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Kritik

Das Elend des Lebens

Matthias Bormuth über Jean Améry, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof
Hamburg

Eine erbauliche Lektüre sieht anders aus. Die Essays über Jean Améry, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof eint die Todessaffinität der Protagonisten. Für alle vier, so die Lesart des Philosophen und Mediziners Matthias Bormuth, bedeutete die Möglichkeit des selbstgewählten Todes einen Freiheitsgewinn im Leben. Am deutlichsten formulierte dies Améry, der in seinem „Diskurs über den Freitod“ den Selbstmörder als „Träger der Freiheit“ bezeichnet. Und alle vier machten letztlich davon Gebrauch, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise: Meinhof erhängte sich am 8. Mai 1976 – dem Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945 – in ihrer Gefängniszelle, Améry schied zwei Jahre später in einem Salzburger Hotelzimmer durch eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben; Bachmann und Johnson verstarben 1973 bzw. 1984 in Folge ihrer selbstzerstörerischen Lebensweisen – Alkohol, Zigaretten, Tabletten –, was für Bormuth einem „verzögerten Suizid“ gleichkam.

Die einstige Journalistin Meinhof unterschied sich von den drei anderen Porträtierten insofern, als dass sie nicht nur im Denken, sondern auch im äußeren Leben zu radikalen Mitteln griff. Ihre Beihilfe zur Befreiung des RAF-Terroristen Andreas Baader, bei der ein Polizist ums Leben kann, war die augenscheinliche Abkehr von ihrer Rolle als kommentierende Intellektuelle, und die Hinwendung zu einem Leben im Untergrund, für dessen Legitimation es der erfolgreichen Revolution bedurft hätte. Dazu kam es bekanntlich nicht.  

 Für Améry war ihr Freitod daher nachvollziehbar. An die verbreitete Mär vom Justizmord glaubte er nicht. Vielmehr habe eine kluge Frau eingesehen, dass ihre Vorstellung von der großen Revolution abwegig gewesen sei; statt sich einer „viele Jahre währende[n], psychisch zerstörerische[n] Haft“ auszusetzen, sei sie den einzig logischen Weg gegangen. Als politisches Signal wollte er, anders als viele Zeitgenossen, ihre Tat nicht verstanden wissen.

Auch wenn die konkrete Utopie nicht ihre Sache war, beobachteten Améry, Bachmann und Johnson die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1960er und 70er Jahre mit intellektueller Anteilnehme. Was sie neben ihren „suizidalen Zügen“ mit Meinhof verband, so Bormuth, war das Bemühen, die innere Verzweiflung über die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nach außen zu transportieren – mit vielfältigem Ergebnis! 

 Améry ging es vorrangig um die Versöhnung von Opfern und Tätern; eine pauschale Verurteilung der Deutschen vermied er. Dass er mit seinen zeitkritischen Essays auf antisemitische Anfeindungen stieß, belastete ihn weniger als sein von ihm selbst so empfundenes Scheitern als Romanautor; mit den harschen Urteilen der Kritiker über seine literarischen Arbeiten haderte er bis zuletzt.

Bachmann war unter den Porträtierten diejenige, die der Politik am fernsten stand. Dennoch war ihr die NS-Zeit präsent; über den Vater, einen Mitläufer des Regimes, vor allem aber über Paul Celan, ihre frühe große Liebe, den Autor der „Todesfuge“, der sich 1970 in Paris in der Seine ertränkte, und der, so Bormuth, „die persönliche und intellektuelle Schlüsselfigur ihres Lebens“ war. Nicht anders als bei Johnson war bei Bachmann das persönliche Lebens- und Liebesleid eng verbunden mit dem literarischen Schaffen. Ihr monumentales „Todesarten“-Projekt, von dem zu Lebzeiten nur die Romane „Malina“ und Simultan“ erschienen sind, korrespondierte mit ihrer privaten Lebenssituation, die geprägt war von Einsamkeit, psychischer Erkrankung und ausuferndem Alkohol- und Drogenkonsum.       

Auch Johnson war fast lebenslang exzessiver Alkoholiker („drei bis vier Flaschen Weißwein am Abend“). Getrieben von der Sehnsucht, mit Hilfe der Literatur eine gerechtere Welt zu schaffen, steigerte sich seine Wahrnehmung mehr und mehr ins Wahnhafte. Als er herausfand, dass seine Frau eine Affäre mit einem Prager Jugendfreund hatte, beschuldigte er diesen, ein Faschist, Agent und obendrein verantwortlich für die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings zu sein. Sein „Verfolgungswahn“ (Peter Rühmkorf) ging so weit, dass er den vierten Band seines „Jahrestage“-Epos, in dem die tschechoslowakischen Ereignisse das Frühjahrs 1968 eine wichtige Rolle spielten, über Jahre nicht fertigstellen konnte.

Es gehört zu den Vorzügen von Bormuths Buch, dass die Essays nicht für sich alleine stehen, sondern eng miteinander verwoben sind. So entsteht bei der Lektüre ein fünftes, nicht namentlich ausgewiesenes Porträt; es ist Hans-Magnus Enzensberger gewidmet. Enzensberger fungierte als eine Art Verbindungsglied zwischen Améry, Bachmann, Johnson und Meinhof. Er war unter den Intellektuellen der damaligen Zeit, die nicht wie Meinhof den Schritt in die Illegalität unternahmen, vermutlich derjenige, der dem Übertritt von der „vita contemplativa“ zur „vita activa“ am nächsten kam. Freilich nicht ohne sich im entscheidenden Moment stets auf die intellektuelle Weltbetrachtung zurückzuziehen. Diesen gut inszenierten Spagat, den Enzensberger wie kein zweiter beherrschte, beschreibt Bormuth gekonnt. Ins Schema der vier „Verunglückten“, die – auch das muss man nach der Lektüre von Bormuths Buch konstatieren – wohl eher von individuellem Lebensleid als historischen Traumata geplagt waren, passt Enzensberger freilich nicht; er feierte kürzlich seinen 90. Geburtstag.   

 

 

Matthias Bormuth
Die Verunglückten / Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry
Berenberg Verlag
2019 · 248 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-946334-62-0

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