula Schiffer1 macht in einem schön gestalteten schmalen Band das Werk Tirza Atars (1941-1977) in ausgewählten Textbeispielen in deutscher Übersetzung zugänglich.

Die Komposition des Bandes über der Dichterin Leben und Werk ist so originell wie kunstreich gestaltet. Zehn nicht chronologisch gegliederte biographische Kapitel, denen Fotografien beigefügt sind, geben facettenreiche Einblicke in Lebensstationen und die Entstehung des Werkes der Dichterin.

Tirza Atar wurde nur 36 Jahre alt. Sie kam bei einem Sturz aus dem Fenster ums Leben. Der jähe Tod beendete das Leben einer Schriftstellerin, die ihre schöpferischen Potentiale in Gedichten, Kurzprosa, Kinderbüchern, Übersetzungen und Liedern entwickelte. Bekannte israelische Musiker baten sie um Liedtexte. Gerade durch sie wurde und blieb sie einem breiteren Publikum bekannt. Die Vertonung von Gedichten ist in Israel etwas Verbreitetes. Lied und Gedicht - schir - sind im Hebräischen das gleiche Wort. Auch Lea Goldbergs Werk etwa, die zu den bedeutendsten Dichterinnen des Landes zählt, ist durch Gedichtvertonungen für die junge Generation präsent geblieben.

Zu Lebzeiten Tirza Atars sind nur drei Gedichtbände erschienen, ein vierter war in Vorbereitung. Erst 2018 erschien das von Noga Albalach herausgegebene dichterische Gesamtwerk.

Schiffers Buch will zugleich Biographie und Lesebuch mit ausgewählten Texten Tirza Atars sein. Die erzählenden Passagen des Buches gehen den Seiten mit Übertragungen von Gedichten und Prosastücken Tirza Atars vorauf. Dieser klug gewählte Kunstgriff, den Stoff zu strukturieren, weckt Neugier. Die mosaikartige Organisation des umfänglichen Materials lässt die Lesenden frei, bei der Lektüre die Kapitelfolge selbst zu wählen, zumal sie keine literaturwissenschaftliche Analyse des Werkes sein wollen.

"Ich habe mich bei Tirza Atars Lebenswerk von den Rändern zum Zentrum erzählt. In erster Linie steht und stand ihr Name für ihre Gedichte (und Lieder)"(S.32),

schreibt Gundula Schiffer. Die Textbeispiele aus Atars Werk, die die Überführung gelebten Lebens in poetische Wirklichkeit dokumentieren, sind beispielhaft für den Lebenskontext der Dichterin wie auch für die Entwicklungsstadien des Werkes gewählt.

Kein verletzlicheres Wortgewebe gibt es als das Gedicht: Beim Übersetzen von einem Sprachufer zum anderen bleibt es Ziel, Rhythmus und Klangbild der Originalsprache zu erhalten. Das übersetzte Gedicht ist - wie der israelische Dichter Tuvia Rübner sagte - gelungen, wenn es in der Zielsprache wiederum ein Gedicht in neuer Gestalt ergibt. Der Übersetzungsprozess bringt im Glücksfalle ein zweites Kunstwerk hervor, ein Kunstwerk sui generis, das das Original in produktiver Verwandlung vorstellt. Dieses Ziel zu erreichen, war Gundula Schiffer unterwegs.

Mit  Einfühlungskraft schreibt sie über die hohe Verletzlichkeit und  existentielle Gefährdung, in der sich Tirza Atar bereits in ihren frühen Jahren - besonders während eines abgebrochenen Schauspielstudiums in New York (1960)  - befand und früh schon in der Gegenwelt ihrer Dichtungen auf Zeit Bergung wie in einer Arche aus Versen erfuhr, lebensbedrohliche Verstörungen im Doppelsinn des Wortes im Werk aufhebend:

"... über den Boden gespannt ein fahler Schatten.
Der Schatten von etwas großem, Anderem.
Ich glaube nicht an den Herrn der Welt.
Dieser Schatten
ist der Schatten eines
Dichters." (S 158 )

Über die Schatten - Kriegs- und Verlusterfahrungen -, die über Tirza Atars Leben und Werk liegen, über die enge Verflechtung von Poesie und Autobiographie der zweifachen Mutter, schreibt Gundula Schiffer behutsam. Viele Gespräche mit Zeitzeugen und Kennern ihres Werkes hatte sie in Israel geführt.

Tirza Atar wählte früh ein Pseudonym, das zwar Buchstaben des Vaternamens enthält, doch Ort oder Stätte bedeutet. Ein eigener Ort also, an dem Autonomie gelebt und das kreative Potential entfaltet werden kann. Das Pseudonym klingt wie eine Anspielung auf Virginia Woolfs Essay "Ein Zimmer für sich allein." Zimmer und Fenster, Topoi für Bedrohung und Sicherheit zugleich, sind zentrale Motive im Werk der Dichterin.

Tirza Atar ist die Tochter des aus Warschau stammenden israelischen Dichters Nathan Altermann (1910-1970) , der zu den bedeutenden Autoren der modernen hebräischen Literatur zählt, lebte in nahezu symbiotischer geistiger Nähe zu ihrem Vater, bezeugt auch dadurch, dass beider Gedichte zuweilen aufeinander reagieren, einen leisen, oft verborgenen  Zusammenklang zweier Gedichte.

Tirza Atar wurde über Jahre hin als Tochter des Dichtervaters geradezu marginalisiert. Symptomatisch für die Konzentration von Forschung und Öffentlichkeit weitgehend auf den berühmten Vater ist es, dass in seinem Nachlass - viele Jahre unentdeckt - Prosaarbeiten der Tochter gefunden wurden. Im Tirza Atar-Archiv im Kipp Center sind fast ausschließlich mit Schreibmaschine verfasste Texte erhalten.

Wie weit sich die Tochter in ihrem israelischen Selbstverständnis von den Visionen der Vätergeneration der Dichter des Landes entfernte, zeigt sich deutlich. Sie teilte die Utopien der vorstaatlichen hebräischen Literatur nicht mehr. Schrieben viele Autoren der jüdischen Nationalbewegung doch mehrheitlich an einem säkularen zionistischen Traum des Neuen Juden: den Traum eines nicht von Ghettoerfahrung, Flucht oder Assimilation geprägten "Neuen Hebräers". Nichts mehr davon bei Tirza Atar. Ihr israelisches Selbstverständnis wie ihre Dichtung schöpfen aus anderen Quellen, sind doch die Voraussetzungen der israelischen Literatur in der Welt einzigartig. Geprägt von Sprache und Kultur aus weit mehr als fünfzig Herkunftsländern, hat sie den literarischen Kanon fast der ganzen Weltliteratur präsent, und die literarischen Traditionen der Herkunftsländer wirkten wie ein Ferment auf die hebräische israelische Literatur.

Tirza Atar wählt literarische Verfahren des Expressionismus und Surrealismus, auch die Umgangssprache des Alltags setzt sie ein, arbeitet mit biblischen Allusionen und erzeugt so einen unverwechselbaren eigenen Klang ihrer Texte.

Heute ist Tirza Atar in Israel eine bekannte Autorin, deren Lieder besonders von der jungen Generation geschätzt werden.

  • 1. Gundula Schiffer, promovierte Komparatistin und Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Hebräischen, hatte 2014 von der Kunststiftung NRW das erste Nachwuchsstipendium für Literaturübersetzer für die Übertragung von Lea Goldbergs Roman "Verluste - Antonia gewidmet" aus dem Hebräischen bekommen. Die Autorin legte 2017 einen ersten Gedichtband vor, der Verse in deutscher und hebräischer Sprache so versammelt, dass der Gegenklang der beiden Sprachwelten hörbar wird. Sie übersetzte Lyrik, Theatertexte und Kurzprosa u.a. Texte von Tal Nitzan Joshua Sobol, Almog Bahar, Gedichte von Shira Stav, Dan Pagis, David Vogel.
Gundula Schiffer
Tirza Atar / Wenn alles berührt / Eine Biografie der Dichterin in Essays und Übersetzungen
edition karo
2019 · 160 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-945961-09-4

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