Gefühlte Wahrheiten
Was ist eigentlich Wahrheit? Was ist Realität? Was ist Schuld? Und, viel wichtiger: Was ist, wenn es auf all diese Fragen mehr als nur eine Antwort gibt? In Zeiten, in denen der größte Lügner im Oval Office sitzt und wirkt wie ein Monsterclown, den Stephen King sich ausgedacht haben könnte, scheint die Realität längst jede noch so durchgedrehte Fiktion eingeholt zu haben.
Doch King war schon immer gut darin, die Zeitgeschichte hochaktuell in seinen Büchern zu spiegeln. Und das gelang ihm immer dann am besten, wenn der Spiegel der kleinstädtische amerikanische Provinz-Mikrokosmos war. So auch in seinem aktuellen Roman „Der Outsider“, der darüber hinaus ein Feuerwerk an Popkultur-Anspielungen ist. Da tritt Krimiautor Harlan Coben als die Figur auf, die dem Hauptverdächtigen in einem Mordfall ein wasserdichtes Alibi verschafft, während die ermittelnden Polizisten sich fühlen, als hätten sie die X-Akten geöffnet; die Frau des Detectives zieht Parallelen zu Geschichten von Edgar Allan Poe; sein Kollege wähnt sich in einer mexikanischen Gruselgeschichte aus seiner Kindheit, die wiederum auf Wrestling-Trashfilme aus den Siebzigern verweist – und um den kniffligen Fall schließlich zu lösen braucht es Unterstützung von einer Hauptfigur aus Kings eigenem Bestseller „Mr. Mercedes“.
Was irre klingt führt direkt ins Herz des Themas: Das Geschichtenerzählen. Und die Frage, ob hinter einem Schauermärchen für Kinder nicht sogar mehr Wahres steckt als in vermeintlich handfesten DNA-Spuren. Was man auch dann als böse Anspielung auf Donald Trumps Twitter-Eskapaden lesen könnte, wenn der Roman keine direkten Anspielungen auf den amtierenden US-Präsidenten enthielte (der übrigens, true story, Stephen King auf Twitter geblockt hat).
In der fiktiven Kleinstadt Flint City, Oklahoma, wird ein elfjähriger junge brutal missbraucht und ermordet. Die Polizei muss nicht lange nach einem Täter suchen. Sie findet reichlich Fingerabdrücke, DNA-Spuren und obendrein gibt es eine ganze LKW-Ladung übereinstimmender Zeugenaussagen. Da der Staatsanwalt unter Druck steht und schnelle Ergebnisse will, lässt Detective Ralph Anderson den im ganzen Ort beliebten Englischlehrer und Trainer der Jungen-Baseballmannschaft Terry Maitland öffentlichkeitswirksam im kleinen Stadion während eines Spiels festnehmen.
Doch dann stellt sich heraus: So wasserdicht wie die Indizien sind ist auch Maitlands Alibi: Er war zur Tatzeit gut hundert Kilometer entfernt zusammen mit drei Kollegen bei einer Lesung von Harlan Coben. Und das wurde sogar von einem örtlichen TV-Sender festgehalten.
Was ist Wahrheit? Immerhin steht fest, dass sich ein Mensch nicht an zwei Orten gleichzeitig aufhalten kann. Oder? Anderson gräbt tiefer, und je mehr Widersprüche auftauchen, desto größer werden seine Zweifel, während der Staatsanwalt unbeirrt an seinem Gerichtstermin festhält und ein aufgebrachter Mob den vermeintlichen Kindermörder Maitland lynchen will: Es sind jene Leute, deren gefühlte Wahrheiten ihre ganze Realität bilden, und die keinerlei Geduld haben, das Ergebnis von Ermittlungen oder gar einem Gerichtsverfahren abzuwarten. Willkommen in Trumpistan. Oder in Chemnitz. Oder bei der BILD-Zeitung. Das Phänomen ist ja keineswegs auf die USA begrenzt.
Darüber hinaus ist King mit „Der Outsider“ ein so dichter wie atemlos spannender Roman gelungen, dessen unerwartete Wendungen und wahnsinnigen Handlungskapriolen dafür sorgen, dass trotz des beachtlichen Umfangs von 750 Seiten keinerlei Längen entstehen.
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