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Kritik

Mutter Natur wird rote Wüste

McKenzie Warks Low Theory für das Anthropozän
Hamburg

Der Begriff Anthropozän bezeichnet das geologische Zeitalter der Gegenwart, in dem der Mensch als geologischer Faktor auftritt. Laut dem Meteorologen Paul Crutzen ist das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Fall. Zwar lässt sich in Frage stellen, ob eine solche Datierung wirklich zutrifft, bedenkt man, dass der Mensch im zivilisatorischen Prozess durch die Beherrschung der Natur die Erde schon immer verändert: Die gesellschaftlichen Veränderungen, die zur Industrialisierung führten, erklären sich nicht über Klimatabellen. Der Popularität des Begriffs tun solche Zweifel aber keinen Abbruch.

2016 erschien im kookbooks-Verlag die vielbesprochene Anthologie „all dies hier, majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän“. Seit 2013 betreibt das Haus der Kulturen der Welt an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft sein Anthropozän-Projekt. Entscheidend ist, den Anthropozän-Begriff nicht als unhinterfragte und somit unverstandene Gewissheit anzunehmen oder als bloßen Fachterminus abzuweisen, sondern als Herausforderung anzugehen: Welche Gesellschaftskritik fordert das Anthropozän?

In seinem Buch „Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän“ versucht der marxistische Professor für Kultur- und Medienwissenschaft McKenzie Wark eine sich auf Marx berufende kritischeTheorie für das Anthropozän zu entwerfen – und nicht über es hinwegzudenken.

Es ist an der Zeit, auf dem Marktplatz der sozialen Medien zu verkünden, dass jener Gott, der sich noch in der Weltanschauung versteckt hielt, derzufolge Ökologie sich schon selbst korrigieren, ins Gleichgewicht bringen und heilen würde, tot ist.

Nachdem der Gott der Vernunft im 20. Jahrhundert abtreten musste, verkündigt Wark, dass wir auch von der Gegengöttin Mutter Natur keine regulatorischen Kräfte zur Rettung der Menschheit erwarten können. Vielmehr versucht er eine Ökologie gegen diesen Irrglauben zu finden. Wark weiß, was hierbei nicht hilft: darauf zu setzen, dass der „freie“ Markt schon alles regeln wird oder auf eine neue Technologie zu warten, die alle Probleme schlagartig beseitigt. Wark hält genauso wenig davon, seinen ökologischen Fußabdruck für ein besseres Gewissen zu messen oder in einer romantischen Abkehr von Moderne […] auf dem Bauernmarkt handgeschöpften Käse [zu ver]kaufen. Die heile Welt im Einklang mit der Natur hat es nie gegeben. Und erst recht keine magischen Hand, die große Katastrophen von uns abhalten wird. Diese Klarstellung ist ein großes Verdienst von „Molekulares Rot“, denn alle vier genannten Ansätze akzeptieren die Ohnmacht des Menschen und lassen ihn in einer Verbraucherhaltung verharren, aus der er dankbar oder eingeschnappt dem Weltgeschehen hinterherhechelt.

Wark denkt das Anthropozän als Reihe metabolischer Brüche. Diesen Begriff übernimmt er von John Bellamy Foster, der ihn wiederum in Bezug auf Marx entwickelt hat. Was geschieht hierbei? 

Arbeit zerschlägt und behandelt Steine und Boden, Pflanzen und Tiere, um ihnen die molekularen Flüsse, aus denen unser gemeinsames Leben aufgebaut ist, zu entziehen. Aber diese Molekülflüsse kehren nicht dorthin zurück, woher sie kamen.

Arbeit dient der notwendigen Versorgung, hat jedoch auch notwendig Auswirkungen auf die Biosphäre. Man kann von einer ökologischen Krise sprechen, wenn die Molekülflüsse Gefahr laufen, nicht mehr auszureichen, um die Reproduktion des menschlichen Lebens. Grüne Weiden mit freundlichen Bäuerlein verwandeln sich in menschenleere rote Wüsten. Eine ausgezeichnete Rolle spielt hierbei die Kohlenstoffbefreiungsfront. Um die Verteilung dieser Moleküle ginge es im Anthropozän und nicht um die von Anerkennung oder Macht. Eine Darstellung der historischen Entwicklung dieser „Befreiungsbewegung“ im Verhältnis zur Veränderung kapitalistischer Produktionsverhältnisse bleibt Wark seinen Lesern allerdings schuldig.

Seine entscheidende Forderung lautet: Alle und wirklich alle Produkte aus einem Arbeitsprozess hervorgehende Produkte müssen wieder in [die Biosphäre] zurückgerechnet werden. Um Wege zu finden, dies zu bewerkstelligen, sucht er nach Theorien, die es ihm zufolge nicht in die große Erzählung der alten kritischen Theorie geschafft hätten. Ob es diese gibt, lässt sich bezweifeln. „Molekulares Rot“ führt seine Leser dabei an an zwei, gelinde gesagt, unterschiedliche Orte: die Sowjetunion und das Silicon Valley.  Es geht um den Empiriomonismus und Proletkult Alexander Bogdanows, die literarische Fabrik Andrej Platonows auf der einen Seite, um Cyborg Donna Haraway, Codekausalität, die Welt im Apparat und die Mars-Trilogie des Sci-Fi-Autors Kim Stanley Robinson auf der anderen. Bei dem erstgenannten Widersacher Lenins sucht Wark nach Formen der Organisation und Arbeit, die einen Standpunkt erlauben, der ohne ideologischen Überbau auskommt. Mit der kalifornischen Biologin Haraway denkt Wark über den Körperfetischismus nach, der (verkürzt gesagt) analog zum Warenfetisch alles Lebendige zu einer Sache [macht], die, indem der [genetische] Code als Eigentum behauptet wird, kommodifiziert werden kann.

Anstatt auf einer molaren Ebene die Welt aus großer Entfernung zu erklären, fordert Wark: weg vom Bourgeois, der High Theory, dem Überbau, dem Menschlichen hin zum Proletarier, der Low Theory, Basis, Unmenschlichem – Wark möchte Praktiken finden, die im Widerstand gegen die Kohlenstoffbefreiungsfront helfen. Diese Praktiken bezeichnet er in Anlehnung an die Situationisten (manchmal etwas arbiträr) als détournement; damit meint er letztlich die aufgezählte Umkehr von Perspektiven. Wark drückt sich aber um die Frage, wie zunächst das nun einmal vorherrschende, ausbeuterische Etwas, das wir Kapitalismus nennen und das über eine Menge Militär und Versprechen verfügt, tatsächlich abgeschafft werden kann, wenn diesem Kapitalismus doch daran etwas liegt sich allerlei widerständige Praktiken zu eigen zu machen, um die Ausbeutung fortzusetzen. Wark versäumt es, in den Strategien einen manifest revolutionären Charakter herauszustellen: Warum geht mit diesen im Angesicht des Anthropozäns elaborierten Praktiken nicht doch irgendwie wie gewohnt weiter?

Eine praktische Revolutionstheorie ist aber auch gar nicht Warks Ziel und zeigte sich vielleicht bei einer Kontextualisierung seiner Ansätze zwischen den Zeilen deutlicher. „Molekukares Rot“ ist eine Reise durch Theoriegeschichte und eine Fundgrube von Ideen, sich im Anthropozän gegen die Kohlenstoffbefreiungsfront zu behaupten. Warks Vorhaben ist in jedem Fall einer der wichtigsten Diskursbeiträge auf diesem Feld, da es ihm gelingt, den Begriff des Anthropozäns als Appell zur radikalen gesellschaftlichen Veränderung zu verstehen, die sich nicht durch moralische Kontrolle lösen lässt oder der nur mit abstraktem Utopismus begegnet werden kann. Er will zeigen, welches Umdenken mit den metabolischen Rissen einhergehen muss. Auch wenn dieses Umdenken sich nicht immer ganz erschließt, ist „Molekulares Rot“ verdienstvolle Ideologiekritik.

McKenzie Wark
Molekulares Rot · Theorie für das Anthropozän
Übersetzung: Dirk Höfer
Matthes & Seitz
2017 · 392 Seiten · 30,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-395-7

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