Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Kulturelle Zeitkonzepte

Die wissenschaftliche Auffassung von Zeit
Hamburg

Wenn Aleida Assmann fragt „Ist die Zeit aus den Fugen?“, wird man hellhörig. Ist etwas kaputt? Wie kann die Zeit denn aus den Fugen sein? Ist Zeit denn nicht eigentlich eine physikalische Einheit, die Naturgesetzen folgt?

Assmann wäre nicht eine der Kulturwissenschaftler_innen, die auch großen Verlagen publizieren, hätte sie nicht öffentlichkeitswirksame Aufgaben vor Augen; in diesem Buch gleich zwei, die sie sich auf die Fahne schreibt und eine, die implizit mitläuft.

Was Assmann, die als Literaturwissenschaftlerin vor allem für ihre Arbeiten über Gedächtnis und Erinnerung bekannt ist, will ist, nicht weniger als zu beweisen, wie das Zeitregime der Moderne zu einem jähen Ende kam und wie wir uns neu orientieren können. Dazu muss sie zunächst beweisen, wie dieses Zeitregime, dem wir noch immer nachtrauen, ohne es zu merken, konstruiert wurde, um dann seinen Niedergang durch zu argumentieren. Was sie implizit dabei mitschreibt, ist eine theoretische Einführung in die kulturelle Analyse von Zeit als Einheit. Zeit ist damit, entgegen unserer alltäglichen Erfahrung mit den Zeigern unserer Uhr, ein dehnbarer Begriff, der nicht nur in der Physik noch nicht ganz verstanden, sondern auch kulturwissenschaftlich zu ergründen ist.

Wie sieht dieses Zeitregime der Moderne, von dem Assmann ausgeht, nun aus? Es klingt zunächst einleuchtend: eine Gegenwart, die sich von einer schon gewesenen Vergangenheit absetzt und die von einer besseren Zukunft träumt. Dieses Grundmuster ist eines der wichtigsten diskursiven Pfeiler des Modernisierungsparadigmas. Nur durch das ständige Brechen mit einer obsoleten Vergangenheit kann Neues entstehen. Die Zukunft ist eine, die immer besser ist, als die Gegenwart, weil Fortschritt und Wachstum das rosige Versprechen sind, das im Hier und Jetzt, in der Gegenwart, zur Arbeit auffordert. Das Zeitregime der Moderne ist damit auch eng mit dem aktuellen Kapitalismus verknüpft, wobei es sich flexibel genug zeigt, auch in einem sowjet-kommunistischen Kontext zu funktionieren.

Versucht man die Gegenwart selbst zu fassen, wird es schwierig, weil sie in diesem Regime nicht mehr ist, als ein Moment, der Umschlagsort von Zukunft in Vergangenheit, den man gedanklich nicht fassen kann, weil er ewig flüchtet. Assmann führt uns an die Theoretisierungsversuche von Zeit und Moderne über Baudelaire heran, der nach ihr diese beiden Begriffe als erster „programmatisch“ zusammen gedacht hat. Hier ist der Augenblick noch ein künstlerisches Desiderat, das diskursiv formbar ist. Der Flaneur als neue Figur ist Avantgarde, weil er eine Zeiterfahrung erlaubt, die so vor Baudelaire nicht möglich war. Hier begegnen wir einer der Grundfiguren der Moderne, die eine der Grundprämissen der Moderne prägt: die Flüchtigkeit des Augenblicks, die andeutet, dass der Mensch seiner Umwelt bald nicht mehr gewachsen sein wird. Einleuchtend spricht Assmann bei Baudelaire von der „Entdeckung der Gegenwart“.

Im Laufe des Bandes folgen viele Exzerpte und Exkurse durch verschiedene Wissensgebiete, wobei zumeist die Geschichtswissenschaft und Philosophie herangezogen werden. Auch wenn Assmann demütig im Vorwort ankündigt, dass sie durch verschiedene Stichproben einen größeren Zusammenhang herzustellen hofft, greift sie letztlich - bis auf das obige Beispiel von Baudelaire - auf sehr viel wissenschaftliche Sekundärliteratur zurück, weniger auf primäre kulturelle Zeugnisse, die bei ihr wiederum als primäre Quellen funktionieren, um das Zeitregime der Moderne zu analysieren. Was sie damit schreibt ist weniger eine Geschichte der Zeit, als eine Geschichte der wissenschaftlichen Auffassungen von Zeit und zuweilen eine zu detaillierte Ausarbeitung von Streitigkeiten innerhalb der Geschichtswissenschaft. Assmanns Baudelaire Lektüre, auch ihre Lektüre von Nietzsche, lesen sich so gut, dass man sich mehr von Auswertungen ähnlicher Quellen gewünscht hätte. Auch ihre Theoretisierungsversuche und Ordnungsansätze sind im ersten Teil des Buches spannend, so gibt es ein ganzes Kapitel mit Gegenwartsdefinitionen, die man in fast schon handbuchartiger Genauigkeit im Hinterkopf behalten will und sich selbst verspricht, hier bei Gelegenheit wieder nachzulesen.

Wenn Assmann beschreibt, wie die Eisenbahn ein wichtiger Schritt in der Notwendigkeit von synchroner Zeit hin zu einer globalen, messbaren Zeit war, dann breitet sie hier Wissen aus, das sie wissenschaftlich und kulturell einzuordnen versteht. Ihr Stil, Wissenschaftsprosa, die zu rhetorischen Witz kennt und geschickt auf Höhepunkte hinarbeitet, kommt dann voll zur Geltung. Wenn sie sich dann aber wieder im Referieren von geschichtswissenschaftsinternen Debatten verliert, verliert sie auch den Bezug zum nicht-wissenschaftlichen Publikum und verschwendet Platz, den sie sonst so spannend auszufüllen weiß.

Ist die Zeit also nun aus den Fugen? Müssen wir Alarm schlagen, geht die Welt jetzt vielleicht unter?

Was Assmann anschaulich zeigt, ist eine Geschichte der Moderne entlang ihrer Zeitkonzepte. Holzschnittartig lassen sich verschiedene Arten von kultureller Zeitkonzepte zusammenfassen: Während vor der Moderne der Schwerpunkt auf Traditionen lag, also die Vergangenheit der Impulsgeber für Gegenwart und damit auch die Zukunft gab, hat sich die Moderne auf die Zukunft als Fokuszeit verlegt. Das Versprechen einer besseren Zeit ist der Motor von Fortschritt jeder Art, gespeist aus einer subjektiv immer „schneller“ fließenden Zeit. Diese Zukunft hat jedoch im Laufe der 1980er und 90er Jahre ihren Glanz verloren und an ihre Stelle trat eine Fokussierung auf eine immer breiter wahrgenommene Gegenwart. Gleichzeitig ist die Vergangenheit nicht mehr einfach der Friedhof von Erinnerungen, sondern - zum Leidwesen der Geschichtswissenschaft, die ihre privilegierte Stellung als Deuter der Vergangenheit in Gefahr sieht - wird immer mehr auch zur Gegenwart in Form von Erinnerungen und öffentlichen Denkmälern, durch die Konstruktion von verschiedenen Geschichten, die kritische Aufarbeitung von Vergangenheiten (Apartheid, Holocaust, etc.).

Was Assmann, trotz der manchmal zu detaillierten Rekurse, anschaulich vermittelt ist, dass wir in einer neuen Zeitordnung leben, die wir noch nicht verstehen, die wir aber mit gestalten können. Sie führt uns vor, wie politisch Zeit ist, und das mit der Deutungs- und Gestaltungsmacht von Zeit auch Macht selbst mit einhergeht. Ein Band voller Wissen, der veranschaulicht, wie politisch kulturwissenschafliche Arbeit sein kann und vielleicht sollte.

Aleida Assmann
Ist die Zeit aus den Fugen?
Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne
Hanser
2014 · 336 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-446-24342-2

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge