Im Bett und doch in der Welt
Wie gerne wäre sie wie ihre Brüder, Henry und Williams James, würde mit den Schulkindern spielen, den Eltern eine Freude sein und später von Universität zu Universität ziehen. Wie gerne würde Alice James (1848-1892) die Ideen ihrer Zeit analysieren und die drängenden Fragen, die sich ihr stellen, mit ihrem Umfeld durchgehen. Viel wird diskutiert im Amerika nach dem Bürgerkrieg, Vieles ist im Umbruch. Inwiefern kann armen Familien in den USA zu Zeiten der Industrialisierung geholfen werden, fragen sich da einige, und was wird aus dem Wahlrecht für Frauen? Aber auch persönliche Fragen nach der eigenen Identität und dem Platz für eine zeitlebens kranke Frau wie sie in der amerikanischen und englischen Gesellschaft bleiben James in der Kehle stecken.
„ein gedanke, ein satz nach dem anderen verkümmert in deinem hirn, worte vertrocknen dir auf dem gaumen, bilden eine spröde schicht, setzen sich fest, verkrusten deine stimmbänder, das schlucken fällt dir schwer“
Mit immensem Einfühlungsvermögen versetzt sich Simone Scharbert in ihrem Debütroman „du, alice“ in die Zeit von James‘ Leben und schildert in ihrer „Anrufung“ die harten Methoden zur Herrichtung des weiblichen Geists und Körpers im 19. Jahrhundert. Von rauschenden Reifröcken und dem engen Korsett samt sorgfältig „geknöpfter linie im rücken“ ist da die Rede, von den gängigen Hysterie-Diagnosen und der „holtz electrical machine“, mit der man der „Krankheit“ auf den Leib zu rücken versucht.
„neu ist der ring, silbern glänzend, den man dir jetzt um deinen kopf legt. du bist die prinzessin der neurasthenie, dein haar hängt offen an den seiten der holzbank hinab, eine dunkle flut um deinen kopf, und das medizinische diadem ist festgezurrt, als wollte man dir all jene dinge aus dem kopf quetschen, die du dort versteckt hältst.“
So himmelschreiend und beinahe grotesk erscheint das James’ seelisch angetane Leid, gerade vonseiten des strengen Vaters, dass ihre langsame Emanzipation im Alter von 24 Jahren wie eine vorsichtige, von der/dem Leser*in lang ersehnte Befreiung erscheint. Als Anna Eliot Tickner 1873 in Boston die “society to encourage studies at home“ gründet und Frauen durch Briefe an einer “silent university” teilhaben lässt, erhält auch Alice James die Bitte, als Lehrerin per Briefe zu unterrichten, und nimmt, gerade zurück nach einer ersten langjährigen Reise durch Europa, dankend an.
„da ist ein warmer, weißlichter punkt tief in dir[…]wächst in dir hoch, gibt dir halt, lässt deine augen leuchten. du, alice, ja, warum eigentlich nicht, du, alice, die du so viel gelesen hast, und so gerne briefe schreibst, warum sollst du nicht teil dieser gesellschaft werden?“
Für Alice James folgen Aufeinandertreffen mit der Pädagogin Elizabeth Peabody oder der Autorin Constance Fenimore Woolson später in London. Durch ihre lebenslangen Zustände von Schwäche häufig ans Bett gefesselt, werden die Gesellschaften bei Alice James trotzdem ein voller Erfolg, ist ihr Salon stets gut besucht. Dank der Beziehung zur jungen Katharine P. Loring erhält sie die Chance auf ein Leben abseits der Familie, umsorgt von ihrer guten Freundin und Lebensgefährtin. Da, wo Alice James zuvor „keinen verstärker, kein sprachrohr“ hatte, tritt mit der Umsiedlung nach London und ihrem „first journal“ leise Hoffnung in ihr Leben, so deutet Scharbert an. Fein vermag sie, dem körperlichen Leiden durch den spät diagnostizierten Brustkrebs und den Freitod-Gedanken James‘ eine lichte Seite voller politischem Engagement sowie Zärtlichkeit für Katharine und Bruder Henry beizuordnen. So ergibt sich das Kaleidoskop einer brillanten, über lange Zeit unverwirklichten und von ihrer Familie verkannten Frau.
„du glaubst an katharines hände, an ihre stimme, ihren blick, glaubst, dass sie weiter in der welt sein wird, und du mit ihr, als erinnerung, als falte in ihrem kleid, als fleck auf ihrer brille, und dass katharine deine texte verwahren wird, auch daran glaubst du, sie hat es versprochen, sie wird dein schreiben gegen henry und william verteidigen“
Der Modus der Anrede mit dem „Alice-Du“ funktioniert bei Scharbert so gut wie selten und ermöglicht den Leser*innen, ganz nah an die Tagebuch-Autorin zu treten. Auch die englischen Originalzitate aus Briefen und dem postum erschienenen Tagebuch von James lassen die beschriebene Kulisse real werden und üben einen eindringlichen, liebevollen Sog aus, der die ganze Anrufung prägt.
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