Verletztes Gewebe
Der ehemalige Leiter des Suhrkamp Verlags Siegfried Unseld notierte nach einem Treffen mit Ingeborg Bachmann in seinem Rom-Reisebericht (1968), dass sie in ihrem zweiten Romanprojekt ein getreues Bild der Wiener Nachkriegsgesellschaft nachzuzeichnen versucht. Ein Vorhaben, das – trotz Mosaikhaftigkeit – gelingen soll. Der neue Band der editierten Werkausgabe wurde, gemäß dem Wunsch der Autorin, auf den Titelnamen Das Buch Goldmann getauft und rekonstruiert nun in detailgenauer Manier den nur in Fragment gebliebenen Fanny-Goldmann-Roman, an dem die Autorin bis zu ihrem Tod (1973) arbeitete. Wie im ersten Band der kommentierten Werkausgabe Male Oscuro wird der Leser anhand noch unveröffentlichter Briefe, Notizen und anderen unbekannten nachgelassenen Texten über die Entstehung des Romans behutsam aufgeklärt.
Der "Kadaver Österreich" steht stets als Hintergrundfolie zur Verfügung, der angesichts der unaufgearbeiteten Geschichte von scharfer Kritik nicht verschont bleibt. Denn auch noch nach dem offiziellen Ende des Nationalsozialismus tummeln sich aus der Perspektive Bachmanns überall faschistoide Bewegungen, sowohl auf politischer als auch privater Ebene. Von den Kriegsgeschehen will keiner mehr etwas hören, die "halb und halb geglückte Entnazifizierung" lässt in Bachmanns Prosa keinen Raum für eine gesellschaftliche Veränderung nach 1945, weil aus Träg-und Bequemlichkeit dann doch lieber an die vorletzte Vergangenheit (in Form eines neu aufflammenden Katholizismus) angeknüpft wird. Es geht Bachmann in ihren Geschichten jedoch nicht um "das Ich in der Geschichte", sondern um "die Geschichte im Ich", wie sie schon in den Frankfurter Vorlesungen 1959/60 markiert.
Auf welche Weise sich das Ich bzw. die Protagonisten mit der Geschichte auseinandersetzen, wird in den Beziehungen zwischen Fanny und Marek/Toni bzw. Fanny, Goldmann und Malina, Eka Kottwitz/Ega Rottwitz und Jung, aufgezeigt. Die hier schon angedeutete Suche Bachmanns nach den richtigen Bezeichnungen ihrer Figuren und ihrer inhärenten Überempfindlichkeit für Namen zieht sich durch den kompletten Textkomplex. Der Ausgangspunkt bildet die Trennung von Fanny und Marek; Marek, der auf "386 Bibel" die Ich-Erzählerin Fanny zu Gunsten seines Ruhms ausgeschlachtet hat und die nun ihre Konsequenzen daraus zieht. Marek wird zum Symbolbild eines bürgerlichen, "erzkonservativen Fossils", das den "mörderischen Gesetzen" des Literaturbetriebs gerne gehorcht, solange am Sonntag der Eintopf auf dem Tisch steht. Der Leser wird hier Zeuge einer bitterbösen Abrechnung Fannys mit einer chauvinistischen Männer-und Literaturwelt, die ihren Höhepunkt in der Überlegung nach der passenden Todesart für Marek findet: Die körperliche Tötung reicht nicht aus, die gerechte Bestrafung für den "Literaturstricher" bestünde einzig in einer "Entseelung" seinerseits. So unbarmherzig Fanny mit Marek ins Gericht zieht, so gnadenlos verfährt sie auch mit sich selbst. Körper und Geist sind gleichermaßen vom Hass auf ihren "Schlächter" befallen, wie ein Tumor schwimmt er im "Marekdrama".
Der "ewige Krieg gegen ihren Mörder" wird hier, wie auch in Malina, in privaten Opfer-Täter-Konstellationen ausgetragen. Diese münden schließlich in der Problematik der Opferrolle, die Bachmann in jeder Beziehung neu auslotet, ihr zu einer Sprache verhelfen will, ohne sie zu verraten, gemäß dem vielzitierten Appell: "Auf das Opfer darf sich keiner berufen". Leicht zu verdauen sind diese Bilder nicht, die unübersehbaren tragikomischen Elemente helfen jedoch dabei, ihnen nicht vollkommen ausgeliefert zu sein. Dazu trägt außerdem der wiederkehrende Perspektivwechsel bei, der die etwaigen Tendenzen zum Klischee (um die betrogene, sich an den Männern rächende Frau) ins Leere laufen lassen. Bachmann mokiert sich auch über diese, welche sich über die "Freß- und Trink- und Pflegegewohnheiten" ihrer Ehegatten wie über die ihrer Haustiere austauschen. Zweifellos wird aber an der bürgerlich-konservativen Welt Kritik geübt, an denjenigen, die ausschließlich im "dreiviertel Takt" denken. Den Literaturbetrieb schließt die Autorin hier mit ein. Diese "kleine, unendlich beschränkte Welt", die aufgrund ihrer tief eingefleischten kapitalistischen Strukturen immer ihre Opfer einfordern wird, weil der "Buchhandel zum Menschenhandel" ausgeartet sei.
Wer weniger augenfälligeren Analogien in den Texten nachspüren will, wird sich am Kommentarbereich dieses Bandes erfreuen können. Die Herausgeberin Marie Luise Wandruszka hat hier, auf gut 100 Seiten, eine ausführliche editorische und rezeptive Analyse der Textentwürfe vorgelegt. Die Zielsetzungen der (historisch-)kritischen Edition, nämlich eine Nachvollziehbarkeit und Lesbarkeit der (im Original mit unzähligen Tippfehlern und Streichungen versehenen) Transkripte zu ermöglichen, sind ohne Frage geglückt. Der textgenetische Kommentar führt allerdings gleichermaßen auf manche Irrwege, da jede (fiktive) erwähnte Figur zugleich einer (realen, gerne berühmten) Person in Bachmanns Umfeld zugewiesen wird. So wird hinter Fanny die Autorin selbst vermutet, Marek bzw. Jung verkörpert, natürlich, Max Frisch, und der angehende Schriftsteller Jonas soll Peter Handke repräsentieren etc. Selbst wenn Bachmann ihre Figuren derart angelegt haben mag, handelt es sich bei den Romanfragmenten um keine autobiographischen Schriften. Die an manchen Stellen etwas überambitionierten interpretativen Spekulationen und Gleichsetzungen von Leben und Werk der Autorin, sind außerdem für das Leseverständnis unerheblich.
Nach Bachmanns Ansicht sollen Geschichten einem zusammenhängenden Gewebe gleichen. Das Buch Goldmann entspricht dieser Vorstellung, versehen allerdings mit geringfügigen Verletzungen. Die Frage lautet nun, wie die Lücken, die bleiben, zu füllen sind? Als Denkanstoß soll hier der von Bachmann zitierte Kommentar Erich Frieds dienen, der, wie die Herausgeberin ebenfalls bekennt, auch in poetologischer Hinsicht zu verstehen ist:
Wenn man die Welt ohne sich sieht, sieht man sie wieder besser.
Die Antwort zu dieser Fragestellung kann unterschiedlich ausfallen. Die Prämisse aber bleibt diejenige, auch im Sinne der Autorin, jedwede Indiskretionen zu vermeiden und das literarische Werk als solches und nur als solches zu sehen.
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