ein kleines blatt am großen baum
Ruth Lillegraven, 1978 in Westnorwegen geboren, fühlt sich in vielen literarischen Genres zu Hause. Sie publizierte mehrere Bücher für Kinder, einen Roman sowie den Psychothriller „Alt er mitt“, der 2020 in deutscher Übersetzung im Ullstein Verlag erscheinen soll. Debütiert hat die Schriftstellerin 2005 jedoch mit einem Lyrikband, „Store stygge dikt“ (Große hässliche Gedichte). Für ihren Gedichtband „Urd“ erhielt sie 2013 den renommierten Bragepreis. Nun liegt mit „Sichel“ ihre vierte Lyrikpublikation vor, zugleich die erste in deutscher Sprache, übertragen vom Lyriker und Übersetzer Klaus Anders. Das Original erschien 2016 in Norwegen unter dem Titel „Sigd“.
Lillegraven selbst gibt in ihrem Nachwort Auskunft über das Buch. Es basiert auf dem Tagebuch eines Bauern namens Ole T. Kjerland, der im 19. Jahrhundert in Norwegen lebte, genauer von 1822-1883.
Die Geschichte von dem starken, gesunden Hoferben, der krank wurde und keine Nachkommen hatte, faszinierte mich sofort
schreibt die Lyrikerin und weiter:
Das Tagebuch ist sehr nüchtern und knapp im Stil. Das Gefühlsleben Endres [Anm.: der Hoferbe] geht selbstverständlich auf meine Rechnung. Und die meisten Gedichte in „Sichel“ haben nichts mit Ole T. Kjerland zu tun.
Dessen Tagebuch wird zum Grundgerüst ihrer poetischen Auseinandersetzung. Als weitere Quellen nennt sie wahre historische Geschehnisse sowie Volksgeschichten, die sie mit ihrer eigenen Fantasie zu einer poetischen Erzählung verdichtet. Lillegraven zeigt die Härte und Unausweichlichkeit eines bäuerlichen Lebens im Norwegen des 19. Jahrhunderts, exemplarisch vorgeführt am Leben Endres.
Das Buch ist unterteilt in vier Kapitel mit einem Pro- und einem Epilog. In einem großen epischen, durch Stimmungsbilder angereicherten Bogen umspannt Lillegraven das Leben ihres Protagonisten. Das Buch beginnt, als Endre etwa vier Jahre alt ist, und es endet mit seiner Beerdigung. Er ist der älteste Sohn einer Bauernfamilie, wird früh auf seine Mannespflichten vorbereitet und darauf, einmal den Hof zu übernehmen. Die Familienstrukturen sind archaisch: Männer sind stark und kräftig, sie arbeiten schwer, Frauen versorgen den Haushalt und ziehen eine große Zahl an Kindern groß. Das Leben ist hart, mehrere der Kinder sterben, eines Tages brennt der Hof ab. Als Endre siebzehn Jahre alt ist, trifft die Familie ein weiterer Schicksalsschlag, da der Vater erkrankt:
doch in diesem winter ... bekam /er ein gliederreissen, liegt, die mageren hände auf der decke / in schmerzen, so dass meine mutter es kaum aushält da drinnen, auch / meine geschwister nicht, doch ich war da, ich saß da, gewiss war / mein vater verbogen und verspannt, als wäre er ein alter, krummer / bär, doch ist er weiterhin mein vater, stark und zäh
Er leidet an schwerem Rheumatismus und kann seiner Arbeit nicht mehr nachgehen. Da übernimmt Endre die Arbeit des Vaters und kümmert sich gemeinsam mit seinen Brüdern und Nachbarn auch um den Wiederaufbau des Hauses. Die überlebenden Geschwister reifen heran und „alle gehen“. Sein Bruder Knut wandert nach Amerika aus, seine Schwestern heiraten und ziehen zu ihren Ehemännern. Endre lernt eine Frau namens Abelone kennen. Bald nach der Hochzeit wird ihm der Hof überschrieben und er ist bereit, der Vorsehung zu folgen:
da stehen mein vater, sein großvater, sein vater / und dessen großvater, alle stehen sie da, die arme über / der brust gekreuzt und nicken, ihr knappes nicken / denn ich bin der sohn von svein, und / er ist, was ich sein soll
In dieser Reihe ist auch die Zukunft schon vorbestimmt, denn Endre wird dereinst den Hof an seinen ältesten Sohn übergeben, der wiederum an seinen Sohn usw. Doch der Lauf des Lebens will es anders. Abelone verliert ein Kind durch eine Fehlgeburt und wird nicht mehr schwanger werden. Endre hingegen ereilt das Schicksal seines Vaters. Denn er erkrankt an schwerem Rheumatismus, ist plötzlich, „ein elend ist das“, nicht mehr in der Lage, die schwere Landarbeit zu verrichten. Er übergibt den Hof schließlich an seine Schwester Signe und deren Mann. Abelone und er leben fortan im Ausgedinge. Sie trauert um ihr verlorenes Kind, er weiß mit dem aufgezwungenen Müßiggang nicht umzugehen, denn ein Mann müsse „eine aufgabe“ haben, „hauen, jagen, sammeln“. Jetzt, so sein Fazit, könne er nichts mehr tun, sei daher nichts. Er wird zum Schweigenden, der sich in sein Unglück vergräbt. Endres Rettung naht in Form eines englischen Wörterbuchs, das ihm sein Bruder Knut „über das meer“ schickt. Er, der „doch nie bücher gelesen“ hat, weiß mit dem Geschenk zunächst nichts anzufangen. Aber Neugier treibt ihn und
bald / spreche ich die neuen worte /espenblattleicht in mich hinein
Lesend vergisst er die Welt, vergisst auch Abelone. Er ist wie ein Schwamm, der die neuen Wörter gierig aufsaugt. Zugleich verstummt er, eine Verhaltensweise, die er schon als Kind zeigte, als ihm das Schweigen einst „eine andere sprache“ wurde. Seine Frau hat das Gefühl, ihr Leben an seiner Seite zu vergeuden und beginnt, sich von ihm zu entfernen. Über das Buch, das Erlernen des englischen Vokabulars und das gemeinsame Lesen kommen die beiden einander allmählich wieder näher. Sie werden zu Eigenbrötlern, die in einer eigenen, für andere kaum verständlichen Privatsprache miteinander reden, über die Knut sagt:
Nun sprechen sie eine art englisch, Endre und Abelone, denn das haben / sie sich beigebracht. Ich muss norwegisch mit ihnen sprechen, denn von / ihrem englisch verstehe ich kaum ein wort, doch die beiden reden dau-/ernd miteinander in dieser seltsamsten aller seltsamen sprachen.
Es ist eine einfache Welt, die Ruth Lillegraven in ihrem poetischen Märchen zum Leben erweckt. Zu dieser Einfachheit passt, die auf einige wesentliche Begriffe reduzierte, schlichte Sprache. Da ist die Stärke des Mannes, die mit dem Bild des Bären versinnbildlicht wird. Zugleich ist der Bär Symbol für Gefährdung, einerseits durch das real existierende Tier, das getötet werden muss, um Menschen vor ihm zu bewahren. Andererseits ist die Krankheit Rheumatismus wie ein starker Bär, dem Endre und sein Vater hilflos ausgeliefert sind und der ihnen ihre Bärenkräfte raubt. Es gibt die Natur, hier reduziert etwa auf die Begriffe fjord, erde, berg, ebbesand, wind oder schnee, es gibt die Landarbeit u.a. mit „sichel und sense“, und es gibt das Nichterdhafte, den Himmel und seine Gestirne, vor allem den „mond“, das vermutliche häufigste Nomen dieses Buchs, und seine verlässliche Veränderung, insbesondere sein Stadium der Sichelform. Aber auch magische Zuschreibungen und sagenhafte Wesen haben ihren Platz in diesen Texten, etwa „huldren“, von denen man glaubt, dass sie „menschen verhexen“ können.
Die meisten Gedichte sind in durchgehender Kleinschreibung verfasst. Im Zentrum steht ein „ich“, meist ist es jenes von Endre, in einigen Texten auch das seines Vaters Svein. Manchmal wechselt die Perspektive und es erzählen Abelone oder Knut, was in den Texten durch das Einführen von Großbuchstaben bei Namen und am Beginn jedes Satzes kenntlich gemacht wird. Die Gedichte haben ganz unterschiedliche Form, sind häufig Prosagedichte, aber es gibt auch strophisch gegliederte Texte mit manchmal sehr kurzen Versen. Ist die Sprache auch schlicht, der Wortschatz eingeschränkt, so findet sich doch die eine oder andere Sprachspielerei, zumindest in der deutschen Übertragung durch Klaus Anders, etwa Worte wie „hühnerspünerfroh“, was auch immer das sein mag, oder „espenblattleicht“. Selten gleitet der Text in den Kitsch ab, etwa wenn es heißt, die Mutter sei „sonnenschmelz und butterblume“, der vater „altfichte und adlerkreisen“.
Thema dieses Lyrikbandes ist aber neben der vermeintlichen Unabwendbarkeit des Schicksals wiederholt auch ein mögliches Entrinnen. So sei es Endres Großvater einst gelungen, seiner Bestimmung zu entfliehen, erzählt Svein, nur um zugleich zu betonen, wie anders doch er selbst und Endre seien. Das Kind träumt davon, alles tun und alles sein zu können. Er sehnt sich weg, will etwas anderes machen. Endre beneidet Knut um dessen Aufbruch in die weite Welt, wäre gern an seiner Stelle. Letztendlich fügt er sich aber dem Anspruch des Vaters, der seinem Sohn von klein auf vorlebt, was dieser als Hoferbe tun und wie er sein müsse. Und so bleibt am Ende nur die Errettung aus der Mühsal des Lebens durch ein Buch – eine gefühlige Wendung, die manch Buchaffinen wohl gefallen wird.
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