Deine Wurzeln sind Poesie in der feuchten Erde meiner Insel
Diese Anthologie enthält etwa 60 Gedichte aus dem umfangreichen lyrischen Werk von Yiorgos Anomeritis und umfasst dabei eine Zeitspanne von 1965 bis 2007. Bekannt ist er als Politiker, der über 14 Jahre Abgeordneter im Griechischen Parlament, viermal Minister und Mitglied vieler Europäischer Kommissionen gewesen ist. Selbst auf der griechischen Wikipedia erfährt man über ihn nicht, dass er früher als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet hat (el.wikipedia.org/wiki/Γιώργος_Ανωμερίτης). Das geht jedoch aus dieser Anthologie klar hervor. Auch dass er mit Andreas Arnakis bekannt ist. Andreas hat mir erzählt, dass er mit ihm befreundet ist und ihn kennt, seit Yiorgos 17 Jahre alt ist. Die beiden haben in der selben Widerstandsbewegung gegen die griechische Militärdiktatur gekämpft. Dabei ist Anomeritis verhaftet worden und wurde für vier Jahre auf einer Sträflingsinsel inhaftiert. Auf der griechischen Wikipedia kann man lesen, dass er vor einem außerordentlichen Militärgericht dazu verurteilt worden ist, das war 1969.
Anomeritis hat also in dieser Zeit in Deutschland gekämpft, und zwar – wie im Vorwort steht – gleichermaßen gegen Diktatur und gegen Maschinen (als Sinnbild für den Kapitalismus). In einem Gedicht heißt es dazu:
Gegenüber
am Ufer.
des Mains
postiert sich die Hoffnung der Arbeiterschaft,
die Enttäuschung der herrschenden Klasse.
Der Freund rote Heimat,
der Freund freie Generation.
Vielleicht meint er ja mit "roter Heimat" das damals noch rote Hessen? Denn seinerzeit hat er bei der Hoechst AG in Frankfurt-Höchst gearbeitet und in Kriftel gewohnt. Und genau diese Zusammenhänge sind "auch der Grund dafür, dass von seinem poetischen Werk viele Gedichte aus jener Zeit in Deutschland ausgewählt wurden". So schreibt Hans Eideneier in seinem Vorwort.
Immer wieder geht es in den frühen Gedichten um die Militärdiktatur, Spitzel, um Wächter, Wachtposten, Lager und Verbannung. Es geht aber immer auch um Eros und die Liebe zum Leben und zur Menschheit, um Freundschaftszeichen und die Freiheit. Dabei bedient er sich einer ganz eigenen Sprache: "In der Legasthenie der Gedanken / die Geschichte eines in Ketten gelegten Landes." oder "Beladen mit dem Rucksack meiner Jahre," oder "Kleiderbügel an den Wänden für die Träume, / lebenslängliche Betrübnis".
Die Namen von manchen deutschen Städten (Kriftel, Hofheim), Flüssen (Main), Vornamen etc. werden bereits in Anomeritis' Gedichten in der griechischen Originalfassung in Deutsch verwendet. Sie sagen einem Deutschen viel, einem Griechen wahrscheinlich eher wenig. Dagegen ist in der Wind-Oktade die Rede von zahlreichen Winden in Griechenland, die wiederum den Griechen wahrscheinlich geläufig sind, den Deutschen dagegen eher gar nicht (mal abgesehen vom Schirokko). Und so kann es wegen des unterschiedlichen Backgrounds sein, dass Deutsche das Buch ganz anders lesen bzw. verstehen als die Griechen.
An zwei Stellen heißt es im griechischen Original "Hoechst". Die Übersetzerin hat daraus Höchst gemacht, was leider nicht korrekt ist. Die Ortsansässigen unterscheiden da sehr genau: Die (ehemalige) Hoechst AG gehört zwar zum Frankfurter Stadtteil Höchst, wird aber unterschiedlich geschrieben. In Anomeritis' Gedichten meint er aber immer die Hoechst AG: "Tod die Maschinen. / Bei Höchst." und "die Arbeiter von Höchst". Der Fluss Rhein wird von Anomeritis dagegen in Griechisch verwendet: ο Ρήνος. Für den Fluss Elbe steht im Original interessanterweise "Elba" und nicht ο Έλβας, aber aus dem Kontext des Gedichts geht eindeutig hervor, dass es sich um einen Fluss handeln muss.
Es gibt auch Bezüge zu ganz konkreten Ereignissen, wie zum Beispiel:
Am zehnten des Monats Mai
haben eure Hände
getötet der Studenten vier
Allerdings konnte ich diesen Bezug nicht eindeutig herstellen. Plausibel für mich ist, dass sich Anomeritis um sechs Tage vertan hat. Denn am 4. Mai 1970 passierte Folgendes: Während Protesten gegen den Vietnamkrieg werden in Ohio, USA, auf dem Campus der Kent State University vier Studenten von Nationalgardisten erschossen.
Mit manchen Übersetzungen habe ich mich etwas schwer getan. So ist das Verb καλαφατίζω zwar korrekt mit "kalfatern" übersetzt worden. Das bringt mich aber nicht weiter, da mir dieser Begriff nicht geläufig ist (Kalfatern heißt, die Nähte bzw. Fugen zwischen hölzernen Schiffsplanken mit Werg - eine niedere Faserqualität - oder Baumwolle und Holzteer, Pech, Kitt oder Gummi abzudichten). Auch für den Begriff η εσοχή hat mir die Übersetzung "Konche" nicht wirklich geholfen. Besser fände ich da die direkte Übersetzung "Nische" (Wikipedia: Eine Konche ist in der Architektur eine Einbuchtung oder halbrunde Nische). Bei der Zeile "die Gefühle gemischt in dem wortkargen Laster" war mir nicht klar, ob es sich dabei um eine schlechte Angewohnheit oder um einen LKW handelt. Das entsprechende Wort im Original (η ενοχή) heißt "Schuld", und wird dort sogar in der Mehrzahl verwendet.
Von den späteren Gedichten, also nach der "Gastarbeiter"-Zeit und der Militärdiktatur, wurden hauptsächlich welche aus dem Gedichtband Wind-Oktade von 2008 ausgewählt. Der Wind als Sinnbild für was?
Wind [...]
sein Atem, wenn er weht,
bringt zum Blühen die Zunge
des Meeres und der Dichtung.
Verortet ist das Ganze in der Ägäis, die sich aber auch nicht ganz greifen lässt:
Die Ägäis,
ein nicht zu bestimmendes Meer,
wie auch die Gefühle der Vorfahren
Die Winde des Mittelmeers sind in acht Himmelsrichtungen aufgeteilt worden, und genau daran orientiert sich Anomeritis. Es gibt eine ganze Reihe von Winden, die feste Namen haben. Nur wenige sind mir bekannt, Beispiel Schirokko. Andere habe ich nicht erkannt, wie den Maistros, so in der Übersetzung, der bei uns als Mistral bekannt ist. Den Wind Grägos, der in der Wikipedia als Gregale aufgeführt ist, kannte ich allerdings gar nicht. Aber bei ihm kommt Anomeritis zu einer seiner Hauptaussagen:
Grägoswind [...]
das Meer ist Freiheit,
und wenn du frei bist,
fürchtest du die Winde nicht
Über die Übersetzung des Titels dieses Gedichtbandes kann man ebenfalls trefflich streiten. Wortgetreu übersetzt heißt Προορισμός Αιγαίο Bestimmung, Bestimmungsort oder Ziel Ägäis. Für mich lese ich da heraus, dass für den Autor auf seinem Lebensweg die Ägäis zum Ziel geworden ist, zu seiner eigentlichen Bestimmung (und nicht, als Gastarbeiter bei der Hoechst AG zu malochen). Das Wort Endstation im deutschen Titel klingt für mich dagegen wie Sackgasse. Aber das ist natürlich alles Geschmackssache. Und: Der oder die Übersetzer/in muss sich ja für einen einzigen deutschen Begriff entscheiden, muss also eine Auswahl treffen.
Das sehr geschmackvolles Cover drückt die Intention des Buchtitels dagegen viel eindeutiger aus. Es handelt sich nämlich um eine Fotomontage, links ein Schwarzweißbild von einer Demonstration (Banner "Wann ist Stalin endlich tot?"), rechts ein Schwarzweißbild mit dem jungen Yiorgos Anomeritis im Blaumann und mit Sicherheitshelm als Arbeiter bei der Hoechst AG, und dazwischen das wuchtige aufragende Tempeltor von Naxos (also im Herzen der Kykladen) in Farbe, dahinter das Blau des ägäischen Meeres. So wird wirklich ein Ziel, eine Bewegung dorthin versinnbildlicht.
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