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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Zwielichtige Ensembles ...

... aus Landschaft und Empfindung
Hamburg

Alke Stachlers Lyrikband „Dünner Ort“ ist ein sehr hübsch anzusehendes Bändchen im Reclamheft-Format, das aber ironischerweise von der Optik her dick erscheint. Eine rückenlose Fadenbindung, schweres Papier und Pappseiten-Umschlag machen den „dünnen Ort“ zu einem gleichzeitig irgendwie schwerwiegenden Ort. Stachlers Debüt ist eine Sammlung von Prosagedichten, eingefasst von einem Vorwort des Herausgebers Josef Kirchner, auch Redakteur der Zeitschrift mosaik, als deren sogenannte „edition mosaik 1.2“ es erscheint, und einem als Nachwort fungierenden Mailwechsel zwischen Stachler und dem Lektor Manuel Riemelmoser. Stachlers als kompakte Grafik-Blöcke stehenden titellose Texte wechseln sich ab mit Fotografien von Sarah Oswald, die auch das ansprechende Layout nebst Buchgestaltung übernommen hat.

Beide, Fotografien und Texte, versuchen jene dünnen Orte zu umreißen, von denen es heißt, sie wären Übergangszonen, das eine sowohl als auch das andere – oder wie man in der Architektur sagen würde, transparente Zonen, in denen Simultanität (wie im Kubismus) einen Status permanenter Mehrfach-Lesbarkeit erzeugt. Das gilt in jedem Fall, als gewissermaßen laterale oder zweidimensionale Lesbarkeit, für die Mehrfachbelichtungen und fotogrammatischen Arrangements Oswalds, allerdings weniger für die auf eine verschlungene Weise zoomenden Gedichte Stachlers. Hier blitzen zwar bewusste textgrafische Leerstellen durch tatsächlich eingefügte Leerräume in den Zeilen auf, wie ein unregelmäßiges Muster durchziehen sie die einzelnen Blöcke, und auch abrupte gegenteilige Interventionen, nämlich die Schließung einer Zeile inmitten derselben mit Pausen diktierenden Punkten, manipulieren den Fluss, doch zeigt die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten keine unbedingte Gleichzeitigkeit einer Lesart des beschriebenen Ortes an, sondern eher ein in der Nachzeitigkeit liegendes ständiges dynamisches Kippen in den größeren oder kleineren Zusammenhang seiner sinnlich (un-) fassbaren Ausschnitte und Bestandteile. Man könnte von einem dreidimensionalen Layering sprechen.

Der Leser befindet sich auf einer traumartigen Reise, die oszillierend zwischen Bett, Schrank, Bäumen, Ast und See sowie den jeweiligen wechselseitigen Einflüssen auf das seelische Innenleben stattfindet. Mit großer Sparsamkeit in Ton und Wortwahl schichtet Stachler Kokon um Kokon übereinander oder reißt Schale um Schale des Ausgangsbildes ab. Nie ist gewiss, wo diese Reise hingeht, geschweige denn endet, und an den Anfang will man sich auch nur dumpf erinnern. Feststeht, dass die einzelnen Texte aufeinander Bezug nehmen und fast wie die Rekonstruktion eines dunklen Geheimnisses irgendwo zwischen Zimmer und Wald erscheinen. In Stachlers eigenen Worten geht es um die Schwelle zwischen Leben und Tod, die ein sogenannter dünner Ort bereithält, und genauso verhält sich der Text selbst: düster in Beschreibung des Lebenden/Lebendigen und fast befreit in der Beschreibung des Jenseitigen. Völlig unbestimmt, wohin er ausschlagen will, rankt er sich eigenwillig und bisweilen expressionistisch angehaucht durch schweres Gebiet, scheint sich beinahe dahinzuschleppen, ein Rätsel auf dem Rücken, muss rasten im Schoß dicker Rinde und schläft ein, den Rest der Reise erträumend.

Obwohl Vor- und Nachwort sehr gut lesbar sind und vieles erläutern, Licht in möglicherweise allzu Unwegsames Gelände werfen, wären sie in ihrer Ausführlichkeit nicht unbedingt nötig gewesen. Der Text und die Fotos an sich bewirken auf sich allein gestellt eine ganze Menge, und sie werden ein wenig beschnitten von über einem Fünftel „Mitgift“ des Bandes. Dies sei aber nur am Rande erwähnt.

„Dünner Ort“ besitzt eine große Anziehungskraft, und es sind Stachlers besondere, dichte Beschreibungen zwielichtiger Ensembles aus Landschaft und Empfindung, die ihn zu einem Leseerlebnis mit starken Nachwehen machen.

Alke Stachler · Josef Kirchner (Hg.)
dünner Ort
Illustrationen: Sarah Oswald
Edition Mosaik
2016 · 64 Seiten · 5,00 Euro
ISBN:
978-3-200-04454-8

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