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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Gemma Habibi

Prosser fordert seine Leser mit einer Vielfalt an Themenfeldern heraus, sich der komplexen Wirklichkeit des Alltags zu stellen
Hamburg

Der Einstieg von Robert Prossers aktuellem Roman lässt mich unwillkürlich an Gaito Gasdanov denken, an diese Szene in „Das Phantom des Alexander Wolf“, in der ein Boxkampf so beschrieben wird, dass ich zum ersten Mal etwas von der Anmut und Schönheit dieses Sports erahne, den ich bislang als brutal und primitiv abgelehnt habe. „Gemma Habibi“ beginnt mit einer Kampfszene, mit der Vorbereitung auf deinen entscheidenden Kampf und den körperlichen Wahrnehmungen des Boxers. Bevor der Roman zurückblendet zu einer komplexen Vorgeschichte, die nicht nur erzählt, wie sich die Protagonisten kennen gelernt haben, sondern auch Grundlagen der Geschichte Syriens erzählt und den Leser unter anderem mit der mittelalterlichen Urform der Al Kaida bekannt macht, und ihn schließlich an Riten in Ghana teilhaben lässt.

Robert Prosser, Mitbegründer von Babelsprech, Mitherausgeber von „Lyrik von Jetzt“ und einem Band jüngst erschienener österreichischer Gegenwartslyrik , war mit seinem letzten Roman „Phantome“ für die Longlist des deutschen Buchpreis nominiert. Er reist viel und ist ein leidenschaftlicher Forscher, der wenig davon hält die Recherche für seine Bücher auf digitale Möglichkeiten einzuschränken. In einem Gespräch, das er mit Timo Brandt führte, erklärt Prosser:

„Ich empfinde literarisches Schreiben als im Grunde politischen Akt, aufgrund des Erzählens von abweichenden, alternativen sozialen Welten und Denkmustern. […] das Bewusstsein dafür, dass Literatur eben das bedeutet: rauszugehen und sich mit dem Inhalt des eigenen, zu schreibenden Textes so obsessiv wie möglich zu beschäftigen, um diesen Inhalt, der ein Mensch oder ein Land sein kann, eine Tätigkeit oder ein Gefühl, so tiefreichend wie möglich zu verstehen. Ich höre oft, dass man durch das Internet doch jegliche Recherche von zuhause aus erledigen kann. Ähnlich dumm finde ich die Aussage, dass man nur über Dinge schreiben sollte, die man kennt. Scheint mir alles ein Bekenntnis zur Nabelschau, zur Lethargie. Interessant ist, dass erst der direkte Kontakt mit Fremden und das Unterwegssein eine Vielfalt enthüllen, an Details und an Geschichten, an eigenen Gedanken und Gefühlen, die sich in keinster Weise durch das virtuelle Wissen, über das wir zu verfügen glauben, ausdrücken, geschweige denn einfangen ließe.“ 

Inspiriert von einem Computerspiel macht sich Lorenz, der Erzähler und Protagonist von Gemma Habibi, im Rahmen seines Studiums der Kulturanthropologie auf die Suche nach den Wurzeln von Assasin Creed. Hier, während Lorenz in Syrien, aus seiner scheinbar durch sein Studium und das Computerspiel vorgegebenen Geschichte, in die eigene Geschichte aufbricht, trifft er auf Elena, die Fotografin. Eine Begegnung von ebenso anziehender wie verwirrender Ambivalenz:

„Elena wirkte so vertrauenswürdig, dass man sich ihr für eine allumfassende Beichte in die Arme werfen wollte, und dann schnitt ihr Grinsen einem die Kehle durch.“

Im kurdischen Teil Syriens lernen Elena und Lorenz Zaim, genannt „Z“ kennen. Er und sein Bruder stellen sich als Initiation des Erzählers in die fasziniere Welt des Boxsport heraus.

Prosser verknüpft die Themenfelder Körper, Wahrnehmung und Geschichte auf subtile und äußerst gekonnte Art. Geschickt wechselt er den Ton, je nachdem, ob es um Hintergründe, Politik, die Liebe, oder um den Kampf geht.

„Zweimal die Woche kam ich ins Gym, fasziniert von der Atmosphäre, erschaffen aus Tigerbalsam und Schweiß, Schnaufen und beschlagener Spiegelwand, aus den rausgeschrienen Worten wie ajde, mit dem sich die Jugos anfeuerten, ajde, schnell, und ajde, härter, und die roten Ziffern der Digitaluhr an der Wand tickten runter, 1:49, 1:48, 1:47, ajde, mach schon, Die Kommandos Andis, die Angst vorm Gegner, die Angst im Ring. Nervös erwartete ich jedes Mal, dass die letzte halbe Stunde begann und Andi rief: Sparring. Alle paar Minuten wurde der Partner gewechselt, es zeigte sich, wie schwach man war, wie talentiert, zaghaft oder selbstbewusst.“

Eindringlich beschreibt er die Nivellierung von Status, Bildung und Herkunft im Gym. Aber auch die dort herrschende Hierarchie. Die Welt des Boxens ist ein geschlossener Kosmos, eine einfache, archaische Welt, in der der Körper und der Schmerz die Führung übernimmt.

„Das Gym war für mich ein Labor, um am eigenen Leib zu prüfen, wie unterschiedlich Schmerz sein konnte. […] War der Schmerz vergangen, konnte ich mich kaum daran erinnern. Er schrieb sich in eine Schicht des Körpers ein, auf die meine Gedanken keinen direkten Zugriff hatten.“

Die Technik, die Psyche, das Umfeld des Boxens. Robert Prosser weiß sehr genau, wovon er schreibt. Er behauptet nicht, er lässt den Leser die Ereignisse erleben, fühlen. Immer wieder gelingt es ihm die ganze Ambivalenz und Schönheit dieses scheinbar so harten, brutalen Sports einzufangen.

„In seinen Augen jene Zärtlichkeit, die mich im Kampfsport immer wieder erstaunt. Er hatte verstanden, dass zwar alle Knochen heil, aber dennoch etwas in Andi zerbrochen war.“

Das Boxen, mit seiner Nivellierung und Ambivalenz, gibt vielleicht den denkbar besten Rahmen ab, für all die Geschichten, die Prosser in „Gemma Habibi“ zu erzählen hat. Vom Flüchtlingsstrom in Österreich, von seltsamen Phänomenen wie dem Valentinstag im kriegsversehrten Syrien, von Unterdrückung, Flucht und Krieg. Von beinah überfordernd vielen Lebenswelten und Landschaften, die mit sinnlicher Prosa allesamt einfühlsam, bildlich und nahezu erlebbar eingefangen werden. Der Leser hört, riecht, fühlt, sieht. Da sind immer wieder die Fotos, die Rhythmen, der Kampf. Wobei Prosser auch die wirtschaftlichen Interessen und Verstrickungen nicht ausspart, weder im Sport noch im Bereich der Medien. Ebenso wenig wie die Schwierigkeit, der „Wahrheit“ zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der kulturanthropologische Vergleich, die Gegenüberstellung vom Boxen und seiner besonderen Welt und Faszination mit der Kultur Afrikas, scheint den Rahmen auf den ersten Blick zu sprengen. Prosser betritt auf wenigen Seiten so viele Räume, die zwar motivisch zusammengehalten werden, aber in der Kürze unmöglich gänzlich durchschritten werden können.

Was Ghana mit der Wiener Boxszene, mit Syrien und dem geflüchteten Z verbindet, ist das Motiv der Besessenheit. In Ghana wird Lorenz Zeuge exorzistischer Riten, in denen er Parallelen zum Boxsport entdeckt. Das Boxen ist längst sein Lebensmittelpunkt geworden. Liefert die Koordinaten, an denen entlang er sich orientiert. Dieses Motiv spielt der Roman konsequent durch. Die Besessenheit von einer Idee, für Z und Lorenz das Boxen, der Kampf, für Elena die Fotos, ist für alle Protagonisten und für den Roman an sich, das verbindende Element, das zentrale Motiv.

Vielleicht ist es nicht ganz falsch zu behaupten, dass der Roman aufgrund der Vielfalt von Geschichten, die er erzählt, den Leser überfordert. Andererseits ist genau das ein Merkmal unserer Zeit, dass dermaßen viele Räume nebeneinander existieren, dass wir uns immer nur oberflächlich und vorläufig zurecht finden können. Insofern ist „Gemma Habibi“ gerade mit seinen vermeintlichen Schwächen ein „fulminantes Porträt der Jetztzeit“, wie es der Klappentext gewohnt marktschreierisch verspricht. Ein undurchschaubares Chaos, dem sich Robert Prosser auch in diesem Roman mit Neugier, Offenheit und einem allumfassenden Interesse für das, was um ihn herum geschieht, annimmt.

Robert Prosser
Gemma Habibi
Ullstein
2019 · 224 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
9783961010141

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