Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Rollende Kugeln auf schiefer Ebene

Adam Johnsons Stories sind verstörende Beispiele für ein Leben mit entzogenen Sicherheiten
Hamburg

Erzählungen seien, im Gegensatz zum Roman, unverkäuflich, behaupten deutsche Verleger gerne mit einem gewissen an lapidare Wiederholung grenzenden Nachdruck. Wenn diese Behauptung stimmen sollte, dann wünscht man sich selten einmal so dringend, sie hätten damit Unrecht, wie angesichts der neuen Stories von Adam Johnson. Mit zwei Romanen und zwei Erzählungsbänden hat er sich einen beachteten und beachtlichen Platz in der amerikanischen Literatur erschrieben. Manches hätte an der einen oder anderen Stelle möglicherweise ein wenig schlanker, ein wenig zielgerichteter ausfallen dürfen, dennoch ist es wohl angebracht, Adam Johnson in einem Atemzug mit Stewart O’Nan oder Jeffrey Eugenides zu nennen.

In seinen Geschichten geht Johnson aufs Ganze. Sie sind irritierend und unbehaglich. Ihre Protagonisten stehen beinahe wie selbstverständlich am Rande der Gesellschaft — nicht nur der amerikanischen, denn ausgeträumt sind die Träume, in Amerika wie andernorts, und hinterlassen ihre vielbeschriebenen Verlierer. Ja, es sind nicht einmal nur halbwegs sympathische Figuren, deren Schicksal sich einfühlend bemitleiden ließe. Und dennoch...! Hinter diesem „Dennoch“ verbirgt sich Johnsons ganze literarische Kunst, denn es gelingt ihm, selbst für seine im besten Falle schrägen, im schlimmsten Falle abstoßenden Typen noch Verständnis zu entwickeln. Sie sind unaufhaltsam rollende Kugeln auf schiefer Ebene, für die es keinen Halt und keine Sicherheiten mehr gibt.

Die Settings im vorliegenden Band könnten unterschiedlicher kaum sein. Ein Programmierer, der mit dem kürzlich erschossenen Präsidenten debattiert, ermöglicht es seiner vom Hals abwärts gelähmten Frau mit Kurt Cobain zu sprechen. Ein Nordkoreaner, der seinem Land entkommen konnte, flieht mit Heliumballons wieder zurück in die Heimat. Ein Liebhaber der Kinderpornographie versucht, die Internetszene auffliegen zu lassen. Eine Mann und eine Frau schlagen sich in dem vom Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans durch. Eine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau verdächtigt ihren Ehemann, Affären mit anderen Frauen zu haben. Der frühere Direktor eines Stasigefängnisses wird durch nächtliche Paketsendungen mit seiner unrühmlichen Vergangenheit konfrontiert.

Ein besonders raffiniertes Spiel entwickelt die Geschichte „Interessant!“. Nach und nach eingestreute Details offenbaren gewisse Parallelen zum Autor Johnson selbst. Aber was ist hier autobiographisch, was ist reine literarische Fiktion? Daß die Ehefrau, eine erfolglose, unverlegte Schriftstellerin, ihren Mann beschuldigt, einen ihrer Protagonisten gestohlen und für eine eigene Geschichte verwendet zu haben, wäre an sich schon selbstironisch genug, nur findet sich besagte Story obendrein tatsächlich im vorliegenden Band. Ein solcher Sprung auf die Metaebene ist zwar nicht neu, zeigt aber einmal mehr, daß Johnson über allerhand Mittel verfügt und sie gezielt anzuwenden weiß.

Verlorene sind Johnsons Figuren allesamt in einer Welt, in der sie keinen rechten Platz haben. Die Welt indes ist nicht einfach schlecht, sie ist, wie sie ist, genauso unfertig und voller Möglichkeiten wie die Charaktere. Nur mißlingt ihnen die Anpassung — dem Nordkoreaner ist das moderne Leben in Seoul dermaßen fremd, daß er die Diktatur in seiner Heimat verklärt, der Gefängnisdirektor hält trotz handfester Gegenbeweise an seinen Illusionen fest, um das begangene Unrecht nicht eingestehen zu müssen. Johnsons Figuren geistern in einer Gegenwart herum, die ihnen nichts zu bieten hat, unfähig, deren Chancen zu sehen, unfähig zugleich aber auch, die Miseren der Vergangenheit ein für alle Mal zu erkennen und zu beseitigen.

Das Verlorene kehrt nicht zurück, ist nicht wiederzuerlangen — die Bewegungsfähigkeit, die Brüste, die Ehefrau, die emotionale Unschuld. In allen Geschichten gibt es einen Punkt in der Vergangenheit, an dem sich ein tragisches Mißgeschick ereignet oder ein Verhalten zu irreparablen Schäden geführt hat. Da hilft es auch nicht, über ausgeklügelte technische Errungenschaften zu verfügen, wie der Programmierer in der in einer unbestimmten nahen Zukunft spielenden Titelstory, oder um die politischen Realitäten der Propaganda zu wissen, die das Leben in der DDR wie in Nordkorea beeinflußt haben. Und wenn einer wie der junge Ups-Fahrer Nonc nach der Naturkatastrophe in New Orleans zwischen der Verantwortung für einen kleinen Jungen, der vielleicht sein leiblicher Sohn ist, und einem unbeschwerten Leben mit seiner Geliebten an der weit davon entfernten Westküste wählen muß, bleibt es der Phantasie des Lesers überlassen, ob dieses offene Ende auch zu einem guten führen wird. Erlösung von den Geistern der Vergangenheit ist nirgends und Traurigkeit überall.

Mit diesen mutigen Geschichten, die mit unfaßbaren Details und unerwarteten Wendungen aufwarten, hat Adam Johnson bewiesen, daß nicht allein die Form des Romans explosives Potential hat. Im Gegenteil, die segmentierte Wahrnehmung der Welt, wie sie eine kürzere oder mittellange Story bietet, ist näher an der Gegenwart als der episch ausschweifende Roman gerade amerikanischer Provenienz, der sich allmählich überlebt.

Adam Johnson
Nirvana
Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger
Suhrkamp
2015 · 262 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42500-8

Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge