Rhizomatisches Schreiben im Schilf
Nature Writing ist bis zu einem gewissen Grad auch immer ein nature feeling: Nicht wenige Autor*innen, die sich intensiv mit dem Thema Natur beschäftigen, fragen sich irgendwann, wie es denn wäre, wenn sie die Welt mit den Augen eines Tieres betrachteten oder versuchten, den Standpunkt eines Baumes ein-zunehmen. So reizvoll dieser Perspektivwechsel auch scheint, so problematisch ist er, denn im Grunde bewirkt er das Gegenteil von dem, was er anstrebt: eine Vermenschlichung, die den vermeintlich neuen Blick nicht selten abgeschmackt und künstlich erscheinen lässt.
Der Vorarlberger Udo Kawasser versucht sich nun genau an diesem heiklen Trick. „Ried“ ist der abschließende Band seiner Trilogie über das Wasser. In „Unterm Faulbaum“, seinem ersten Buch zum Thema, betreibt der Autor im Grunde klassisches Nature Writing: Immer wieder begibt er sich an einen Altwasserarm der Wiener Donau, um dort zu schwimmen und sein Tagebuch zu führen. Das „Ineinander von Land, Luft und Wasser“ öffnet ihm einen „Reflexionsraum“, der ihn näher zu sich selbst bringt und gleichzeitig hinaus in die Welt, denkt er doch immer wieder über zurückliegende Auslandsaufenthalte nach. Diesen Ruhepol in der Au verlässt Kawasser im zweiten Band. „Ache“ ist der Versuch, den Gebirgsfluss, an dem er aufgewachsen ist, in all seiner Bewegung und Dynamik zu erfassen – ein Buch, in dem es weniger um Reflexion über die Natur als um ihre körperliche Erfahrbarkeit geht, erwandert, erwatet und erkrault sich der Autor doch das Gewässer von seiner Mündung in den Bodensee bis hinauf zu seiner Quelle in den Alpen. Auch der soeben erschienene letzte Band ist in Vorarlberg verortet: Nun bekommt das Lauteracher Ried seinen großen Auftritt. In der dritten Person erzählt Kawasser, was es denkt und fühlt, welche Träume und Hoffnungen es hat und wie seltsam ihm manchmal die Menschen erscheinen. Der Sumpf-, Schilf- und Wasserlandschaft scheint zu Beginn ein irritierend naiver Ton zu eignen. Schnell jedoch wird die feine Ironie, die dahintersteht, erkennbar, und diese Ironie ist es auch, die Kawasser Anthropomorphisierungs-Experiment gelingen lässt. Ein ganzes Buch lang ernsthaft die Perspektive einer Sumpflandschaft einzunehmen, würde wahrscheinlich selbst bei diesem Autor in unangenehm gärenden Beschreibungsmorasten enden.
Als philosophischer Unterbau der ganzen Unternehmung dient wohl eine Metapher der Poststrukturalisten Gilles Deleuze und Félix Guattari: Das „Rhizom“ ist ihnen ein Sinnbild für eine Ent-hierarchisierung alter Ordnungsmuster. Wissen entwickelt sich demzufolge nicht aus einer einzelnen Pfahlwurzel, sondern wächst aus einem Geflecht gleichwertiger Rhizome, zwischen denen Querverbindungen jederzeit möglich sind. Konsequent überträgt Kawasser diese Überlegungen auf die Form von „Ried“: Die meist sehr kurzen Abschnitte können keinem dominierenden Gedanken zugeordnet werden, sind aber unzweifelhaft fest miteinander verwebt. Mehrmals zum Beispiel spricht das Ried über die heiß gewordenen Sommer, über die Klimaveränderung, die möglicherweise zur Folge haben wird, dass „es sich in dreißig Jahren nochmals um sieben Grad erhitzen wird und klimamäßig 1000 km näher am Äquator liegen könnte, irgendwo in Mazedonien“. Obwohl es im Juli, im August sehr unter seinen austrocknenden Gräben und Teichen leidet, fällt es dem Ried nicht ein, den moralischen Zeigefinger zu erheben: An anderer Stelle macht es klar, dass es schon einmal einen Eiszeitgletscher, der sich „mit seinem Arsch“ auf seinen gefrorenen Sumpf gesetzt hat, überlebt hat. Von dort führen spöttelnd-feine Rhizome zu einem ähnlichen Thema: „Wie gewaltige Sprachsaurier stehen die Erdzeitalter Hadaikum, Archaikum, Proterozoikum, Paläozoikum, Mesozoikum, Känozoikum in der Sprachlandschaft herum. Imponierend, dass die Menschen Worte für uralte Schichten gefunden haben, die im Ried schon lange abgesunken sind.“
Aber das Ried denkt nicht nur an vergangene Erdzeitalter, sein besonderes Interesse gilt dem Anthropozän: „Seltsam kommt es dem Ried vor, dass die Menschen glauben, nur sie würden sehen. Sie zeigen keinerlei Bewusstsein davon, dass auch sie gesehen werden von den Pflanzen und Tieren“, heißt es erhellend in der Mitte des schmalen Buches. „Es kommt ihm (dem Ried) so vor, dass sie nicht einmal wissen wollen, dass sie gesehen werden und noch weniger wie sie gesehen werden. Als gäbe es nur ihren Blick und ihre Welt.“
Das Ried steht also nicht selten kurz davor, seinerseits die Perspektive zu wechseln. Seine Vorstellungen von dem, was im Kopf eines Menschen abläuft, wären wohl eher ernüchternder Natur. Was denken sich diese seltsamen Wesen, wenn sie ihren Müll im Sumpf verklappen oder wenn sie die Riesentraktoren, die die Feuchtwiesen mähen, so früh auffahren lassen, dass auch die Zugvögel unter die Räder kommen? Wieso echauffieren sie sich über den Regen, der so lange ausgeblieben ist? Das Ried „genießt es, (…) wenn der Himmel sich hemmungslos über ihm ausschüttet. Schon bald saugen sich dann die Denkzotten mit Wasser voll und quellen auf. Seine Gedanken fangen zuerst an zu glucksen und wenn der Regen weiter herabfällt, beginnt es in ihm von Erinnerungen und Assoziationen zu rauschen.“
Was hier auf keinen Fall vergessen werden darf, ist die lyrische Ader des Rieds. Wenn es zur Ruhe kommt, betrachtet es auch einmal zufrieden sich selbst: „Heute ist das Ried samtblau mit dem Krummschnabel und den Krallen der Akelei über sich selbst und seine Regungen gebeugt. Langstielig im Wind fühlt es, wie der Tag anschwingt, die Ameisenstraße im Grasschatten Fahrt aufnimmt. Die reglose Feuerwanze am Baumstamm gegenüber – eine ständige Aufforderung an den Blick.“
Vielleicht bedeutet die Lektüre eines Buches aus dem Nature Writing-Genre nichts anderes, als dieser Aufforderung zu folgen und genau hinzuschauen. Udo Kawasser gelingt in seinen Büchern das Kunststück, immer wieder auf die existentielle Bedeutung, die die Natur für den Menschen hat, hinzuweisen, ohne sie dafür in irgendeiner Art überhöhen zu müssen. Man darf gespannt sein, welchen witzigen Perspektivwechsel er im nächsten Werk vornehmen wird. Die Welt, gesehen mit den Augen eines Findlings aus dem Mesozoikum, betrachtet aus der Perspektive einer alemannischen Balkongeranie? Zuzutrauen wäre es ihm.
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