Poetische Geschichtsschreibung
Angesichts des prominent diskutierten „Falls“ der südafrikanischen Leichtathletin Caster Semenya müsste dieses Buch eigentlich längst zu einem kleinen Bestseller geworden sein. Dass dem nicht so ist, lässt sich leider nur allzu leicht erklären, denn der ungarische Schriftsteller, Übersetzer und Literaturvermittler Zoltán Lesi nähert sich dem Thema der Intersexualität im Spitzensport anhand von Gedichten und publiziert sie obendrein in einem österreichischen Independent-Verlag. Das sind nicht die besten Startbedingungen für den großen Buchmarkt, aber ideale Bedingungen für dieses waghalsige und berührende Projekt.
Der 1982 geborene Lesi ist dabei keineswegs ein schnöder Profiteur der Aktualität. In seinem Band In Frauenkleidung, übersetzt von Nora Keszerice, zeichnet er die Lebenswege intersexueller Sportler*innen rund um die Olympischen Spiele 1936 in Berlin nach. Mit seinem historischen Blick widerlegt Lesi die reaktionäre Ansicht, dass Intersexualität eine Mode unserer Gegenwart sei, und birgt gleichzeitig die Schicksale der Hochspringerin Dora/Heinrich Ratjen, der Sprinterin Stella Walsh und anderer Athletinnen aus dem Halbdunkel der Archive. Dieses teilweise Vergessen öffnet Lesi, der sich ansonsten weitgehend an historische Fakten zu halten scheint, einen Zwischenraum für fiktionale Freiheiten. So in etwa, wenn er einen in Briefform verfassten Tagebuchausschnitt Ratjens an die 1980 ermordete Walsh inszeniert.
[Tagebuchausschnitt]
Bremen, 8. Januar 1981
Stella Walsh, seitdem du getötet wurdest,
denke ich oft an dich. Ich wäre auch
zu deiner Beerdigung gekommen,
doch ich hielt mich zurück. Gefühlsduselei
konntest du bestimmt nicht leiden.Ich hatte dir in Berlin beim Hundertmeterlauf
nicht zugesehen, doch danach sprachen
alle über Helen Stephens und darüber,
wie sie losgeschossen war und sich
von dir auch nicht überholen ließ.Helen war kein Mann, ein medizinisches
Komitee hatte dennoch nach einem Penis
gesucht. Ich war von deiner Selbstsicherheit
beeindruckt: Du hattest dein Geheimnis
nicht preisgegeben, auch nicht
in den Interviews. Nach dem Wettbewerb
wollte ich nur verschwinden.
Wir waren nicht vom gleichen Kaliber.
Am meisten überraschte mich,
dass du es sogar mit der Ehe
versucht hattest. Ich aber empfand
gegenüber meinen Freunden nur Furcht.Vielleicht lag es an meinem Arzt,
Dr. Fischbein. Ich wurde ihn leider
viel zu spät los.Du bliebst eine Frau – mir aber verbot
der Staat mit 21 Jahren,
eine Frau zu sein. Als Mann
hatte ich den Namen meines Vaters
anzunehmen, wovor ich mich
schon immer gefürchtet hatte.
Ich war auch kein echter Mann,
sondern etwas dazwischen,
doch das würden sie nicht verstehen.
Es ist also besser, es keinem zu verraten.Heinz Ratjen
Stilistisch gesehen mischen sich im Buch die literarischen Genres und Textsorten. Lyrik, Prosa und Figurenrede, Tagebuch, Brief und Polizeibericht gehen eine Symbiose ein, bilden einen Zwischen- oder Schwebezustand. Fast so als wolle Lesi durch Montage, Sampling und Collage das Verfahren des dokumentarischen Theaters von einst durch eine dokumentarische Lyrik erweitern. Die äußere, durchweg angewandte Struktur aus Vers und Strophe scheint Lesi in erster Linie als Maskerade anzuwenden. So wird dem*der aufmerksamen Leser*in schnell das engmaschige Gesamtkonzept aus Form und Inhalt, aus Thema und Buchgestaltung auffallen. Denn In Frauenkleidung ist nicht nur aus den bereits genannten Gründen weit mehr als nur ein Gedichtband. Das Buch wird durch zahlreiche Fotos, Zeitungsartikel und Dokumente ergänzt, die vom Grafikdesigner Ricardo Portilho zumeist nicht vollständig, sondern in Ausschnitten auf den jeweiligen Seiten angeordnet werden. Blättert man weiter, findet sich meist das fehlende Gegenstück zu einer vorherigen Abbildung. Besitzt man also mehrere Exemplare des Buches, lässt sich mit etwas Geschick ein komplexes und weitverzweigtes Puzzle zusammensetzen, das der Komplexität des Themas auch grafisch Rechnung trägt.
Da hier nun von Konzeptkunst die Rede ist, soll nicht unerwähnt bleiben, dass Lesi neben Sportlerinnen aus jenen Tagen auch kulturhistorische Persönlichkeiten wie Marcel Duchamp oder Leni Riefenstahl auftreten lässt. Während der eine sich im surrealistisch-dadaistischen Spiel mit seinem weiblichen Alter Ego Rrose Sélavy gefällt, reflektiert die andere fast ekstatisch das Körperbild des Nationalsozialismus. Und die Körper- und Geschlechterbilder der Gegenwart? Die lässt Lesi im Grunde unkommentiert, wobei seine poetische Geschichtsschreibung die Überzeitlichkeit des Themas und sich daraus ergebende, vor allem persönliche und private Probleme der Betroffenen impliziert.
Man kann dem Salzburger Verlag edition mosaik nur gratulieren, dass hier ein solches Gesamtprojekt geglückt ist, das sich einem dauerhaft aktuellen Thema weder voyeuristisch noch reißerisch, sondern zugleich überaus einfühlsam und informativ widmet.
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