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Kritik

Wird dein Harn im Himmel rosa sein?

Hamburg

In der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser ist soeben ein erster deutsch übersetzter Auswahlband aus dem umfangreichen Werk des großen nordirischen Lyrikers Michael Longley erschienen. In Gefrorener Regen, übersetzt von Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider, zeigt sich eine Gedichtbandbreite aus elf Einzelpublikationen Longleys, von 1969 bis 2014. Longley, im selben Jahr geboren wie sein ungleich bekannterer Freund und Zeitgenosse Seamus Heaney – welcher bereits früh auf Deutsch erschienen ist, kann als thematisch und handwerklich-sprachlich Heaney-ähnlich bezeichnet werden. Wo Heaney allerdings häufiger in die sprachliche Reduktion auf wenige Worte pro Vers geht, zieht es Longley in die Üppigkeit und den Reichtum eines großen Wortschatzes in englischen Sprache. Es ist mehr als an der Zeit, ihn auf Deutsch zu lesen und alleine deswegen ist Gefrorener Regen eine essentielle Publikation in diesem Lyrikjahr. Die Übersetzung, gefolgt von einer kurzen Nachbemerkung von Michael Krüger, ist solide, um nicht zu sagen von angenehmer Ausgeglichenheit. Sie ist allerdings auch stellenweise ein wenig zu ausgeglichen. Wo Longley definitiv abseits aller Graecismen – er ist wie Heaney der antiken Epik um Achilles und Co zugeneigt – auch zu Joycescher Deftigkeit und "kartoffeliger" Éire-Chthonik (man verzeihe den Begriff) tendiert ("cunty petals" etc.), den Leser sozusagen mitnimmt auf torfige Marktplätze und schamige Mooshügel, bleibt die deutsche Übertragung staunend-distanziert zurück und ergeht sich in einer, das Freche in Longleys auf-den-Punkt-Lyrik ausklammernden, zeitbezogenen Tümelei ("nackicht", "mählich" etc. z.B. fallen bei Gedichten aus dem Jahr 2014) – doch trotz dieser und einiger anderer Unebenheiten, die Longleys zwar insgesamt konservativen, wenn auch hochklassigen Sprachbehandlung an entscheidenden Stellen nicht immer gerecht wird, bzw. ihre ausbrecherischen Passagen an Wort und auch -stellung nicht wahrnimmt – besonders an Orten von englischer Ambivalenz – ist das konsequent mitabgedruckte Original links und jedes Gedicht damit dauerhaft zweisprachig verfügbar. Die deutsche Übersetzung liest sich mithin wie ein Reiseführer zu Longley und bevormundet daher nicht – jeder kann selbst übersetzen, loben, meckern. Editorisch perfekt. Ein Beispiel dieses Zusammenspiels und der Übersetzungsart bei Longleys politischem Gedicht "The Civil Servant":

"The Civil Servant

He was preparing an Ulster fry for breakfast
When someone walked into the kitchen and shot him:
A bullet entered his mouth and pierced his skull,
The books he had read, the music he could play.

He lay in his dressing gown and pyjamas
While they dusted the dresser for fingerprints
And then shuffled backwards across the garden
With notebooks, cameras and measuring tapes.

They rolled him up like a red carpet and left
Only a bullet hole in the cutlery drawer:
Later his widow took a hammer and chisel
And removed the black keys from his piano."

"Der zivile Beamte

Er briet sich eben ein Ulster-Frühstück,
Als jemand in die Küche kam und ihn erschoss:
Die Kugel drang in seinen Mund, durchschlug den Schädel,
Die gelesenen Bücher, due Musik, die er zu spielen wusste.

Er lag da im Morgenrock, in seinem Pyjama,
Sie suchten nach Fingerabdrücken auf dem Tellerbord
Und stapften rückwärts durch den Garten dann,
Mit Kladden, Kameras und Stahlmessbändern.

Sie rollten ihn zusammen wie einen roten Teppich,
Zurück blieb nur das Einschussloch in der Besteckschublade:
Später nahm seine Witwe Hammer und Meißel
Und brach die schwarzen Tasten aus seinem Klavier."

Longleys Themen reichen von besagter Antikeninklusion über deutliche politische Kommentare der seit jeher schwierigen nord-irisch/ irischen Situation, die besonders seine Generation und die seiner Eltern, englischer Abstammung, prägt (ganz stark in "Wounds"), zu bevorzugt naturbezogenen Sujets. So tritt die Landschaft Irlands, kombiniert mit enzyklopädischer Kenntnis über Flora und Fauna, häufig in den Vordergrund seiner Gedichte. Da vorliegende Gedichtauswahl chronologisch vorgeht, kann konstatiert werden, dass jene Naturpräsenz mit fortschreitendem Werk immer stärker in Longleys Fokus rückt, wie auch rückblickende Erinnerungen und Fragmente. Gleichzeitig reduziert Longley seine Sprache. Sie wird knapper und macht zunehmenden Gebrauch von strophenlosen Kurzpoemen. Auch scheint die Schärfe der Gedichte der 60er und 70er Jahre einer zurückgenommeneren Betrachtung zu weichen. Sehr interessant Longleys Listen und klangvolle sounds aus der Natur: "kittywakes, lapwings, self-heal, centaury oder bog asphodel" = "Dreizehenmöwen, Kiebitze, Gottheil (spannende Verschiebung zwischen Deutsch und Englisch), Tausendgüldenkraut und Gelbe Moorlilien". Geradezu prototypisch mutet Longleys Gedicht "The Ice-Cream Man" an, in seiner Verschmelzung von Natur und Politik:

"The Ice-Cream Man

Rum and raisin, vanilla, butter-scotch, walnut, peach:
You would rhyme off the flavours. That was before
They murdered the ice-cream man on the Lisburn Road
And you bought carnations to lay outside his shop.
I named for you all the wild flowers of the Burren
I had seen in one day: thyme, valerian, loosestrife,
Meadowsweet, tway blade, crawfoot, ling, angelica,
Herb robert, marjoram, cow parsley, sundew, vetch,
Mountain avens, wood sage, ragged robin, stitchwort,
Yarrow, lady's bedstraw, bindweed, bog pimpernel."

"Der Eisverkäufer

Rum-Rosine, Karamell, Walnuss, Pfirsich:
Du reimtest dir die Sorten zurecht. Das war, bevor
Sie den Eisverkäufer in der Lisburn Road ermordeten
Und du Nelken kauftest und vor seinen Laden legtest.
Ich nannte dir all die wilden Blumen des Burren,
Die ich an einem Tag gesehen: Thymian, Baldrian, Weiderich,
Mädesüß, Zweiblatt, Hahnenfuß, Besenheide, Engelwurz,
Ruprechtskraut, Majoran, Kuhpeterlein, Sonnentau, Saatwicke,
Weiße Silberwurz, Salbei-Gamander, Kuckuckslichtnelke, Sternmiere,
Gotteshand, Liebfrauenstroh, Winde, Zarter Gauchheil."

Michael Longleys Gedichte lohnen auf Englisch in jedem Fall. Sie sind sprachmächtig und atmen ihr irisches Kolorit in allen Fasern. Longley, der selbst eine schöne Auswahl eines weiteren großen Belfasters des 20. Jahrhunderts, den es auf Deutsch noch zu entdecken gilt, Louis MacNeice, bei Faber & Faber herausgegeben hat, ist mit dieser schönen Publikation des Lyrik Kabinetts endlich und zurecht auf Deutsch verfügbar. Die thematische Verknüpfung von Antike und Natur, Politik und Zeitgeschehen in einer zugänglichen, kraftvollen Sprache hat Michael Longley zu Lebzeiten zu einem Klassiker der englischsprachigen Lyrik gemacht. Die Auswahl der Gedichte ist gut getroffen und vielleicht gibt es in Zukunft auch eine erste Übersetzung eines seiner Originalbände.

Michael Longley
Gefrorener Regen
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Jürgen Schneider, mit einem Nachwort von Michael Krüger
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
2017 · 112 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25450-3

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