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Kritik

Gnadenlos verständlich

Hamburg

Albert Ostermaier dürfte zumindest in Nordrhein-Westfalen der bekannteste zeitgenössische Lyriker sein. Vorsichtiger formuliert, angesichts der Halbwertszeit schulisch vermittelten Wissens: jedenfalls für einige Tage im Mai dieses Jahres war er es definitiv. Er hat es nämlich auf rätselhafte Weise geschafft – vermutlich kennt er den Emir von Katar – dass eines seiner Gedichte zur Abituraufgabe im Grundkurs Deutsch auserkoren wurde, ein nettes Gedicht übrigens, nicht unanspruchsvoll. Das sind schon die höheren Weihen, die der Lyrikwelt zuteilwerden können, der Mann ist noch dazu nur in Schüleraugen ein Greis, er ist Jahrgang 67.

Albert Ostermaier ist ein Mann, der viele Eisen im Feuer hat. Nominiert für das Fußballbuch des Jahres 2014. Theaterschriftsteller. Lange Liste von Lyrikbänden. Suhrkamp-Autor. „Ausser mir“ ist ein 200 – Seiter, nicht schlecht für den vielbeschäftigten Münchner.

Die Gedichte sind in Gruppen eingeteilt, die meist thematisch eng verzahnt sind. So gibt es Gedichtreihen zu Venedig-Photographien von Christopher Thomas (18 Stück), zu Shakespeares Kaufmann von Venedig oder zu Tennessee Williams Katze auf dem heißen Blechdach. Die Gedichte zu den Theaterstücken sind typischerweise nach den Personen des Stücks benannt sind und enthalten meist eine Mischung aus Aneignung und lyrischer Backstory zu den Figuren.

Als Beispiel für die Form der Gedichte aus dem Venedig-Zyklus (eines der untypisch kurzen):

accademia

die nacht sinkt nieder und
wir sollten uns verlassen wie
vielfach dämmerung mag
noch in unsre venen passen
wann können wir uns lassen
ohne uns anzufassen es fassen
das rote violett den abschied
unter jedem lid ein bild
ein pinsel der kreise zieht
ein tropfen der ins wasser
fällt eine träne die den kanal
am fliessen hält

Ostermaiers Gedicht sind eher auf der langen Seite, gerne mit narrativem Ton. Er verwendet keine Großschreibung und keinerlei Satzzeichen, dadurch entsteht ein recht atemloser Ton, verstärkt durch meist schmalen Zeilenspiegel, und damit entsteht die Gefahr, dass der Leser allzu schnell um die Kurven heizt. In der Formel 1 bauen die Designer auf ansonsten gerader Strecke deswegen Schikanen ein, Kurven ohne Not, die den Fahrfluss hemmen. Die Funktion dieser Schikanen hat bei Ostermaier das Enjambement – das er sehr eigenwillig und in unerschrockener Häufung zur wilden Brechung ansonsten glatter Sätze oder Reihungen einsetzt.

Dennoch bleibt eine ruhelose Bewegung durch die Formgebung, die nicht zu allen Gedichten passen will. Gerne werden Folgen verwendet, Notate als Begriffsumkreisungen oder auch Rap-artige Sequenzen mit gehäuftem Binnenreim, obgleich das Sprachmaterial eher dem braven Schlager entnommen ist, hier macht das Sinn. In anderen aber steht deutlich ein reflexiver, emotionaler Ton im Vordergrund, der von der Formgebung mehr gestört als gefördert wird.

Ostermaier hat keinerlei Berührungsängste mit schlichten lyrischen Motivkreisen oder Kitsch-verdächtigen Formungen – der Tränen-getriebene Kanal ist nur eines der vielen Stellen in dem Buch mit Tränen, es treten die Seufzer auf, das Leben, Himmel, Mond und Sterne.

Ein möglicher Hintergrund dieser für mich sehr überraschenden traditionellen Sprache und Stilmittel könnte der romantische Charakter des lyrischen Zugriffs bei Ostermaier sein. Der überwiegende Teil Buches fällt in die Kategorien Liebesgedichte und Selbsterkundungen durch Schlüpfen in fremde Figuren – beides in empfindungsgetragenem Ansatz. Das ist ein legitimes lyrisches Sujet, etwa Michael Lentz, mit Jahrgang 64 altersmäßig nicht weit entfernt, legte vor wenigen Jahren mit  ‚Offene Unruh‘ ebenfalls 100 Liebesgedichte vor.

Jedoch, in der lyrischen Formung ist Ostermaiers Ansatz weniger emotional, hier kommt – leider – häufig der Verstand in die Quere und bringt Assoziationsketten hervor, die allzu durchsichtig sind und die ebenfalls vorhandenen gelungenen Formulierungen durch ihr großes Übergewicht erdrücken. Entwicklungen wie im ersten Zitat in der zweiten Hälfte entlang Lid -> Auge -> Bild -> Pinsel -> Kreis -> Ring  -> Wasserring -> Tropfen -> Träne durchziehen  das Buch in vielen Varianten, ein einmal als tauglich gefundenes Bild wird ausgewrungen wie ein Lappen.


nichts haben ausser der
hand im mund die sich
wie die hunde paaren ach
lieber arm an dinaren als
arm im herzen kopf oder
zahl das glück dreht sich
in der luft nur ein vermögen
hätt ich gern klein beginnts
doch schnell wächsts wenn
man es in die hand nimmt

(aus ‚fingerspiel‘ zur Figur der Nerissa im ‚Kaufmann von Venedig‘).

Gerade bei solchen über den Kopf assoziierten oder zumindest bis zur fraglosen Verständlichkeit hochgepäppelten Folgen wird die grammatische Form zur Last, zum Manierismus. Es kann sein, dass einiges dem Verlags-Wusch nach Fülle zuliebe aufgenommen wurde, insgesamt blieb aus dem Buch, gerade wegen der spürbaren lyrischen Kompetenz, bei mir ein speziell für die weibliche Leserschaft sicherlich nachvollziehbarer melancholischer Nachklang – was der Verstand in einem empfindsamen Mann doch anrichten kann.

Albert Ostermaier
Ausser mir
Suhrkamp
2014 · 198 Seiten · 21,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42381-3

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