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Kritik

Ein Basar voll bosnischer Geschichten

Unser Rezensent liest Miljenko Jergovićs aktuellen Roman und schreibt ihm einen Brief
Hamburg

Werter Miljenko Jergović,

viele Ihrer Werke schätze ich wirklich sehr. Ohne Ihr Erinnerungsbuch Vater zum Beispiel wüsste ich nur halb so viel über die tieferen Gründe für den Zerfall Ihrer bosnischen Heimat in den 1990er Jahren. Kaum mehr als zweihundert Seiten genügen Ihnen, um nicht nur das Leben Ihres Vaters, sondern auch die komplizierte ethnisch-religiöse Struktur und die jüngere Geschichte Sarajewos erzählend sichtbar zu machen. Meine Erwartungen waren daher groß, als ich Ihr neues, über 1100 Seiten starkes Werk zur Hand nahm, auch, weil das Inhaltsverzeichnis mir eine Fülle von Textsorten versprach: Einen Roman zum Beispiel, eine Reportage, ein Inventar, und einen Kalender alltäglicher Vorfälle.

Entstanden ist Die unerhörte Geschichte meiner Familie vor allem nach Gesprächen und Telefonaten mit Ihrer schwer an Krebs erkrankten Mutter. Als Ihnen klar wurde, dass es keine Heilung geben würde, haben Sie sich ganz ähnlich verhalten wie jemand, der auf eine größere Erbschaft hofft; allerdings ging es Ihnen nicht um Geld oder Immobilien, sondern um Geschichten: Bis wenige Tage vor ihrem Tod haben Sie Ihre Mutter immer und immer wieder nach der Familienhistorie befragt, haben sie zum Beispiel auf alte Fotos und Briefe angesprochen, die von Urgroßvater Karlo Stubler, dereinst Eisenbahner in Dubrovnik, noch übrig waren. Vom unfreiwilligen Umzug des deutschsprachigen Karlo nach Sarajewo 1920 bis hinein in die unmittelbare Gegenwart sammelten Sie Namen, Daten und Anekdoten, nicht nur über Verwandte, sondern auch über deren Nachbarn, Freunde, Vermieter, Geschäftspartner.

Andere Rezensenten würden nun vielleicht formulieren, dass es sich bei Ihrem jüngsten Werk um ein „faszinierendes Panorama der bosnisch-jugoslawischen Gesellschaft über beinahe ein ganzes Jahrhundert hinweg“ handle; ich selbst muss leider schreiben: Ein Panorama, das einen gewissen Überblick erlaubt, ist „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ nicht. Eher schon handelt es sich um einen Basar von kurzen Geschichten, um ein enormes Gedrängel von Figuren, die hier einen Schwatz miteinander halten, dort ein wenig narrativen Handel betreiben, aber nicht wirklich die Zeit haben, sich auf einander einzulassen. Sehr viele dieser Figuren gehen schnell wieder auseinander und kommen nie wieder zusammen; einige treffen an anderer Stelle noch einmal aufeinander, etwa einige hundert Seiten später, und beginnen erneut ihre erzählerischen Tauschgeschäfte. Ein reizvoller Ansatz, gewiss, nur bleibt Vieles zu anekdotisch, als dass daraus eine leitende Mikrostruktur entstehen könnte.

Aber vielleicht denke ich da zu mitteleuropäisch, vielleicht ist mein Verlangen nach Ordnung einfach zu groß? Ist nicht die jüngere Geschichte Bosniens gerade dies: Ein beständiger Handel, eine ewige Feilscherei um ethnische und sprachliche Zugehörigkeit, die beinahe nie zum abschließenden einigenden Handschlag, sondern fast immer zu Streit und Zerwürfnis führt? Die Geschichte Ihrer Familie, werter Miljenko Jergović, gibt dafür das beste Beispiel. Für den erwähnten Karlo Stubler, mit dessen 150 Seiten umfassender Geschichte Sie den Roman eröffnen, stellt sich die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit zunächst nicht wirklich. Er bezeichnet sich schlicht als „Kuferasche“, als eines der „Kofferkinder“, die zur Zeit der K.-u.-k-Monarchie nach Bosnien, nach Kroatien kamen, um dort Aufgaben im administrativen oder technischen Bereich zu übernehmen. Eisenbahner mit Leib und Seele, ist Karlo dem Reich der Lokomotiven, Bahnhöfe und Fahrpläne ein treuer Untertan, und ganz selbstverständlich verwendet er im Alltag nicht nur eine sondern mehrere Sprachen. Erst im Zweiten Weltkrieg wird eine Entscheidung von der Familie Stubler verlangt: Deutsche Truppen überrennen das damalige Königreich Jugoslawien, und bald schon installiert Hitler eine Clique krankhafter Serbenhasser, die Ustascha, als Marionettenregierung im heutigen Kroatien und Bosnien. Von diesem Moment an steckt Miljenko Jergovićs Großvater Franjo in der Klemme, denn sein Sohn Mladen ist im wehrfähigen Alter. Soll Franjo den jungen Mann zu den serbisch dominierten Tito-Partisanen in die Wälder schicken und hoffen, dass er überlebt, oder soll er auf den Einberufungsbefehl warten, der von kroatischer wie von deutscher Seite kommen kann? Er entscheidet sich für Letzteres, und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Nur einmal pocht Urgroßvater Karlo auf seine Zugehörigkeit zu einer Nation: Als die Ustascha wieder einmal auf Menschenhatz ist, versteckt er seine serbischen Freunde in seinem Keller und gibt den Jägern in Uniform am Hoftor mit Vehemenz zu verstehen, dass dies ein „deutsches Haus“ sei und sie sich zum Teufel scheren sollten.

Lieber Miljenko Jergović, weitere 150 Seiten von Die unerhörte Geschichte meiner Familie widmen Sie der Krankheit Ihrer Mutter, ihrem Verfall und ihrem Sterben und nicht zuletzt der Art, wie sie durch das Erzählen von Geschichten einen Ausweg aus ihrem Schmerz und ihrem Elend findet. Sie stellen die Fragen, Ihre Mutter antwortet, und für eine Stunde gemeinsamem Erinnerns sind die quälenden Schwierigkeiten der Mutter-Sohn-Beziehung, sind alle Vorwürfe und Anfeindungen vergessen. Kann Erinnern heilsam sein? Kann das Aufrufen von Vergangenem tatsächlich Verständnis füreinander entstehen lassen?

Mit derartigen Fragen haben Sie mich in den Abschnitt Inventar entlassen, den ich für ansatzweise gelungen halte, nehmen Sie dort doch real existierende Personen, Ereignisse und Örtlichkeiten zum Anlass für essayistische Reflexionen. Die Geschichte Ihres Cousins zum Beispiel wird mir in Erinnerung bleiben. Der Sohn einer serbischen Mutter und eines halb kroatischen, halb slowenischen Vaters schlug sich im Kriegswinter 1993, minderjährig und mutterseelenallein, von Sarajewo nach Ljubljana durch. „Bosnien war damals ziemlich groß“, formulieren Sie. „Jedes Kaff hatte seine eigene historische Erinnerung, abhängig davon, wer gerade gegen wen kämpfte.“ Fünf Monate dauerte die Weltreise durch den nationalreligiösen Wahnsinn des Bosnienkrieges, dann war Ihr Cousin in Sicherheit.

Weniger eindrücklich hingegen sind Ihnen Ihre Betrachtungen über Sarajewos Topographie geraten. Mit fast schon heimatkundlichem Anspruch auf Vollständigkeit zeichnen Sie Gasse um Gasse nach, teilen Straßennamen immer gleich im halben Dutzend mit, was dazu führt, dass sich wohl jeder, der nicht selbst in Sarajewo wohnt, keinen einzigen wirklich merkt. Natürlich dürfen auch Besuche auf den Friedhöfen der Stadt nicht fehlen, schließlich kokettieren Sie nicht nur einmal sympathisch selbstironisch mit dem Aussterben der einst so fruchtbaren Stubler-Familie, als deren nach Zagreb entwichenen, von schriftstellerischer Überfeinerung angekränkelten letzten Spross Sie sich sehen.

Ich gebe zu, dass ich nach den ersten fünfhundert Seiten Ihres Familienromans etwas lesemüde war. Aber dann erfinden Sie im Kalender alltäglicher Vorfälle (Fiction) einen dicken blauäugigen Hasen mit dem Namen Göring, den ein einstiger zaristischer Offizier zu Weihnachten aus dem deutschen Stall Ihres Uropas entführt, und schließlich laufen Sie in der Groteske Zündholzjongleur, Furtwängler doch noch zur Hochform auf: Ihre Sätze sind voll funkelnder Boshaftigkeit, wenn Sie die Geschichte eines gefeierten nationalkroatischen Pianisten erzählen, der seinen Sohn für tot erklärt, weil dieser unerträglich amusikalisch ist. Heimlich zu einer jüdischen Familie abgeschoben, gerät der Pianistensproß in die Mühlen des Zweiten Weltkriegs; er entkommt den Ustascha-Faschisten auf unglaubliche Weise und gespenstert Anfang der fünfziger Jahre als personifiziertes schlechtes Gewissen der Zagreber Musik- und Literaturszene durch die Stadt. Kein Wunder, dass Sie, geschätzter Miljenko Jergović, vom größten Teil der kroatischen Gesellschaft als Nestbeschmutzer wahrgenommen werden, als einer, der immer wieder seinen Spott auf den übersteigerten Nationalstolz und den bigotten Katholizismus spritzt. Verstehen Sie mich nicht falsch, Ihre Bücher sind wichtig, insbesondere für den deutschen Sprachraum, wo kaum jemand zu wissen scheint, was während der Ustascha-Zeit in Kroatien und Bosnien geschehen ist, von der unseligen Rolle der katholischen Kirche ganz zu schweigen, allein: Ihrem letzten Werk fehlt der Kern, fehlt das narrative Kraftzentrum, auch wenn Sie wieder und wieder beteuern, den ganzen dicken Roman um den tragischen Tod Ihres Onkels Mladen herumgeschrieben zu haben.

Mit respektvollen Grüßen
Christian Lorenz Müller

Miljenko Jergović
Die unerhörte Geschichte meiner Familie
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Schöffling & Co
2017 · 1144 Seiten · 34,00 Euro
ISBN:
978-3-89561-396-8

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