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Kritik

Ich übergebe das Zeitalter

Hamburg

Ein ebenso weitreichender wie uneindeutiger Titel und schon öffnet sich der Horizont, eine Vielzahl von Zwischenräumen und Möglichkeiten tun sich auf. „Ich übergebe das Zeitalter.“ Diese Aussage gleicht der sehr ansprechenden Illustration des Buches, der abermals1ein Bild von Attila Szücs zugrunde liegt. „Planking on a red globe“ besticht durch klare Farben und eine unklare Aussage. Denn was man dort sieht, funktioniert nicht ohne Interpretation. Das Bild zwingt den Betrachter eine Haltung zu ihm zu entwickeln, weil es keine Richtung vorgibt.

Das heißt die Verantwortung für das, was gesehen wird, dafür welche Assoziationen das Gelesene heraufbeschwört, und dafür, welche Schlüsse der Leser aus der Lektüre ziehen mag, liegt mehr noch als bei jeder Lektüre ohnehin, bei den zugleich historisch gesättigten und surrealistisch unfassbaren Gedichten István Keménys, von Anfang an bei jeder Leserin, jedem Leser selbst. Schon hier, noch vor dem ersten Gedicht mit dem programmatischen Titel „Das Aufwecken“, beginnt die „Weck-Kette“, die Monika Rinck, die erneut mit Orsolya Kalász die stimmige Übersetzung von Keménys Gedichten besorgt hat, in ihrem Nachwort erwähnt.

Vielleicht übergibt Kemény das Zeitalter dem „Nichts“, diesem in seinen Gedichten immer wieder sehr präsenten Phänomen, das scheinbar immer aufgeweckt zur Stelle ist. Und Dichtung ist möglicherweise die Arbeit daran, das Nichts wenigstens eine Zeitlang zu überwinden.

Also ist das Zeitalter dieses quälende „Nichts“ des Dichters, das er Formen anprobieren lässt, um es dann der Leserschaft zu übergeben?

Zwischen Nichts und Leserschaft ist vielleicht der Ort, um ein paar Worte über István Kemény zu verlieren, der unverständlicherweise in Deutschland nur marginal rezipiert wird, der womöglich ohne die unermüdlichen Bemühungen von Orsolya Kalász und Monika Rinck dem deutschen Publikum gar nicht zugänglich wäre. Nach dem Aufstand 1956 und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs geboren, veröffentlicht er seit 1984 Gedichtbände, und beeinflusst mit seiner „schrankenlosen Gedankenfreiheit voller Geschichtsbewusstsein“ seit Jahrzehnten die ungarische Dichterszene. Seit er 1989 gemeinsam mit Orsolya Kalász und Gerhard Falkner anlässlich der Frankfurter Buchmesse die Anthologie „Budapester Szenen“ herausbrachte, ist er auch in Deutschland präsent, in Zeitschriften, bei Aufenthaltsstipendien, aber nie so öffentlichkeitswirksam und „groß“, wie es ihm und seiner Dichtung angemessen wäre. Und vor allem nie so, wie es dem Ausmaß dessen, was er geschrieben hat, gerecht würde. Von all seinen Essays, Kurzgeschichten und Romanen, ist nur ein einziger „Liebe Unbekannte“, auf Deutsch verfügbar. In dem Band „Dichterpaare“ des Kortina Verlags, in dem 2009 Franz Josef Czernin und István Kemény zusammenfanden, schreibt Kemény über sich selbst: „Eine Reihe meiner Ideen und Zeilen hat Eingang in das Werk anderer gefunden. Auch ich habe viel von anderen gelernt. Mehrere hundert Mal durfte ich meine eigenen Texte vor Publikum vortragen. Ich durfte großen Künstlern die Hand geben und bisher vier Kontinente betreten. Wer mich für etwas hält, hält mich vor allem für einen Dichter.“

Das „Aufwecken“ jedenfalls, mit dem der sehr gut durchdachte und strukturierte Band ansetzt, der neben zehn der neuesten Gedichte Keménys2 auch achtunddreißig weitere aus den letzten dreißig Jahren umfasst, ist etwas überaus Aktives, ein Apell, den der Dichter selbst vornimmt.

Ein Appell an sich selbst, oder an die Leser? Oder ist es der Versuch, der Wunsch nach einer Überführung, einer Übergabe des Bewusstseins in immer „aufgewecktere“ Zustände und Ebenen? Auf jeden Fall mündet das auftaktgebende Gedicht in ein großes „Erweckungsereignis“. Das somit geweckte Augenpaar sorgt dafür, dass die Wirklichkeit müde wird. Und die Schwemmwiesen hinter jedes „und“ einen Punkt setzen. Das sind einige Takte der Melodie aus denen Keménys Dichtung besteht:

„Gnadenlose, langsame, schmutzige
Musik beglaubigt
diese  Heiterkeit.“

Zum Rhythmus dieser Musik summen die Spannungen dessen, was sich bewegt und fließt. Das Warten auf das Gute führt geradewegs in die Magie des Glücks. Bevor sich scheinbar plötzlich die Richtung ändert; die Wirklichkeit gewinnt die Oberhand und besiegt die Möglichkeiten der Fantasie, sie zu formen. Bis schließlich auch der Vergleich erschöpft ist, so dass die Praxis auch in der Theorie siegen möge, dass sich

„wenn du mit dem Fahrstuhl hinauffährst,
sich als Gegengewicht die Wahrheit hinabsenkt.“

Zur Mittagszeit erfolgt dann die Übergabe des funktionierenden Zeitalters:

         Ich übergebe das Zeitalter. Es funktioniert.
         Hier sind die Schlüssel. Alles in Ordnung.
         Hier sind die Schlüsselfiguren. Hier sind
         die menschlichen Wracks. Hier ist der Durchschnitt.
         Hier ist die neue Generation. Sie reift noch.
         Mittagszeit. Hier sind die Morgenzeitungen.

         Hier ist die Behörde. Alle sind zu Tisch.
         Hier ist der Stempel. Er prägt in alles
         sein Zeichen. Hier ist das Bargeld. Greifbar.
         Hier ist die momentane Situation. Hier
         sind die Prozesse. Sie sind beschreibbar.
         Unkaputtbar. Was kaputt geht,
         hat prozessual funktioniert.

        Hier ist die Illumination. Sie illuminiert.
        Hier ist die Elevation. Sie eleviert.
        Jetzt gehen wir noch weiter einwärts. Wir gehen.
        Hier ist der Maschinenraum. Das ist mysteriös.

So ist das Zeitalter, das István Kemény uns hier übergibt, vollkommen durchsichtig, bis auf den mysteriösen Maschinenraum. In dem eine riesige Maschine ruht, die unermüdlich angetrieben wird vom Nichts, als zärtlicher Ausformung der Verzweiflung. Einer Verzweiflung, die man nicht nacherzählen kann noch sollte, die aber eine gewisse Schönheit, eine Art Trost beherbergen kann, wenn eine Form für sie gefunden worden ist. Eine Form, die ebenso einleuchtend wie unverständlich ist. Eine Form, in der sowohl Dinge als auch der Mensch Juwelen sein können. Also letztlich Material, mit dem der Dichter sich herumschlagen muss, um eine angemessene Form zu finden.

Was Kemény uns mit seinen Gedichten übergibt, ist eine sauber und durchsichtig funktionierende Wirklichkeit, in einem wunderbarerweise mysteriösen Maschinenraum. Angetrieben von der unermüdlichen Kraft seiner wirklichkeitsgesättigten, sich über die Wirklichkeit erhebenden, Poesie.

  • 1. wie schon im 2015 bei Mathes & Seitz erschienen Gedichtband „Ein guter Traum mit Tieren“
  • 2. Aus dem 2018 in Budapest erschienenen Lyrikband Nil
István Kemény
Ich übergebe das Zeitalter
Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász und Monika Rinck
Reinecke & Voß
2019 · 88 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-942901-35-2

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