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Kritik

In zwei Welten

Upton Sinclairs „Boston“ in einer neuen Übersetzung
Hamburg

Allein schon die ersten hundert Seiten dieses voluminösen Buches lohnen sich, fast schon als Sololektüre, noch weit jenseits des Moments, in dem Upton Sinclairs vielleicht berühmtester Roman, „Boston“, zur Anklageschrift gegen das US-amerikanische Establishment, gegen einen Staat und sein Rechtssystem wird, das sich in seiner Kommunistenphobie nicht zu schade ist, zwei relativ harmlose italienische Einwanderer abzuurteilen und hinzurichten.

Der Fall Sacco und Vanzetti ist bis heute eine der bedeutendsten Untaten, die dieser ur-demokratische Staat, als der sich die USA immer noch verstehen, schuldig gemacht haben. Zahlreiche amerikanische Autoren haben sich dieser Gemengelage, zu der auch das Todesurteil gegen Sacco und Vanzetti gehört, gewidmet und daraus große Literatur gemacht. George Pelecanos in seinem neuesten Roman, Jerome Charyn mit seiner Sidel-Serie, James Lee Burke mit seiner Dave Robicheaux-Reihe, Dennis Lehane oder James Ellroy haben sich in ihren Romanen – allesamt Krimis – um die unehrenhafte Vergangenheit ihrer Gesellschaft bemüht. Und sie treten dabei in die Fußstapfen von Autoren wie Sinclair Lewis, Jack London oder eben Upton Sinclair. Das Bewusstsein für diese mörderische Demokratie, für die Freiheit und Gleichheit nicht für jedermann gelten, ist also gerade auf der anderen Seite des Großen Teichs besonders hoch, zumindest soweit es die Literatur angeht.

Aber Sinclair bietet eben noch viel mehr, nämlich tiefe Einsichten in die Extreme der Bostoner Gesellschaft. Und sein Vehikel ist eine sechzigjährige, soeben verwitwete Dame der besten Bostoner Gesellschaft, die den Tod ihres Mannes nutzt, um sich von ihrer raffgierigen und streitsüchtigen Familie zu distanzieren, um auf eigenen Füßen zu stehen.

Kurz gemacht: Was Sinclair hier tut, ist grandioser Lesestoff, auch wenn seine Inszenierung durchsichtig genug ist: Die Thornwells gehören zur Bostoner, ja zur amerikanischen Aristokratie. Sie können sich von den Pilgervätern ableiten und haben sich in ihrer Vergangenheit als gehörige Piraten und Räuber, voller Habgier und Mordlust erwiesen, weshalb sie – wie der Erzähler resümiert – ihre gesellschaftliche Reputation zurecht genießen. Freilich sind sie von großen Räubern zu kleingeistigen Zänkerern abgesunken, die sich um eine Wiege und einen Perserteppich aus dem Nachlass des verstorbenen ehrenwerten ehemaligen Gouverneurs von Massachusetts, Josiah Thornwell, streiten. Die Witwe Thornwell ist zwar froh, dass sie dem Gefängnis, das ihre Ehe für sie annähernd 40 Jahre war, entronnen ist. Die Art und Weise, wie sich ihre drei Töchter samt Ehemännern aber nach dem Tod des Gouverneurs aufführen, gibt ihr wenig Hoffnung, dass sich die Verhältnisse künftig ändern werden, zumal der Reichtum des Gatten lange dahin ist, verloren in den Krächen der Vergangenheit. Also entschließt sie sich, nachdem ihr Autor sich jede Zeit der Welt genommen hat, die Erbärmlichkeit der Bostoner Elite vorzuführen, zu fliehen und sich allein durchzuschlagen.

Dabei muss sie nicht weit gehen, nur nach Plymoth, eine Nachbarstadt Bostons, wo sie als Cornelia Cornell Unterschlupf bei einer italienischen Zuwandererfamilie, den Brinis, findet. Sie heuert in einer Seilwarenfabrik als Arbeiterin an und beißt sich durch. Sie teilt das Leben der Arbeiter, lernt mit Schmutz, Kälte, Hunger und dem Schmerz umzugehen, den die ungewohnte tagtägliche körperliche Arbeit mit sich bringt. Sie nimmt am Streik der Arbeiter 1916 teil und lernt die Schwierigkeiten kennen, mit denen sie kämpfen müssen, um ihre Interessen durchzusetzen, als „Wops“ beschimpft, der Sprache kaum mächtig, nicht minder ausgebeutet als in ihrem Heimatland, dem sie entflohen sind, aus dem einen oder anderen Grund.

Die unterschiedliche Herkunft, Sprachbarrieren, politische Differenzen müssen überwunden werden, damit die Arbeiter faire, höhere Löhne und eine anständige Behandlung beanspruchen können. Aber bis dahin ist ein weiter Weg, und der reicht über die 900 Seiten weit hinaus, die Sinclairs grandioser Roman lang ist.

Cornelias Aufenthalt bei den Arbeitern hat dabei nichts mit den touristischen Besuchen der englischen Aristokratie in den Londoner Slums zu tun, sie ist teilhabende, nicht nur teilnehmende Beobachterin und nimmt Sinclairs Leserinnen und Leser dabei mit. Die dabei eine andere Welt kennenlernen: Denn die Brinis sind nicht nur arme Einwanderer, die sich mit Mühe über Wasser halten können, sondern auch herzliche, gut- bis übermütige Menschen, die Empathie für diese merkwürdige Yankee-Frau aufbringen, obwohl sie ansonsten für die Yankees nur Abschaum sind, Schweine, die sich im Schmutz eingewühlt haben.

In Cornelias Sicht aber sind diese italienischen Einwanderer herzensgut bis zur Selbstverleugnung, die das Beste aus ihrer Situation machen. Die Armut hat sie nach Amerika getrieben, und sie sind bereit alles dafür zu tun, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen und sich ihre Lebensumstände verbessern. Der Schmutz, den ihnen die Yankees zum Vorwurf machen, ist nur der schlechten Bezahlung und den geringen Mitteln zu verdanken, die ihnen zur Verfügung stehen. Der Gestank, in dem sie leben, geht darauf zurück, dass sie im Winter alle Wohnungsöffnungen verrammeln, um mit dem Heizgut auszukommen, und dass sie die Kleider nicht ablegen können, wollen sie nicht erfrieren. Was sollen sie dagegen tun?

Sobald es Frühjahr wird, reißen sie die Fenster und Türen auf und verschwinden in ihren Gärten, in denen sie anbauen, was ihnen beim Überleben hilft. Und was sie daraus zu kochen verstehen, kann sich sehen lassen.

Das idyllische Gegenbild, das Sinclair zur besten Bostoner Gesellschaft zeichnet, ist sicherlich überzogen, es hat mit der Realität nichts zu tun, aber es ist eben doch sinnig und stimmig. Und eben eine wunderbare Utopie einer armen Gesellschaft, die sich ihrer geselligen und menschlichen Züge nicht entledigt hat.

Bei diesen Brinis lernt Cornelia, die bald nur noch „Nonna“ genannt wird, einen anderen Untermieter kennen, Bartolomeo Vanzetti, einen italienischen Anarchisten, der vor dem Großen Krieg in Europa geflohen ist, weil er nicht für die Kapitalisten in den Krieg ziehen wollte. Vanzetti ist Individualanarchist, streitet also für die absolute Freiheit jedes Einzelnen. Mit den Sozialisten oder Anarchosyndikalisten ist er bis aufs Äußerste zerstritten. Er ist ein engagierter und streitlustiger, aber was für die Brinis gilt, trifft auf ihn nicht minder zu: Er ist ein zugleich liebenswürdiger, trotz seiner Unbeherrschtheit friedliebender und linkischer Zeitgenosse, der die Welt zu einem besseren Ort zu machen versucht - das haben wir doch schon mal irgendwo gelesen, oder? Und er nimmt Cornelia unter seine Obhut und will ihr die Welt erklären, wie er sie sieht. Für eine Dame der Bostoner Gesellschaft ist das eine abenteuerliche Erfahrung, für ihre Enkelin Betty, die bald zu diesem merkwürdigen Pärchen stößt und die nicht weniger abenteuerlustig ist als ihr durchgebrannte Oma, und für uns mit.

Keine Frage, Sinclairs Roman ist Propaganda, er ist politisch und er nimmt Partei, so sehr, dass es schmerzt. Er verspottet, ja verhöhnt die Bostoner Elite, die den reinsten und gewalttätigsten Teil der kapitalistischen Klasse Amerikas repräsentieren und die sich keinen Moment scheuen, alles, was ihnen im Weg steht, zu eliminieren, seien es zwei arme italienische Einwanderer, die sich als Sündenböcke eignen, oder seien es Emporkömmlinge, die glauben, ein bisschen Geschäftserfolg würde sie satisfaktionsfähig machen. Sinclair lässt kaum ein gutes Haar an diesen Leuten, die sich so selbstverständlich gut zu benehmen wissen und sehr genau erkennen, wer dazu gehört und wer nicht. Eben eine Klasse für sich.

Aber genau diese Parteinahme und dieser Hohn machen seinen Roman zu etwas ganz Großen. Nach gut zweihundert Seiten ist zwar eigentlich alles bereits gegessen. Sacco (über den wir erstaunlich wenig erfahren) und Vanzetti sitzen im Knast, weil sie angeblich zwei Raubüberfälle begangen und dabei zwei Wachleute erschossen haben, Sie werden sieben Jahre später auf dem elektrischen Stuhl landen und einer der großen Justizskandale der USA wird seinen Lauf nehmen. Wenn je von Klassenjustiz die Rede sein durfte, dann in diesem Fall.

Wobei es völlig egal ist, ob Sacco und Vanzetti wirklich unschuldig waren oder nicht. (Der Staat Massachusetts hat beide 50 Jahre nach der Hinrichtung wieder rehabilitiert.) Sinclair hat sich in dieser Hinsicht entschieden, und er baut seinen Roman um einen Narren herum, der zwar ein Anarchist ist und die Welt so sieht, wie sie ist, aber nichts dagegen tun kann, dass sie ihn umbringt. Das ist eine ureigene literarische Figur, die schon lange vor Sinclair ihren Dienst getan hat.

Aber bei Sinclair gerät sie zur Anklage gegen eine Gesellschaft, die sich ihrer ärmsten Mitglieder entledigt, nur weil sie arm und lästig sind und aus der Armut heraus wollen.

Und das sollte zu denken geben. Wir haben wieder gelernt von „Prekarität“ zu sprechen und verstehen darunter Verhältnisse, in denen man nicht planen kann, wo man morgen ist. Das aber ist ein Privileg im Vergleich zu den Zeiten, in denen selbst diejenigen, die gleichermaßen vom System oder seinen Eliten kaltherzig ausgebeutet wurden, sich gegenseitig Gewalt antaten. Als die Bostoner Polizisten streiken, weil sie mehr Lohn wollen, wird der Streik ebenso zerschlagen wie der der Arbeiter in den Seilwerken.

Nachdem also Sacco und Vanzetti ins Gefängnis eingefahren sind, lässt sich Sinclair rund 700 Seiten Zeit, um die Korruptheit und Gier dieses Commonwealth vorzuführen, der sich an zwei Armen vergreift, weil ihm nichts Besseres einfällt, um die Armen insgesamt ruhig zu stellen. Man muss kein Linker sein, um darüber empört zu sein. Aber es hilft, besser zu verstehen.

Die alte Übersetzung von Paul Baudisch, die so erfolgreich 1928 im Malik-Verlag erschienen ist, hat zweifellos ihre Dienste getan. Selbst sie war schon einen guten Schritt weg von den Behäbigkeiten der Übersetzungen aus dem Englischen, die sich gelegentlich in den 1920er Jahren finden. Die neue Übersetzung von Viola Siegemund allerdings liest sich nicht schlechter. Allerdings teilt die Deutsche Nationalbibliothek mit, dass sie gekürzt sei. Spätestens dieser Umstand erfordert mithin eine Neuübersetzung.

Upton Sinclair
Boston
Aus dem Amerikanischen von Viola Siegemund. Mit Nachwort von Dietmar Dath
Manesse
2017 · 1040 Seiten · 42,00 Euro
ISBN:
978-3-7175-2380-2

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