Skandal: Rammstein-Sänger schlägt das Versmaß kaputt!
Ein paar Schlagzeilen der letzten Wochen aus einschlägigen Online-Klatschblättern: „Rammstein: Sänger Till Lindemann bringt Gedichtband heraus – Cover schockt Buchfans“; „Rammstein-Sänger hat echten Sex in Musikvideo“; „Ekel und Entrüstung: Till Lindemann wirft mit toten Fischen“; „Till Lindemann schockt mit Porno-Video“.
So weit, so gähn. Aber andererseits auch phänomenal, dass sich bei Lindemann, seit er 1994 erstmals als Frontmann von Rammstein die Bühne betrat, eigentlich nichts geändert hat. Der Unterschied ist der, dass die andauernden Provokationen und Skandälchen inzwischen längst nur noch ermüdend sind. Klar, es wird immer ein gewisses Publikum geben, das drauf anspringt. Dass sich mit Schrott viel Geld verdienen lässt, daran wird sich wohl ebenfalls nie etwas ändern. Geschenkt.
Was an einem Porno-Video im Zeitalter von PornHub (und Jahrhunderte nach De Sade) noch schocken soll – man weiß es nicht. Was an geköpften Fischen auf der Bühne Jahrzehnte nach Ozzys geköpfter Fledermaus (der hatte wenigstens noch die Zähne dazu...) schocken soll – man weiß es nicht. Was an dem Cover von Lindemanns drittem, gerade bei KiWi erschienenen Gedichtband „100 Gedichte“, auf dem zwei Stierköpfe durch Geschlechtsorgane ersetzt wurden, schocken soll – man weiß es nicht.
Natürlich kann man das alles auch mit dem Brecheisen intellektualisieren, wie es gerade wieder die Süddeutsche Zeitung getan hat („Eine eklig-schöne, durchkomponierte Gesellschaftskritik“), aber das war schon immer irgendwie albern. Aber vermutlich geht das nicht anders, wenn man sich in einem bürgerlichen Qualitätsblatt als Lindemann-Fan outen will.
Die Coverillustration von Matthias Matthies (dessen Zeichnungen sich auf ähnlichem Niveau durch das ganze Buch ziehen) – man kann sie natürlich als Kommentar zum ewigen Krieg der Geschlechter lesen. Man kann sie auch einfach doof finden. Aber sie erfüllt ihren Zweck: Sie nimmt, sowohl formal aus auch inhaltlich, die in Zusammenarbeit mit SZ-Journalist Alexander Gorkow ausgewählten Gedichte vorweg.
Und die gehen zum Beispiel so:
Wer weiß wie lang die Liebe hält
Ich liebe dich du liebst mein Geld
Wie solch ein Zweizeiler das Lektorat überlebt hat – man will es nicht wissen. Und es ist keineswegs das Banalste der 100 Gedichte.
Nun muss man Lindemann zugestehen, dass er durchaus originell sein kann, dass er ein Gespür für lyrische Bilder und Neologismen hat, die aufhorchen lassen, die nachhallen. Es gibt genügend von ihm getextete Rammstein-Songs, die durchaus poetische Qualität haben, was aber regelmäßig konterkariert wird, indem sie Seite an Seite mit spätpubertären Ausbrüchen stehen, bei denen man vor Fremdscham im Boden versinken möchte. Im vorliegenden Buch ist das nicht anders – nur dass man nach originellen und gelungenen Versen wie dem Folgenden leider mit der Lupe suchen muss:
Zusammen traurigt es sich besser
Das hat Kraft und Witz, das nimmt der im Gedicht besungenen „Armee der traurigen Menschen“ gleich ihre Schwere, gibt ihnen lyische Leichtigkeit. Wie schön wäre es, würde Lindemann sich energischer auf die Suche nach genau solchen Einfällen begeben, anstatt noch mit den müdesten spontanen Ergüssen (pun intended!) zufrieden zu sein – viele davon, wie Gorkow im Vorwort mitteilt, per SMS übermittelt. Und die Frage, ob manche Ungenauigkeit Absicht ist oder einfach schlampig Korrektur gelesen wurde, mag hier jeder für sich entscheiden:
Ich bin ein guter Esser
Mein Magen fing an zu knurrt wie ein Kettenhund
Vielleicht war's die Autokorrektur. Soll ja vorkommen in Zeiten von WhatsApp-Lyrik. Die steile These aus dem Klappentext, Lindemann würde „Traditionen deutscher Lyrik“ „umkreisen“ und „dabei mit den klassischen Formen der Dichtung“ spielen lässt immerhin schmunzeln, wenn das Versmaß holpert und stolpert wie in diesem und so vielen weiteren Gedichten:
Der Aderlass macht sehr wohl Sinn
Das Blut fließt zum Hirne hin
Nimm die Hände vom Gesicht
Und sieh dich an
Bessere Zeiten kommen nicht
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