„Egal, was ich leiste, zuallererst werde ich immer dick sein.“
Nach Maßstäben wie dem BMI gehört die Autorin Roxane Gay (vor allem bekannt für die Essays in dem Band „Bad Feminist“, aber auch als Romanautorin und Herausgeberin der Anthologie „Not That Bad: Dispatches from Rape Culture“) zu den 20 % schwer übergewichtigen oder stark adipösen Amerikaner*innen. Oder, genauer gesagt: ihr Körper zählt zu diesen 20 %. Jedoch werden ihre Person und ihr Körper so gut wie niemals getrennt voneinander wahrgenommen – er ist immer der erste Angriffspunkt, das erste Charaktermerkmal.
Wenn man übergewichtig ist, wird der eigene Körper in vielerlei Hinsicht zu einer öffentlichen Angelegenheit, die verhandelt werden muss. Menschen projizieren alle möglichen Geschichten und Erklärungsmuster auf diesen Körper und sind nicht im Geringsten an seiner Wahrheit interessiert, wie auch immer diese Wahrheit aussehen mag.
Bei Gay ist diese Wahrheit ein Trauma, ein Verbrechen: im Alter von 12 Jahren wird sie von mehreren Jungen – u.a. einem, von dem sie dachte, er sei ihr Freund – in einer Holzhütte mehrmals vergewaltigt. Sie spricht mit niemandem darüber, nicht einmal mit ihrer liberalen und sie immer unterstützenden Familie, die davon erst bei der Veröffentlichung von „Hunger“ erfährt; sie gibt sich selbst die Schuld und findet einen Weg, sich wieder ein bisschen sicherer zu fühlen: sie isst.
Ich habe angefangen zu essen, um meinen Körper zu verändern. Das hatte ich wirklich gewollt. Ein paar Jungs hatten mich zerstört, und ich hatte es fast nicht überlebt. […] Das Fett schuf einen neuen Körper, einen Körper, für den ich mich schämte, der mir aber auch das Gefühl von Sicherheit gab, und das war es, was ich so unbedingt brauchte, wonach ich mich so verzweifelt sehnte – mich sicher zu fühlen. Ich musste mich fühlen wie eine Festung, undurchdringbar. […] Das ist die Geschichte meines Körpers. Mein Körper wurde zerbrochen. Ich wurde zerbrochen. Ein Teil von mir war tot. Ein Teil von mir war stumm und sollte viele Jahre lang stumm bleiben.
Natürlich spielt dieses Trauma eine wichtige Rolle in Gays Buch über die Geschichte ihres Körpers, immerhin ist es der Auslöser für ihr lebenslanges Ringen mit dem Wunsch nach einem anderen Körper einerseits und andererseits der Angst davor, wie dieser neue Körper dann wieder in Zusammenhängen wahrgenommen wird, die für sie etwas Bedrohliches haben (und/oder wirklich bedrohlich sind).
Aber neben diesem Auslöser spielt vor allem das Leben mit dem Körper, mit dem Raum, den er einnimmt, mit den Angriffsflächen, die er bietet, die Hauptrolle. Anhand von biographischen Episoden in meist sehr kurzen Kapiteln (87 sind es im ganzen Buch) erläutert und klagt, hofft und bangt Gays Ich nahezu ungefiltert und berichtet auf diese Weise von den vielen Problemen, die aus ihrem Leibesumfang resultieren und wie sie ständig die Differenz zwischen ihrem Selbstbild und dem Bild ihres Körpers verteidigen muss – und wie sie dabei immer wieder sich und anderen unterliegt.
Ich werde auch oft von dem Gedanken gepeinigt, dass mir, weil ich kein schlankes Supermodel bin, Ansprüche gar nicht zustehen.
„Hunger“ ist dementsprechend auch kein Body-positive-Manifest. Es spricht mitunter von der tiefen Verzweiflung, die sich aus der Tatsache ergibt, seinen Körper immer wieder zum Thema zu machen und (noch öfter) gemacht zu sehen, und der daran anschließenden Erkenntnis, dass Zufriedenheit(/Glück) und Schlanksein (vor allem bei Frauen) zwar nicht immanent zusammengehören, aber in unserer Gesellschaft so stark verzahnt sind, dass man selbst mit aller positiven Anschauung und großem Erfolg kaum aus dieser Weltsicht ausbrechen kann.
Die Gleichsetzung von Dünnsein und Selbstwert ist eine machtvolle Lüge. Frauen hören nicht auf, sich dem gesellschaftlichen Willen zu unterwerfen. […] Was sagt es über uns und unsere Kultur aus, wenn der Wunsch nach Gewichtabnahme als grundlegendes weibliches Attribut gilt? […] Ich hasse mich. Oder die Gesellschaft sagt mir, ich solle mich hassen, also denke ich, wenigstens das mache ich richtig.
Gay erzählt von den riesigen Blutergüssen, die durchschnittliche Möbelstücke bei ihr verursachen, von Begehrensstrukturen, aus denen sie sich ausgeschlossen fühlt, in denen sie immer nur die Bedürftige oder die sich-glücklich-schätzen-Könnende ist, sie spricht von ihrem Selbsthass und vom Trost, den Essen immer dann bringt, wenn ihr alles zu viel wird. Sie setzt sich mit Phänomenen wie den Fernsehserien „The biggest loser“ auseinander, schreibt über eine zweijährige Bulimie-Phase, über die zusätzlichen Strapazen, die ihre Queernes und ihre Hautfarbe oft für sie bedeuten.
Kurzum: „Hunger“ ist eine ganze Biographie unter dem Siegel des Körpers.
Wenn ich diese Geschichte meines Körpers schreibe und diese Wahrheiten über meinen Körper preisgebe, erzähle ich meine eigene Wahrheit und nichts als das.
Es ist ein schonungsloses Buch, erschütternd und zugleich ungeheuer sympathisch. Ich weiß, dass dieses letzte Wort im Angesicht dessen, was Gay beschreibt, worum es ihr geht, fast schon bagatellisierend wirken könnte. Zwar hat Gay nur ihre ganz eigene Geschichte niedergeschrieben, aber in der Art wie sie über alles spricht, von Schmerz über Unsicherheit und Freude bis zur Hoffnung, hat sie gleichsam auch eine Geschichte über die leidvolle Einsamkeit des Menschen generell geschrieben.
„Hunger“ wühlt auf. Es ist kein Buch gegen die Gesellschaft, sucht die Schuld nicht allein dort und dennoch stellt es sie an bestimmten Stellen bloß. Es ist kein überhöhendes Bekenntnisbuch und doch ist es stellenweise eine Selbstzerfleischung. Es ist kein Manifest und doch kämpft es immer wieder, oft ohne Ausgang, mit den von außen herangetragenen Bestimmungen, Ideen, Vorstellungen. Es bietet keine Lösungen und erzählt doch von Bewältigung, Rückschlägen, Erfolgen, also von der Strecke, nicht von Zielen. Ein Buch, so menschlich, es schmerzt fast ununterbrochen und ist einem genauso oft sehr nah.
Als Autorin, bewaffnet mit Worten, kann ich alles tun, aber wenn ich meinen Körper mitnehmen muss in die Welt, fehlt es mir an Tapferkeit. […] Auch die glücklichsten Momente meines Lebens sind überschattet von meinem Körper und davon, dass er nirgends hinpasst. So kann man nicht leben, aber so lebe ich.
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