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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Berühmte Künstler und ihre Modelle.

Hamburg

22 Kapitel mit den Abbildern von Gemälden, auf denen schöne Frauen, gestaltet von berühmten Malern, zu sehen sind – eine solche Ankündigung ruft sicherlich die Aufmerksamkeit von kunstbegeisterten Leser/innen hervor. Angelockt von einer unbekannten russischen Mona Lisa auf der Vorderseite des Hard-Cover-Einbandes, werden sie im Inhaltsverzeichnis mit der Auflistung illustrer Namen konfrontiert, die einen Querschnitt durch die europäische und die amerikanische Kunstgeschichte von der mythischen Galathea aus der griechischen Antike bis zu John Lennon und Yoko Ono anbietet. Die frühkindlichen Anregungen für dieses ambitionierte Vorhaben bildeten für Tatjana Kuschtewskaja das „Museum der Phantasie“ ihres Vaters, der ein begeisterter Hobbymaler war. Von ihm habe sie gelernt, dass Dinge leben, eine Seele haben, ein Schicksal und ein Gedächtnis. Von diesem tiefen Mitgefühl ist auch ihre emotionale Hingabe und ihr Mit-Leiden für jene schönen Frauen erfüllt, die als Geliebte, kurzfristige Ehefrauen und Modelle für ihre Künstler zur Verfügung standen. So bekennt sie in ihrem Vorwort, dass sie das Schicksal der Olga Chochlowa, der Ehefrau von Pablo Picasso (1918) und der von ihm verstoßenen, nach 1926 in den Wahnsinn getriebenen Ex, als Drama begreifen wollte, mehr noch, sie wollte verstehen, was Olga sagen würde, wenn ihr Porträt aus dem Jahr 1917 sprechen könnte. Gleichzeitig möchte sie wissen, wie es möglich war, dass der bedeutendste Maler des 20. Jahrhunderts mit jeder neuen Geliebten die verflossene Liebe aus seinem Gedächtnis tilgen konnte. Dieses libido-psychologische Beschreibungsmuster überträgt Kuschtewskaja auf die meisten ihrer mit viel Herzblut und Hingabe geschriebenen Essays. Ihre Erzählweise imitiert und demontiert den Märchenstil, bedient sich meist des unmittelbaren visuellen Erlebnisses beim Museumsbesuch, greift journalistische Schreibweisen auf, wählt den nüchternen, das konkrete Ereignis aufgreifenden Stil, nimmt Anleihen an theatralischen Stilelementen, lässt sich von Alltagserlebnissen bei ihrer Suche nach neuen Motiven leiten. Diese sehr unterschiedlichen Darstellungsformen fördern die Lektüre ihrer imaginativen Reise durch die Ateliers und der sich dort abspielenden erotischen Szenen und künstlerischen Szenarien. Doch wer nun vermutet, die Autorin gebe sich irgendwelchen lüsternen Phantasien hin, der ist auf dem Holzweg. Der emotionsgeladene Streifzug durch imaginierte Ateliers, jämmerlich eingerichtete Wohn- und Malbuden, Freiluft-Ausstellungen, über Plakatabbildungen und grafische Dokumente ist stets orientiert an den Lebensumständen, unter denen die schönen Frauen als Modelle existierten. Das bedeutet, dass Modell und Künstler sich auf einer Stufe der Anerkennung durch die Autorin befinden, dass sich ein emanzipatorisches Verhältnis zwischen dem weiblichen Modell und dem jeweiligen Künstler im Ansatz herausbildet. Umso wesentlicher ist es, dass auch ein frühes Selbstbildnis der deutschen Künstlerin Angelika Kauffmann (1741-1807) unter den Essays befindet. Die angesehene Porträtmalerin, die während ihrer ersten Schaffensphase in London mehrfach von Angehörigen des englischen Hochadels düpiert und in Mißkredit gebracht wurde, erhält durch die Autorin eine besondere Würdigung, indem sie auf die sozialen Umstände aufmerksam macht, unter denen die Künstlerin litt.

Es gehört zu den lobenswerten Eigenschaften der Publikation, dass Leser/innen nicht nur immer wieder auf die Orte aufmerksam gemacht werden, wo die Akteure unter welchen Begleitumständen gewirkt haben, sondern auch auf welchen Friedhöfen ihre Gräber zu finden sind. Auf diese Weise sind die Geheimnisse schöner Frauen nicht nur anregende Abbilder für Voyeure, sie verleiten auch zu weitergehenden kunstgeschichtlichen Studien. Egal, ob es Justine im Bild von Gustave Courbet, die geheimnisvolle Rückenansicht einer Tehura von Paul Gauguin, gemalt während seines Aufenthalts auf Tahiti, das bizarr verfremdete Antlitz von Madeleine Castaing aus der Werkstatt von Chaim Soutine oder die Unbekannte von Iwan Kramskoj ist – sie verlocken interessierte Kunstlieber zu weitergehenden Studien und werden dabei allerdings mit einem Dilemma konfrontiert. Quellenverweise oder Hinweise auf weiterführende Literatur sucht man vergeblich. Andererseits finden kunstbegeisterte Leser aufgrund der eingehenden Beschreibungen in den mit Hingabe und viel Herzblut geschriebenen Essays ohnehin viele Anregungen für vertiefende Betrachtungen.

Tatjana Kuschtewskaja, Verfasserin vieler Reiseberichte und Kennerin vor allem russischer Lebensweisen, hat sich mit der Erforschung der „Geheimnisse schöner Frauen“ auf ein schwieriges Terrain begeben, dessen Untiefen und Unwägbarkeiten sie mit viel Courage, stilistischem Geschick und unermüdlichen Recherchen bewältigt hat. Dennoch bleibt eine Nachfrage: der Leser hätte gerne gewusst, woher so mancher treffliche Zusatz zu ihrem vortrefflichen Text stammt.  

Tatjana Kuschtewskaja
Geheimnisse schöner Frauen
Grupello
2018 · 192 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-89978-301-8

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