Warten auf M.
Jana Hensel, die in Leipzig groß gewordene Journalistin, bekannt für ihren erfolgreichen Erinnerungsband Zonenkinder, hat mit Keinland ein leises, sehnsüchtiges literarisches Debüt hingelegt. Der als explizit ausgewiesene Liebesroman erzählt von einer unmöglichen Liebe und von der Last der Geschichte, die ihre Figuren immer wieder vor die drängende Frage stellt: Wie weit bestimmt die Vergangenheit unser Leben? Durch klug durchkomponierte Zeitsprünge werden die Erinnerungen der Protagonistin Nadja an ihre Beziehung (um in Hensels Sprache zu bleiben: Nichtbeziehung) zu Martin Stern geschildert. Nadja richtet sich aus der Ich-Perspektive an ein Du, an Martin, der zu Beginn der Erzählung schon aus ihrem Leben verschwunden ist.
Als Journalistin bekommt Nadja von ihrer Berliner Zeitung den Auftrag, eine Reportage über Länder mit Mauern zu verfassen. Sie erfährt von dem bekannten deutsch-israelischen Wirtschaftsberater Martin Stern, der ihr zunächst eine wütende Absage erteilt. Nadja, sichtbar beeindruckt von dem Temperament Martins, beschließt ihn trotzdem aufzusuchen und verliebt sich in den großen, schönen Unnahbaren mit den schwarzen Locken. Sie beginnen ein Verhältnis, aber schnell wird klar, dass ein Leben mit ihm ein Leben auf der Wartebank bedeutet. Martin kann ihr nichts versprechen, weil er an nichts mehr glaubt. Fünfzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, wächst er als osteuropäischer Schtetl-Jude in Frankfurt auf, kämpft dort mit noch immer anhaltenden Ressentiments und zieht als Erwachsener nach Israel, denn ein Leben in Deutschland ist für ihn nicht mehr möglich. „Seine Leute“, seine jüdischen Vorfahren, sind infolge der Shoa in Aschehaufen in den Wolken aufgegangen – und mit ihnen seine Zukunft. Er hat sich damit abgefunden „alleine unterzugehen“ und auch Nadja wird ihm in seiner Einsamkeit nicht beistehen können. Sie aber bleibt, wartet und hofft, ihm das Gegenteil beweisen zu können:
Ich habe immer gewartet. Auf deine Nachrichten, deine Anrufe, deine Hände, deine Worte, deine Fragen.
Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich an die schönen Momente mit ihm zu klammern: In einem Anflug kurz aufflammender Zuversicht eröffnet er ihr seinen heimlichen Kinderwunsch, ein Satz, in den sie „einziehen“ und der sie so über Wasser halten wird. Geduldig erträgt sie sein Schweigen, nimmt es mit Gleichmut, wenn er sie wie eine „lästiges Tier“ verscheucht. Nadjas Sehnsüchte an ihn sind zwar stets reflektiert – so gesteht sie sich ein, dass sie aufgrund des plötzlichen Verschwindens ihres Vaters nie gelernt hat Abschied zu nehmen –, sie bleiben aber einem nostalgisch-kitschigen Tonfall verhaftet. Die Erzählerin ist sich zwar darüber bewusst, dass ihre Vorstellungen von Liebe aus Filmen und Büchern gespeist sind, weitere Schlüsse werden aber nicht gezogen. Ihr Leben soll auch so ein Film sein; sie muss nur fest genug daran glauben, so die Devise.
Du hast immer nein gesagt, und ich habe dir immer mit ja geantwortet. Mit Liebe geht das, habe ich gedacht, mit Liebe geht doch alles, habe ich gesagt und auf den nächsten Tag gewartet.
Sie will ein Land („Meinland, Deinland, Keinland, unser Land vielleicht“) mit Martin gründen, will ihm seine Traurigkeit nehmen, will mit seinen Augen sehen lernen. Ihre Zuneigung für Martin schlägt hier an vielen Stellen in eine blinde, naive Bewunderung um, die sich auch im Sprachrepertoire der Ich-Erzählerin niederschlägt. Die Stärke des Textes liegt nicht in ihren emotionalen Innenansichten und oft, so scheint es, verklärten Erinnerungen an die Zeit mit Martin. Man findet sie viel eher in den nüchternen Beobachtungen der Reisebeschreibungen von Tel Aviv und Berlin, ihren familiären Hintergründen, den Überlegungen zu geschichtlichen Entwicklungen. Denn auch Nadja, aufgewachsen in Sachsen, stammt aus einem Land, das durch eine Mauer geteilt war, auch sie hat ihr Päckchen zu tragen. Allerdings zieht sie nicht wie Martin die Konsequenz, leidvolle Familiengeschichten mit sich alleine zu verhandeln, keine Nachfahren zu zeugen, umso keine schmerzlichen Erinnerungen weiterzugeben. Nadja glaubt an ein Morgen, resigniert nicht, obwohl sie mit der Auflösung der DDR auch ein Teil ihrer Heimat verlor. Sie begibt sich schließlich auf die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit, in das alte Heimatland ihrer Großmutter, nach Polen. Aber auch diese Reise ist durchtränkt von dem eigentlichen Wunsch, Martin näher zu sein. Er bleibt in diesem Roman das Zentrum, der utopische Sehnsuchtsort Keinland, den die Protagonistin bis zum Schluss herbeisehnt.
Eigentlich wollte ich mich an Martin erinnern, sagte ich Bettie später, in Wahrheit wollte ich einen Punkt finden, der meine Geschichte mit seiner verband, einen Punkt, von dem aus ich eine Linie zwischen ihm und mir ziehen konnte.
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