Sprachfetzen
John Ashbery ist seit Jahrzehnten auch für deutsche Leser kein gänzlich Unbekannter. Erste Aufsätze und Übersetzungen sind ab 1980 (unter meiner Beteiligung) veröffentlicht worden. Das Echo war, gelinde gesagt, nicht überwältigend. Doch waren sich Übersetzer, Kritiker und Verleger bewusst, dass mit Ashberys ungewöhnlichen und immer äußerst anregenden Texten etwas Neues in die englischsprachige Literatur gekommen war – von dem übrigens längst nicht klar war, dass es in deutsche Sprachstrukturen adäquat zu übertragen wäre. Nach einer Serie von Bändchen mit kleineren Gedichten – darunter Some Trees (1956), dem W.H. Auden (nicht ohne Zögern) den Yale Younger Poets’ Prize zuerkannte - gründet sich Ashberys Reputation wesentlich auf seine zunehmend langen und längeren Gedichttexte, gedruckt in verschiedenen Formaten, darunter etwa unterschiedliche Texte in parallelen Spalten in As We Know (1979). Der Gedichttext erhielt epische Länge, ohne jedoch Epos zu sein. Diese langen Formate kamen Ashberys diskursiver Methode entgegen. Wenn es zu Zeiten des frühen Modernismus eine starke Neigung zu textueller Kollage bereits bekannter, oft fremder dichterischer Texte gegeben hatte (z.B. T.S. Eliots The Waste Land 1923), so hat John Ashbery die Methode der Kollage nun als eine zumeist syntaktisch glatt ineinander übergehende Aneinanderreihung bewusst alltäglicher Äußerungen beliebiger Herkunft perfektioniert. Unter dem losen Gewand syntaktischer und grammatischer Möglichkeiten spricht eine Vielzahl partieller Texte dauernd wechselnde Themen und Kontexte ohne sich zu vollenden.
Es ist kein Wunder, dass sich Bewunderer und Gegner der Texte Ashberys als Lyrik recht unversöhnlich gegenüberstehen – seit nunmehr gut sechzig Jahren. Wer das Gedicht als eine – wie auch immer offene – Sinneinheit begreift, die auch durch eine bestimmte Form strukturiert wird und Teil der Aussage ist (wir setzen voraus, dass eine intendiert ist), hat große Probleme mit Ashberys langen Gedichten. Lange Gedichte – als „Langgedicht“ eine eigene Untergattung – sind nicht selten, aber sie sind zumeist episch. Selbst Walt Whitmans Langgedicht Leaves of Grass (1855 ff.) ist stark episch, wenn darin auch nicht eine Historie erzählt wird, wie etwa in Goethes Hermann und Dorothea (1797) oder H.W. Longfellows Evangeline (1855) Auch die Stimmen im Waste Land erzählen – oft zitierend. Bei Ashbery sind es Gesprächsfetzen, wie man sie vernehmen kann, wenn man etwa bei offenem Fenster in seinem Zimmer sitzt, während draußen viele Menschen vorbei flanieren, oder in einer überfüllten U-Bahn während der Stoßzeit Stimmen in allen Registern über alle denkbaren Themen sich äußern. Diese oft originellen und witzigen Phrasen verbinden sich mit erinnerten Sätzen, der meditierenden inneren Stimme und den ironischen Reflexionen eines Autors – all dies innerhalb eines locker eingrenzenden, sehr weiten gedanklich-bildlichen Rahmens. Dieser Rahmen ist unser Alltag: komisch, tragisch, absurd, lächerlich, tapfer, albern, verzweifelt in der unverstellten alltäglichen Sprache, in der alles seinen gleichwertigen, ephemeren Platz hat.
Für den vorliegenden Band, der schon 1992 erschienen ist, wird dafür das Bild des Fließdiagramms oder Flussbilds gewählt, das aus zahllosen Powerpoint-Präsentationen etwa über die Umsatzentwicklung im laufenden Jahr oder naturwissenschaftliche Vorgänge geläufig ist. Flowchart ist damit gewissermaßen die äußerste Entromantisierung eines Gedichttitels. Doch findet dies Gedicht seinen Ausgangsbegriff im ersten Teil des Nomens – das Fließen, der Fluss ist erneut mehr als die Metapher für den Sprachverlauf; es bildet (wie eine Karte) bereits die Struktur des Textes ab – heraklitisch fließend – und stellt ihn damit in die Reihe von John Ashberys früheren Großkompositionen, etwa den Band A Wave (1984). So beginnt der amerikanische Text in Flowchart:
Still in the published city but not yet
overtaken by a new form of despair, I ask
the diagram: is it the foretaste of pain
it might easily be? Or an emptiness
so sudden it leaves the girders
wangling the absence of wind,
the sky milk-blue and astringent? We know life is so busy,
but a larger activity shrouds it, and this is something
we can never feel, except occasionally, in small signs
put up to warn us and as soon expunged, in part
or wholly.
Die Zeilen ziehen an und stoßen das Verständnis ab, sie geben und nehmen wieder zurück, statuieren und relativieren. Die nächste Zeile, die nächste Phrase geben eine neue Deutungsmöglichkeit. Ich fürchte, vieles in diesem langen Text gleicht dem Hintergrundgeräusch durch ein laufendes Radio, nur besser formuliert. Positiv gesagt: Man kann sich in den Text versenken wie in ein Element, Wasser zum Beispiel. Damit hat Ashbery auch in dieser neuesten Variante seiner von ihm entwickelten Form ein langes Gedicht als Umfeld entworfen, in dem jeder Leser bei Bedarf finden kann, was er mag. Ist das Gedicht also beliebig? Nein, es ist nur nicht mehr sinnfällig gerichtet.
Die Handvoll deutscher Übersetzer John Ashberys hat es nicht leicht gehabt und die Ergebnisse ihrer mühevollen Arbeit geraten oft platt, ja manchmal langweilig. Das ist beim vorliegenden Text nicht anders, besonders wenn eine eigene Note anzuschlagen versucht wird.
Stets in der gedruckten Stadt, aber noch nicht
von neuartiger Panik erfasst, frag ich
das Diagramm: Ist das der Vorgeschmack auf ein Leid,
das leicht sein könnte? Oder Leere,
so unverhofft, dass die Pfeiler
im fehlenden Wind heulen,
der Himmel milchblau gerinnt?
Wir wissen, wie hektisch das Leben ist,
doch dauernd verhangen von größeren Vorhängen – was
wie nicht spüren, außer manchmal wie kleine Signale,
angebracht, um uns zu warnen, und genauso schnell gelöscht, zu Teil
oder ganz.
Ich mag nicht kommentieren, warum „gedruckt“ für „published“ steht, wo es doch um die in ihren Veröffentlichungen über sie existierende Stadt (etwa New York) gehen mag; warum es archaisch „Pein“ heißen soll, wo’s Schmerz getan hätte; wieso bedeutsam „unverhofft“ kommt, wenn bei Ashbery nur neutral „sudden“ steht – es finden Anhebungen statt, Poetisierungen, die sich zur Alltäglichkeit des Ausgangstextes nicht zusammen finden mögen. Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Sind solche Ausstellungen ein Schaden? Eigentlich ja, denn man erwartet in einem solchen langen Übersetzungstext eine etwas konkretere Interlinearität, eine Lesehilfe. Hier wird leider stellenweise der Interlineartext mit einer poetischen Lösung vermischt. Übersetzungen aus den Varianten der englischen Sprache haben es schwer – zu viele mein(t)en ohnehin, sie verstünden sie problemlos und müssten keine größeren Wörterbücher benutzen, wenn überhaupt, und den nicht ganz verstandenen Text in deutscher Sprache „bedichten“. Diese vermessene übersetzerische Zuversicht ergibt dann ein Hybrides von einer Art, die Ashbery, bei allem eigenen eleganten Eklektizismus, so nicht anbietet und die den deutschsprachigen Leser kaum bereichert.
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