Alles von der Welt
Eingesperrte Vögel singen mehr – gedichtet und geträumt, so heißt der Gedichtband von der 1990 in der Schweiz geborenen Autorin Michelle Steinbeck, deren Roman Mein Vater war an Land ein Mann und im Wasser ein Walfisch vor zwei Jahren sowohl für den Deutschen als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert war.
Ja, es gibt sie die Vögel, Möwen, Amseln, Mauersegler, Krähen und Störche flattern durch die Gedichte, haben dabei die unterschiedlichsten Rollen.
die vögel fliegen aus meinem kopf
schreiend
in die pinien vor meinem fenster
Allerdings gibt es vieles mehr, das wir in den Zeilen von Michelle Steinbeck finden und um sich dem zu nähern, zitiere ich zwei Gedichte. Das Folgende eröffnet die Sammlung.
es ist ein fest in einem wald
es gibt mit samt behängte bühnen
ganze wände voll hühner am stiel
der zirkusdirektor hebt mich hoch
in die badewanne
er sagt
jetzt wird gespielt
Und am Ende des Lyrikbandes heißt es:
fress ungewissheit mit pesto (nach calcutta)
reib käse auf whatsappchats
versalze das vermissen
schmelz butter auf dem kolben wut
koch sugo ein mit hoffnung
verschlucke mich am wiedersehen
ertränk die heimreisen mit weines schmeckt nicht
ich schlinge trotzdem
Zwischen diesen Polen, zwischen Spiel und Traum, zwischen Zweifel und Widerstand, zwischen Liebe und Abschied bewegen sich die Gedichte.
ich will alles von der welt und noch viel mehr, lautet eine schöne Zeile und an anderen Stellen heißt es now ist jetzt oder be your own selfie. Viele ihrer Texte sind im wahrsten Sinn geträumt. Schlaf und Träume als eine wichtige parallelwelt, dieses Thema zieht sich durch den ganzen Band.
Manchmal beginnt ein Gedicht ganz poetisch, bis die Stimmung kippt.
Bestandsaufnahme
es ist ein schöner abend
kurz schaut der sommer vorbei
die schwalben schreien und der zug giert
gregor hat einen herzinfarkt und fühlt sich alt
sophie schluckt delfintabletten und hat eine affäre
corsin hat geheiratet und mich nicht eingeladen
beim schweizspiel sind 6 trikots gerissen und der ball
ich mag mein bett und das loch im Himmel
es wird immer größer
Oft steht hinter dem lakonischen Zeilenstil, der Einzelheiten scheinbar unbeteiligt anführt ein einziges sehnen, das sich teilweise hinter einer recht deftigen Sprache verbirgt. Wenn beispielsweise über das Objekt der Begierde gesagt wird, dass sie ihn mag, weil er einen strafregistereintrag hat und sie seine riesen fresse liebt.
Oder, wenn sie in wie ich gedichte schreibe sagt
und strassen interessieren mich auch
nicht high five sibylle berg das fucking
scheiss aussen interessiert mich nicht
Die Gedichte umspannen zahlreiche Themen. Ein Kapitel beschäftigt sich mit Babys, ein weiteres mit Reisen, hauptsächlich nach Rom, mit Beschreibungen von Menschen und Orten. Die meisten Gedichte sind kurz, teilweise nur wenige Zeilen. Teilweise scheint die Sprache dem Inhalt entgegenzustehen, aber tatsächlich wird er durch den scheinbaren Widerspruch eher verdeutlicht.
Unter manchen Gedichten stehen kursiv gedruckte Zeilen, die sich wie ein Kommentar lesen lassen oder wie eine Ergänzung. Oder sie stehen einfach nur da und wir lesen sie gern als eigenen Text.
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