„Es wird einsam um uns herum“
Noch ist der letzte der insgesamt sieben Bände von J.J. Voskuils grandioser Romanserie „Das Büro“ nicht auf Deutsch erschienen. Er ist für diesen Herbst angekündigt, sein Titel unmissverständlich endgültig: „Der Tod des Maarten Koning“. Für ein abschließendes Fazit dieses literarischen Mammutprojekts, das in den Niederlanden zwischen 1996 und 2000 erschienen ist, ist es also noch zu früh. Ein kleines Zwischenfazit allerdings bietet sich an. Zumal es aus dem Munde von Maarten Koning selbst kommt, dem Protagonisten des Romans und langjährigen Leiter der Abteilung „Volkskultur“ des Amsterdamer A.P. Beerta-Instituts für Volkskunde, der sich mit Ende des vorliegenden sechsten Büro-Bandes in den wohlverdienten Vorruhestand verabschiedet.
Er bezieht sich dabei, wie kann es anders sein, auf seinen Mentor Beerta, den Gründungsdirektor des Büros. Dieser hatte ihm bei einer gemeinsamen Reise den Rat gegeben, nie das Trinkgeld im Hotel zu unterschlagen. Denn, so die Begründung, wenn „ein Herr einen Mann trifft, gibt der Herr dem Mann ein Trinkgeld.“
Mit dieser Haltung, so Maarten, „zeichnete Beerta das Gesellschaftsbild […] seiner Generation“; eine Gesellschaft in klar voneinander abgegrenzten Gruppen: „Herren und Männer, Hüte und Mützen“. Allerdings habe sich dieses tradierte Bild im Verlauf der Jahre gewandelt. Statt mit einer statischen Gesellschaft habe man es seit geraumer Zeit mit höchst komplexen sozialen Dynamiken zu tun, die sich grundlegend von der Welt unterschieden, wie Beerta sie kannte. Und genau hieraus müsse das Büro seinen wissenschaftlichen Auftrag ableiten: „Jede Generation legt den Fakten ihr eigenes Gesellschaftsbild zugrunde, um daraus anschließend die Sicherheit zu schöpfen, dass dieses Bild richtig ist.“ Diesen Zusammenhang zu erkennen, zu analysieren und in den Vordergrund eines jeden Erkenntnisinteresses zu rücken, gehöre zu den zentralen Aufgabe des Büros.
Auch wenn Maarten mit dieser plausiblen Ansicht nicht bei allen Kollegen auf Gegenliebe stößt, beschreibt sie im Kern recht treffend den Kern von Voskuils literarischem Programm. Denn „Das Büro“ ist viel mehr als eine brillante Satire auf die Geisteswissenschaften oder den tagtäglichen Irrsinn in den Büros dieser Welt. Es ist die seismische Erforschung der (niederländischen) Gesellschaft mit den Mitteln der Literatur. Inklusive der im Verlauf eines halben Jahrhunderts zutage tretenden kulturellen, politischen, sozialen und sprachlichen Veränderungen. Ein vergleichbares literarisches Gesamtprogramm sucht man in der deutschen Literatur nach 1945 vergeblich. J.J. Voskuil zählt zu den ganz großen Autoren des 20. Jahrhunderts. Auch wenn noch nicht ausgemacht ist, dass sein Werk eines Tages auch jenseits der Niederlande die Bedeutung erreichen wird, die ihm zusteht.
Der sechste Band des Büros umfasst die Jahre 1982 bis 1987. Maarten geht mittlerweile auf die 60 zu. Und bereitet sich auf seinen Ruhestand vor. Der Band endet mit seiner Verabschiedung, vor der es ihm graut – die aber am Ende doch sehr harmonisch und sogar anrührend über die Bühne geht. Auch wenn Maarten sein eigenes Tun der vergangenen gut 30 Jahre als weitgehend sinnlos erachtet, und sich in seine Rolle als Vorgesetzter bis zum Schluss nicht so recht hatte einfinden wollen, wird deutlich, dass die Mehrzahl seiner Mitarbeiter und Kollegen ihn schätzt – und seinen Abgang bedauert. Das rührt ihn. Ebenso wie die zahlreichen Abschiedsgeschenke, die er sich im Vorfeld verbeten hatte, aber natürlich dennoch erhält – einschließlich eines historischen Dreschflegels, der ihn an seine siebenjährige Forschungsarbeit zu genau diesem Gegenstand erinnern soll.
Wie der Titel des Bandes andeutet, ist Maartens Abschied aus dem Büro nicht der einzige Abgang. Auch Balk, Maartens Vorgesetzter und langjähriger Direktor des A.P. Beerta-Institut, zieht sich zurück. Sein Nachfolger kommt von außerhalb des Instituts und steht im Ruf, mehr Manager als Wissenschaftler zu sein. Das entspricht den Vorgaben des Ministeriums, die Amsterdamer Volkskundler auf Effizienz zu trimmen. Drei Aufsätze solle jeder der wissenschaftlichen Beamten künftig im Jahr vorlegen. Auch derlei als unmenschlich empfundene Vorgaben machen Maarten den Abschied leicht. Mit einer auf plumpen „Output“ reduzierten Wissenschaft und der permanent im Raum stehenden Drohung, das Institut ansonsten aus Kostengründen zu schließen, kann er sich nicht identifizieren. Seine Mitarbeiter bringen es, wie ihm der neue Direktor vorwurfsvoll vorrechnet, auf 0,7 Publikationen im Jahr. Dass sie damit laut Maarten aber auch einen echten Beitrag zur Forschung leisten würden, wird an höherer Stelle geflissentlich überhört.
Als weitaus tragischer erweisen sich die weiteren Abschiede. Beerta stirbt vereinsamt in einem Altersheim. Abgesehen von Maarten hatte ihn, den einstmals gefeierten Netzwerker, dort kaum noch jemand besucht. Auch Maartens Schwiegermutter wird zu Grabe getragen. Und der schwerste Schock: Frans, der langjährige und psychisch labile Freund der Konings, verstirbt überraschend an einer Krebserkrankung. Wie Voskuil greift auch der manische Tagebuchschreiber Frans am Ende seines Lebens auf die in den Niederlanden schon früh recht liberal gehandhabten Möglichkeiten der Sterbehilfe zurück.
Doch neben den tragischen Passagen – deren Tragik stets durch den lakonischen Tonfall der Voskuil’schen Beschreibung relativiert wird – schimmert auch im sechsten Teil des Büros das satirische Element immer wieder durch. Dazu trägt unter anderem die neugegründete „Arbeitsgruppe Sprachsexismus“ bei, die bei Maarten zu Irritationen führt („Ach du großer Gott …“). Als herausragend erweist sich zudem die Beschreibung eines Vorstellungsgesprächs, bei dem die Kandidatin offen einräumt, über keinerlei Ahnung oder Erfahrung zu verfügen, was die geforderte Tätigkeit – die Erstellung eines Registers für eine Edition von Volkserzählungen – anbelangt. Auf die Nachfrage, ob sie es denn nicht dennoch einmal probieren wolle, folgt betroffenes Schweigen. Dennoch sind sich Maarten und seine Kollegen rasch einig, die ideale Besetzung für die Stelle gefunden zu haben – einer Beschäftigung der Dame steht nichts mehr im Wege.
Wie immer nach der Lektüre eines neuen Bandes aus der Büro-Serie, folgt nun die Phase des Wartens auf den Nachfolger. Da ergeht es den Lesern nicht anders als den Anhängern bekannter Fernsehserien. Erschwerend kommt diesmal hinzu, dass es nach dem siebten und letzten Band im Herbst definitiv keine Fortsetzung von „Das Büro“ mehr geben wird.
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