Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ist das das Treffen der Oberkellner?

Hamburg

Selten sind Theorie und Praxis einer Person gleichermaßen bedeutsam. Für Maurice Blanchot gilt es im Besonderen, überlagern sich in seiner Kunst grundsätzlich beide vermeintlichen Pole: Seine Theorie bedient sich narrativer Mittel, seine Prosa bedient sich im Abstraktum, und beide durchgehend paradox, schwer zu greifen, ein durchziehendes Band. Blanchots dritter Roman Aminadab, aus dem Jahre 1942, ist in der Hand von Übersetzer Marco Gutjahr und Diaphanes dieser Tage nach über siebzig Jahren auf Deutsch erschienen. Er hat wieder einen Thomas als Hauptfigur, der durch einen "Wink" oder eine Geste, die nah am Missverständnis bleibt, in ein Haus geladen wird, in das er sich zunehmend verstrickt.

Das klingt zunächst nach Kafka und gewiss sind hier Parallelen. Doch wo Kafka eine maschinelle Prozesshaftigkeit mit böswilliger bis undurchschaubarer Machtausübung an existenziellen Parametern eingreifen lässt, geschieht bei Blanchot nichts Greifbares, sondern eher bemächtigt sich eine Wolke Gefühlen, oder Gefühle bemächtigen sich einer Wolke, und keine eindeutige Seiten- oder Willensverteilung werden offenbar.

Der bürokratische Apparat im Haus setzt sich aus Wächtern, Vermietern, DienerInnen, Gefangenen aber auch Malern und Porträtisten zusammen, die in wunderbar nichtssagender Sprache vor sich hinschwingen und ihren Paradoxa nachgehen. Blanchot erhebt ihren Gefäßstatus, misst ihren Körpern Haltungen bei, reiht Widersprüche und Anomalien. Im Text finden sich Formulierungen wie "er rang mit den Möbeln" und tatsächlich tun dies die Figuren mit konkretem Ergebnis. Thomas trifft schließlich, alles gleitend akzeptierend, im Keller auf Aminadab, den Hüter einer Unterwelt aus Autotrophien – wie ein Bild einer "natürlichen" Résistance oder der Armée des Ombres innerhalb des abgemenschlichten Hauswerks Welt. Und er trifft Lucie, die sagt:

Während ich spreche, wirst du intensiver in die Finsternis starren und die Dunkelheit wird dir helfen, mich zu verstehen [...] Dass diese Offenbarung nicht zu dir selbst heranreicht, ist tatsächlich ein Nachteil, doch das Wesentliche ist, sicher zu sein, dass man nicht vergeblich gekämpft hat.

Thomas als Entdecker/ Leser einer (Haus-) Welt gerät im Lauf der Handlung in ein eigenartiges amorphes Stadium, das wie voller Parallelen zu Blanchots eigenem isolierten Leben scheint, zudem voller zeitgeistlicher Anspielungen, ob gewollt oder zufällig.

Man sah sie nicht sofort, der Blick musste zunächst aufhören, selbst etwas entdecken zu wollen, und geduldig warten, dann nahm er die sich formenden Bilder beinahe gewaltsam auf.

Ihm schien, dass das Licht abnahm oder dass, wenn sein Leuchten nicht wirklich abnahm, etwas in der Luft lag, das sein Strahlen absorbierte. Es war, als wäre die Nacht durch die Atmosphäre gedrungen und als befände sie sich dort nicht aufgrund der Dunkelheit, von der man keine Spuren ausfindig machen konnte, sondern im Gefühl, das die Dunkelheit hervorgebracht haben würde, wenn sie geherrscht hätte.

Thomas selbst sagt:

Ich habe dieses Haus aus Versehen betreten. Ich ging auf der Straße vorüber, als mir jemand ein Zeichen gab, und ich wollte nur für einen Augenblick hier bleiben. Doch nun bin ich in einer schwierigen Lage, denn ich kenne niemanden und niemand erwartet mich.

Ist das nicht embryonal gesprochen? Und die Agenten jenes Lebens antworten Thomas:

Sie kennen also das Haus nicht? Warum sind Sie dann eingetreten? Haben Sie es nicht eingehend von außen betrachtet? [...] Ich verstehe Ihre Bedenken. Aber ich werde Sie mit einem Wort beruhigen. Obwohl Sie Recht damit haben, Ihre Anwesenheit als Privileg zu betrachten, ein Privileg, dessen Wert Sie selbst nicht einschätzen können, gibt es niemanden, der in gewisser Weise in der gleichen Lage wie Sie wäre. Seien Sie also beruhigt. Man wird Ihre Anwesenheit ertragen.

Mystisch und symbolhaft, obwohl beinahe unter dem Radar geschrieben, so zeigt sich Blanchots Praxis in Aminadab von ihrer einladenden Seite. Lesende selber dringen in dieses Geflecht ein, wie Thomas ins Haus. Der Roman vollbringt das Kunststück, sowohl zeitbezogen als auch vollkommen losgelöst von Zeit lesbar zu sein, ein quälendes Rätsel.

Maurice Blanchot
Aminadab
Übersetzung:
Marco Gutjahr
Diaphanes
2019 · 288 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3037346556

Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge