„Für einen doch schmerzlichen Takt ineinander“
Schöne tiefe Abgründe liegen zwischen den Zeilen von Nancy Hüngers neuem Lyrikband. In acht unterschiedlichsten Kapiteln schickt sie ihre Leser*innen beispielsweise durch „Liederliche Lieben“, lässt sie „Rupfen in fremden Gärten“ und erzählt „Aus der Werkstatt betretenen Schweigens“. Wie im Titel schon angedeutet, dreht sich in der Tat in diesem Buch vieles um Musik, Rhythmus und Klang. Musikalität scheint in Hüngers Schreiben notwendig, auch in den Kapiteln, die nicht ausschließlich diesem Thema gewidmet sind. Der Rhythmus der Sprache sucht sich seinen Weg zwischen Worten, Zeilen, Versen. So entsteht eine Verbindung, ja, eine Verschmelzung, ein Gesang.
„ ...Wir hören mit den Lakenohren, leicht
verklebt, die Häuser rufen, Welpen schreien mit Kinder-
stimmen oder welpenhafte Kinder, die aus Fenstern trieften,
Welpen warfen, zu den kreischenden Hornissen ....“
Aber auch der zweite Teil aus der Titelzeile ist gewichtig und legt sich fast durchgängig auf jedes Kapitel: der Abschied, die Einsamkeit. Überhaupt scheint mir Unberührbarkeit ein Merkmal von Hüngers Spracharbeit: Was eben noch auf der Zunge zergeht, ist im nächsten Moment schon wieder gefroren. Ein ständiges oft unruhiges Hin und Her zwischen Zweisamkeit und dem Erlebnis Einsamkeit zeigt sich und macht sich breit. Ein Kampf tobt zwischen diesen Aggregatzuständen – welcher ist leichter aushaltbar?
„ ... üb dich mein Bürschlein im GEH ODER BLEIB
aber üb dich am Alphabet sind manche schon verzweifelt
zwei Finger kurz vor knapp daneben wie auch immer ...“
Nancy Hünger macht es ihren Leser*innen nicht immer leicht. Mit einmal lesen ist es nicht getan. Auch mit zweimal nicht. Ihre Lyrik beansprucht äußerste Konzentration und starke Zuwendung. Das Schöne: Je öfter man liest, desto mehr lassen sich die Gedichte durchdringen, sie öffnen sich. Hünger spielt ihr lyrisches Ich und oft das lyrische Wir gegen alles aus. Ich und Wir treten niemals zurück in den Versen, sie sind in großer Dichte präsent, stehen im Vordergrund: das Orchester stimmt sich ein. Dahinter die Bühne der Worte, die Schauspieler: bis sie ihren Platz einnehmen, passend ankommen im Kopf der Leser*innen, darf Zeit vergehen.
„ ... ich erkenne niemanden
wieder die Gesichter drehen zum Mondund Sicheln fahren darüber. Die Zeit
weiß nicht weiter, geht unter in uns
drehen die Gestirne. Ist jeder allein.“
Durch das ganze Buch zieht sich stetig der Strom der Zeilensprünge, fast jede Zeile, kaum ein Vers ohne Bruch. Das bremst immer wieder den Lesefluss, zwingt langsamer zu werden. Es ergeben sich immer wieder neue Lesarten.
„... wer weiß schon wie es sich ausnimmt
in meinem Zimmer werden die Bücher verpackt
ist was du hattest gar nicht mehr so viel was du brauchtest
waren zwei drei kleine Gedichte und ein wenig Musik ...“
Was ebenfalls auffällt sind Hüngers besonders schöne Versenden, immer hat sie den Dreh genau heraus, wie sie ihr Gedicht beenden will. Hier setzt sie starke Akzente. Zufall scheint es dabei nicht zu geben, alles entspricht der beabsichtigten Komposition. Manchmal entsteht dadurch aber auch eine seltsame Abstraktheit mit wenig Raum für Emotionen. Einige Gedichte stehen mir sehr verkopft gegenüber, was besonders bei den erotischen und Liebesgedichten im Kapitel „volvere“ verwundert. Die Überschrift dieses Kapitels zeigt sich jedoch stimmig, wenn man nachliest, wie viele Bedeutungen dieses Wort hat.
„Dieses Gefühl klang nirgendwie irgendwie profan nach
Gefühl war uns wenig durchtrieben wir also Wörter
und hießen es Schnee sagten ICH SCHNEIE DICH
aus meinen Wimpernkränzen umschnei ich dich ...“
In diesem, aber auch in einigen anderen Kapiteln benutzt Hünger eine immense Vielfalt kreativer Worterfindungen: So geht es durchs „Knickicht“ und zwei „jochandeln einander“. Dergleichen eingeflochtene Neuworte regen die Phantasie an. Stellenweise wird es auch fast zu viel, wenn Hünger den Bogen überspannt. Dann wieder folgen solch außergewöhnlich schöne Sequenzen wie hier:
„... nur lass mir die kleinen Partien kann ich nicht hergeben den
Mund verwahre ich für die Männer die ich wollte habe ich
WUND UND WUNDER geküsst die Männer die ich wollte
sind alle zwischen meinen Lippen gefährlich schön erstickt.“
Hier, wie im Kapitel „Ach diese herrlichen Schwendtage, diese“ stehen die Gedichte alle im Blocksatz, wirken vom Satzbild her unzugänglich, verschlossen. Andere Kapitel enthalten luftigere Formen. So ist das Kapitel „Leb wohl, gute Reise“ in Dreizeilern angelegt. Diese Form erinnert an eine volkstümliche italienische Liedform (Stornello). Passend dazu befindet sich Hünger hier auf den Spuren Goethes in Italien. Dieses Kapitel scheint mir eines der stärksten des Bandes zu sein. Eine Reise nach Sizilien wird hier zum verdichteten Thema.
„ … Wir wechselten vier Löhne gegen Land und
eine Sprache aus den Fernwehkatalogen
schnitten wir den Süden Goethes aus ...“
Doch was aus diesen Versen herauszulesen ist, lässt sich schwerlich mit Goethes Italien vergleichen. Die Zeit hat Wunden geschlagen, viel mehr der Mensch. Hünger findet hier einen besonderen Rhythmus, einen eigenen Klang, alles fließt. Ihre Gedichte durchleuchten die vermeintliche Idylle, werden zu Klagen, zu Anklagen, zu kritischen Fragen.
„ ... und lasen aus den Stichwortkatalogen:
Europa, Menschheit, Wiege, Strandverbot,
das schöne schöne Abendland war abgebranntund glühte rauch- und rußgeschwärzt auf den Wangen
der Atom-U-Boote, Schauerbojen, die im Stahlbad
schweigsam Kriegsschlaf hielten ...“
oder
„ ... Unsre Füße
stießen immerzu ans Meer und selbst die Sternewaren schmutzig in jenen Nächten, als sich die Stadt
an Straßen strangulierte. Wir hörten Achsen brechen
und dieses leise Stöhnen. Die Palazzi röchelten. …“
Im Kapitel „Familiarium“ findet sich ein sehr starkes längeres Gedicht namens „Meine fünf ungeborenen Töchter“ – ein wirklicher Höhepunkt. Es ist das vielschichtigste, bemerkenswerteste, bedeutungsvollste, selbstkritischste Gedicht dieses Bandes, bestehend aus acht Sechszeilern. Es ist eine Klageschrift, eine Mahnung, ein Aufruf an das Selbst und an die Welt. Gleichzeitig enthält es die ewige Frage: Kann Lyrik im großen Weltgeschehen überhaupt etwas ausrichten, gar verändern?
„… meine fünf ungeborenen Töchter rufen mich zweimal
die Woche über Satellit fragen sie nach der Lage
und der prozentualen Niederschlagsdichte meiner Tränen
sie fragen nach den Adressen von Diktatoren
dem Generalschlüssel für Gefängnisse und den neuesten
statistischen Erhebungen zur menschlichen Dummheit ...“
Das letzte Gedicht im Band namens „Angesichts der entfesselten Publikationsverhältnisse“ ist wieder außergewöhnlich, auch in der Form, und bildet einen treffenden Abschluss. Es ist ein fortlaufender Fließtext, der jedoch durch Querstriche fortwährend unterbrochen wird und so die Zeilenumbrüche andeutet. Auf zweieinhalb Seiten wird hier stakkatohaft aus einem Dichterleben erzählt: die Themen der zeitgenössischen Dichtung werden aufgezählt, die prekäre Situation angesichts des Standes der Lyrik im Literaturbetrieb wird angedeutet, alles nur rein hypothetisch. Das Gedicht endet so:
„... was wäre / wenn wir alle nur noch so täten / als ob
/ dann müssten wir / rein theoretisch / versteht sich / unsere
Preisgelder / ehrlicherweis / rückerstatten / stell dir das / rein
hypothetisch / versteht sich / mal vor“
Ich empfehle Nancy Hüngers Lyrikband nachdrücklich.
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