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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„und ich höre/ die Stille nach diesen Fragen/ wie alt sie auch sind heut Nacht“

Hamburg

Natur steht dieser Tage in der deutschen Literatur hoch im Kurs. Ob das damit zu tun hat, dass viele ihrer Exponate bedroht sind, ihr Schutz für sonst wenig politische Leute ein guter Anlass zum Protest ist oder sich gehetzte Schriftstellerstädter einfach nach der (grünen, blühenden, gut sichtbar welkenden) Natur als Refugium der Inspiration sehnen — das sei dahingestellt. Hard Facts: Vor kurzem gewann Esther Kinsky mit ihrem Geländeroman namens Hain den Preis der Leipziger Buchmesse, ihr ehemaliger Verlag Matthes & Seitz lobt inzwischen den Deutschen Preis für Nature Writing aus und der aktuelle Büchnerpreisträger Jan Wagner, der auf keinen Fall Naturlyriker genannt werden will, siedelt seine Gedichte doch zumeist irgendwo dort an. Der Begriff Anthropozän ist Motor der Diskursindustrie. Natürlich ist das alles nicht ganz neu: Seit Jahrzehnten gibt es eine rege Debatte um „Deep Ecology“, in dem das Verhältnis von Mensch und Natur — oft mit sehr esoterischen und eskapistischen Anklängen — anders, vor allem harmonischer ausgehandelt werden soll.

Wie so oft, wird unter diesem schwammigen Modebegriff auch Kunst subsumiert, für deren Verständnis das nicht wirklich förderlich ist. Darunter fällt auch das Werk des amerikanischen Dichters W. S. Merwin: 90 Jahre alt, inzwischen erblindet, Pulitzer-Preisträger, National Book Award etc. Merwin hat vier Gärten, drei in Europa, das er als junger Mann viel bereiste, und einen bei seinem Wohnsitz auf Hawaii, der seiner Palmen wegen sogar unter Naturschutz steht. In seiner Kindheit zumindest hieß Naturschutz für ihn auch Angriff: Der Sohn eines presbyterianischen Priesters war nicht daran gewohnt, Widerspruch zu leisten, sich einzumischen.

Einmal aber sollten Männer einen alten Baum im Garten der Familie fällen, worauf Merwin wutentbrannt auf die Männer losstürzte und auf sie einschlug, um den Baum zu retten. (Schließlich redete er am liebsten mit Bäumen.) Zu seinem eigenen Erstaunen waren die Erwachsenen so verblüfft von diesem Verhalten, dass es keine Strafe gab. Sein erster Widerstand war eine körperliche Tat, keine verbale. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Merwin keine engagierten Kalendersprüche schreibt, keinen dichterischen Allmachtsfantasien aufsitzt, sich nicht als Teil einer sprachversessenen Fachmannschaft sieht, der das Botanik-Lexikon ausschlachtet. Einer seiner schönsten Verse lautet:

„Könnte ich nur das Wort für Ja erlernen würde es mich Fragen lehren“

Merwin ist Zweifler. Immer wieder ist der Dichter „radikal“ auf sich zurückgeworfen, wenn er versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen.

„Als käme es aus den Wurzeln der Dinge
diese Ernteblässe in der
ich keinen Schatten habe außer mir“

Die abgründige Komplexität in diesen vorgeblich einfachen Gedichten macht der Band Nach den Libellen transparent, veröffentlicht in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. Ausgewählt und übersetzt wurden die Gedichte von Hans Jürgen Balmes, der in beidem reüssiert. Die ältesten Gedichte sind 1963, die jüngsten vor wenigen Jahren veröffentlicht. Balmes betont in seinem Nachwort das „Körnchen Fremdheit“ in dieser Lyrik. Denn Merwin ist dazu imstande, in der sprachlichen Vergegenwärtigung dessen, was er in der Welt beobachtet, sich als zweifelnden, endlichen Menschen zu erfahren: So abstrakt, vielleicht banal das klingt, ist es doch der Grund, warum Merwin ein großer Dichter ist. Er entäußert sich, lässt sich einnehmen, von dem, was ihn umgibt: Kindheit, Tod, Regen, Nacht. Er verleibt sich die Natur nicht ein, indem er Blumen metaphorisch zu Menschen verwandelt, wird ihr nicht Herr, indem er sie zu Erkenntnisinstrumenten reduziert. Vielmehr wird die Natur Zeugin des Menschen, der selbst in Gefahr schwebt, sich zum Verschwinden zu zwingen, wie im titelgebenden Gedicht „Nach den Libellen“:

„ (…) die Adern der Libellenflügel
wurden aus Licht gemacht
die Äderchen der Blätter
und die strömenden Flüsse wussten das
Libellen kamen aus der Farbe des Wassers
sie kannten ihren Weg
als Fremde
traten wir ihnen vor Augen
im Verschwinden nahmen sie ihr Licht mit sich
niemand wird sich an uns erinnern.“

Merwin nimmt sich zurück, wenn er auf die Natur projiziert und weiß, dass er „ihre Sprache“ nicht spricht. Zu den eindringlichsten gehören die Gedichte, in denen sich zwischenmenschliche Geschichten abzeichnen oder eine Anrufung anklingt. So schreibt er in „Verlust“ mutmaßlich über einen Bruder, der nie wirklich die Welt betrat und sah:

„Verlust war mein Bruder
ist mein Bruder
aber ich habe kein Bild von ihm

(…)

Sie hielten sich in dem Glauben aufrecht
dass er nur irgendwie
aus dem Blick geraten sei
dorthin wo man nicht reichte
er sei aus seinem leeren Namen gefallen

ein ganzes Leben war er mir nah
aber nichts über ihn
kann ich dir erzählen“

Bei dieser Erfahrung, dem Versuch etwas in Worten zu halten, das nie zur Sprache kam, gelangt die gekonnte Sprache an ein Ende. Das Tasten dieses Dichters geht über jeden Kunstgriff hinaus. Mit W. S. Merwin ist ein großer moderner Dichter für das deutschsprachige Publikum zu entdecken. Nach den Libellen ist hierfür eine hervorragende Möglichkeit.

*

W.S. Mervin starb am 15. März 2019 im Alter von 92 Jahren. Ruhe in Frieden.

W.S. Mervin
Nach den Libellen
Übersetzt von Hans Jürgen Balmes, mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
2018 · 144 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-446-25818-1

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