„Auf dem offenen Engpass ins Leere“
Wer heute Pierre Guyotat bei einer Lesung vor sich hat, wird vor dem älteren Herrn wohl wenig Angst haben, geschweige denn einen Edding zur Zensur zücken wollen. Fast achtzig Jahre alt, aufgedunsen und mutmaßlich von Antidepressiva sediert, beantwortet Guyotat in ausschweifenden Anekdoten brav alle Fragen. In seinen letzten Büchern geht es auf oft eher possierliche Art viel um die Kindheit auf dem Land mit Tieren.
In den Siebzigern war Guyotat der vielleicht größte Avantgardist französischer Sprache, einer der radikalsten Dichter seiner Zeit. Sein Hauptwerk „Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten“ ist jedem Sinn entlaufene Gewalt, gepaart mit kompromissloser Wollust, die in „sieben Gesängen“ die Schrecken des Algerienkrieges, an dem der zwanzigjährige Guyotat teilnahm, durch die Sprache treibt, wonach nichts mehr von Heldenmut und politischer Abwägung über die Berechtigung der Metzelei übrig ist. „Eden, Eden, Eden“, ein hunderte Seiten langer Satz, landete wegen Pornografie-Verdachts zunächst auf dem Index. Roland Barthes, Michel Foucault und andere mussten sich gegen die Zensur des Buchs zur Wehr setzen. 1981 aber, mit Anfang 40, steigerten sich Guyotats Depressionen zu einem quasi komatösen Zustand: Er verstummte. Erst 2006 erschien wieder ein Buch, Titel: „Coma“, das sofort mit dem Prix Décembre geehrt wurde — und das lässt angesichts jahrzehntelanger Staatsfeindschaft, ästhetischer Kompromisslosigkeit ein wenig stutzen: Will der französische Staat den Dichter, der wegen Truppenmoral senkender Flugblätter zu Kriegszeiten inhaftiert wurde, nun als Nationaleigentum domestizieren?
Wer den nun erstmals in deutscher Sprache (übersetzt von Heinz Jatho) erschienenen „Bericht“, wie Guyotat das Buch selbst nennt, liest, wird schnell merken, dass mit ihm immer noch kaum ein Staat zu machen sein dürfte. In „Koma“ will der Dichter im wahrsten Sinne wieder „zur Sprache“ zu kommen. Der Text ist diktiert. Nach seiner Krise empfand er so großen Ekel davor, „Ich“ zu sagen, dass es ihm schlicht unmöglich wurde. Dem Zwang im eigenen Namen zu sprechen kommt Guyotat nur bei, indem er sich daran macht als Schriftsteller seine Figuren zu „vermehren“, ihnen zu „dienen“, wie er sagt — und was ist eine figura anderes als fixierte, bestimmte Sprache, an der man anfangen kann, sich zu halten? Er kann am besten mit den Ausgestoßenen, den Randständigen, es zieht ihn zu den Stricherjungen. Psychologisch fängt Guyotat sie nicht ein, sondern sakralisiert gewissermaßen die, die nicht zählen sollen. Sich auf den Anderen einzulassen, sich ihm zu öffnen, ist nicht nur die Losung Guyotats, auf die er immer wieder kommt, sondern auch ein wichtiger Gedanke für die französische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stichwort Philosophie: Hierin liegt wohl das einzige Defizit von „Koma“. In einigen kürzeren Passagen versteigt sich der Dichter in ein abstraktes Gefasel. Irgendwie klingt das dann nach Legitimation mittels unbeholfenen Räsonierens. Als Ganzes aber ist „Koma“ ein wertvolles, da radikales poetologisches wie poetisches Zeugnis davon, weiterzuschreiben nach dem Fall, ein Stemmen gegen jede Abfindung mit und durch die Vergangenheit, das Verbot hämisch zu kulturkritteln, wenn nach der „Durchquerung des Todes“, wie er schreibt, der Lohn nur das ist:
„Eine entzauberte Welt ohne merkliche Formen und Farben, (...) glanzlose Blicke, die einen nicht mehr sehen, Stimmen, die stets einem anderen gelten als einem selbst, der man von zu weit herkommt, (...) die tägliche Pflicht zu überleben, mit einem Herz, das einfach nur Blut pumpt, ein Blut, das nicht mehr wärmt. Man muss warten. Ohne Zorn. Fleißig essen, schlafen, sich waschen, sich ankleiden, gehen, jeden Tag: all das fast alleine, nicht einmal mit sich selbst zur Seite: Stoßweise, wenn auch ungeschickt, versuchen, wieder Mut zu fassen.“
Mit diesen Sätzen endet „Koma“. Zuvor wächst in Erinnerungen aus der Kindheit mit der geliebten Mutter, seinen Jahren als junger Mann in Paris, dem Streunen in den verrufenen Gegenden, Bordellen, ziellosen Reisen ein Bericht an, der von der Angst getragen ist, „das Leben könnte den Worten (...) entgehen.“ Dagegen drängt sich das Leben durch die Sprache auf: Guyotat schluckt in einer erschütternden, da vermutlich wahren Szene, sein Schmerzmittel Compralgyl mit schmelzendem Schnee. Er beschreibt den Nacken eines Mädchens, auf dem eine Fliege sitzt und kontrastiert das vorgeblich Reinste mit dem vermeintlich Unreinsten. Er verliert immer mehr an Gewicht und bleibt gleichzeitig mit seinem Wohnmobil, in dem er lebt, ständig überall stecken. Die Selbstreflexion, das Selbstverhör Guyotats sucht nach einer schier unmöglichen Freisetzung, nicht einfach provokatorischer Entblößung — auch wenn er von festen, vernarbten Arschbacken junger arabischer Männer schreibt, nach denen er sich sehnt.
Der Leser hat immer wieder den Eindruck Guyotat fällt in sich hinein, kippt sich hinter die Augen. Das ist kein innerer Monolog, der unentwegt registriert und versteht und einordnet. Hieraus kann kein Roman, kein Gesang werden kann, denn die Welt hat im Moment der Niederschrift, oder eben des Diktats, den Glanz verloren, der Guyotat, wie er schreibt, vorher getötet hat. Jacques Derridas Satz an den todgeweihten Paul de Man scheint sich durch diese Zeilen zu schleppen: „Tu meurs de la langue.“
Man muss bereit sein, sich auf diesen Taumel zwischen Selbstüberhöhungen zum Propheten (oder stimmt es vielleicht?) und -erniedrigungen einzulassen, die kein kohärentes Dichterleben bebildern, keine Anleitung zum Schreiben bietet oder das sprachlose Koma durch einen Wust wilder Metaphern ex post ausfüllt. Guyotat geht es nicht darum, diesem Loch Sinn zu verleihen und zu beweisen, dass er jetzt noch besser geworden wäre. Er will sich als Medium verstehen, in dessen Kampf mit der Sprache, sich etwas Wahres mitteilen kann. Es ist auch die Suche nach Leichtigkeit. Man sollte ihm Gehör schenken.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben