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Kritik

Verspieltes und Verrücktes

Die 72. Ausgabe von Am Erker – Thema: Spiel
Hamburg

Frederike Freis Kurzprosastück „Der 1. Ball“ bewegt sich zunächst in einer verständlichen Wehmut, die dann aber durch einige kryptische Elemente zersetzt wird. Anscheinend stammt der Text aus einem Roman – ich würde sagen, er kann nicht gut eigenständig stehen.

Daniela Chanas kurzes Cowboystück hat einen stark retardierenden Aspekt, eine Glatt- und Starrheit, die irgendeine Form von Erlebnis, die aus dem Text entspringen könnte, hemmt. Diese Selbstauskünfte aus dem Sattel lesen sich an keinem Punkt wirklich erhellend, meistens spröde – vielleicht ist das Absicht. Auch eine möglicherweise enthaltene Kritik an Männlichkeitsbildern, kann ich dem Text nicht ganz abkaufen.

Über Burnout sind schon viele ernste Texte geschrieben worden; es hat daher etwas Erfrischendes, dass sich jemand diesem Thema – in seiner ganzen schmerzlichen, wahnsinnigen Dimension –, auch mal von der komischen, überzogenen Seite nähert. Laila Mahfouz macht aus dem Zusammenbruch eine kleine Gaudi, ein Aufspielen der Anarchie. Und als Lesende/r kommt man kaum drum herum, ebenfalls Spaß daran zu haben.

Das zweite Kurzprosastück von Frederike Frei ist geschlossener, aber wenn man weiß, dass es in einen Kontext gehört, erscheint es ein wenig verloren.

André Pattens Text „Die Kiste“ gefällt mir sehr, ich kann nicht mal sagen wieso. Vielleicht wegen des knappen Stils, der die Absurdität des Textes noch besser zur Geltung bringt. „Kiste“ ist so ein Wort, das irgendwie unscheinbar ist und dennoch etwas Unberechenbares hat. Diese Dialektik greift Patten gut auf.

Herrlich, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, ist das beste Wort, um Philip Krömers Geschichte eines Zauberer Auftritts und -tricks – mit allerlei gelungener Staffage – zu beschreiben. Pointiert, mit viel Witz, aber keinem Hauch von Belanglosigkeit oder Schlichtheit, operiert der Text immer auf einer schönen sprachlichen Höhe, atmosphärisch und illuminierend. Da war ein guter Stilist, der auch ein guter Erzähler ist, am Werk.

Mit Schlichtheit kann man manchmal alles sagen, was es zu sagen gibt. Wolfgang Wurm gelingt das in seinem Miniaturprosastück „Etüden“, in dem es keine losen Enden gibt, obwohl vieles offen bleibt. Nur ein kurzer Einblick, gestrafft. Und das schönste Detail sind die Umschläge aus Notenpapier.

Man muss wohl ein großer Faust-Kenner sein, um die Probengedichte von Christine Kappe zu verstehen. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass mir etwas Hintersinniges entgeht. Vielleicht muss man seine Seele verkaufen, um etwas davon zu verstehen. Aber weiter geh eh ich nicht in meiner Kritik, sonst komm ich noch in Teufels Küche.

Anarchisch knapp. Pauline Gümpel nutzt den spielerischen Effekt in der Doppelbedeutung der Aussage „Ein Mann geht baden“ und lässt ihren kurzen Text wie ein Gummiband gegen die Stirn des Lesenden schlagen. Autsch, Volltreffer.

Mitten drin in einem Videospiel der nächsten Generation, verwirrend zwischen Bewusstseinszuständen und schillernden Accessoire-Mitteilungen hin- und hergeworfen. Kampf und Avatare, Verschmelzungen von Algorithmen und Körpern, Sinnlichem und Flashgespeichertem – Katja Bohnet ist ein faszinierender Text gelungen, in dem man sich zwar selten zurechtfindet, der aber durch eine Flut an Ideen und sprachlichen Saltos, und nicht zuletzt auch durch Spannung, überzeugt.

Ein Ausbruch aus dem bisherigen Leben, holprig, dann mit Happy End – Andrea Schröder erzählt eine Art schnörkelloses Märchen, in dem ein Typ vom Ordnungsamt der Prinz ist. Auf sympathische Art und Weise: heiter bis unkompliziert.

Von einer unvorhergesehenen Handverletzung erzählt die Geschichte von Christine Rainer. Und der Lesende wartet auf eine Falte in der glatten Fläche der Erzählung. Vergeblich.

Ich mag den Text von Kai Rohlinger, in dem sich ein weiblicher Croupier am Roulettetisch über einen neuen Kunden freut, ihn nicht mehr gehen lassen will. Der Text legt zwar ziemlich früh seine Karten auf den Tisch und man weiß beinah sofort, wie das Ganze ausgehen wird. Aber es ist eine schöne Idee, einfach und possierlich umgesetzt.

Petra Piuks Text düst erstmal mit Karacho in die Klischeezone. Sie verpasst ihrem jugendlichen Helden das Image eines kriminellen Sozialfalls und dichtet ihm gleichzeitig eine Steh-auf-Mentalität an und die führt ihn auf den Jahrmarkt und zum Spielautomaten. Falls dadurch ein kritisches Bewusstsein für Sozialprobleme oder die Anfänge der Spielsucht abgerufen werden soll – bei mir funktioniert es nicht. Das Ganze wird gut erzählt; was aber nicht die Naivität im Umgang mit den Themen kaschieren kann.

Auf gelungene Weise verschränkt Philipp Kampa in seiner Erzählung „Ein Zimmer“ drei separate Abschnitte miteinander, die unterschiedliche narrative Techniken verwenden. „Ausgefuchst“ ist wohl das beste Wort, um diese schöne Konstruktion zu beschreiben.

Die meiner Meinung nach beste Geschichte des Bandes heißt „Jochen“ und wurde von Elisabeth Schröder verfasst. Sie ist herrlich wenig um Klischees oder Antiklischees bemüht, in ihren leise aufgelegten Anwandlungen authentisch und sympathisch und dreht sich um die schwärmenden Gefühle, die ein Musikfan dem Mitarbeiter eines Plattenladens, Jochen, entgegenbringt. Zum Ende hin gibt es noch mal eine kleine, überraschende Wendung. Ein wunderbarer Text!

Monika Maria Degners netter Schwenk über die sockenstehlende Tante im Altersheim wirkt relativ hastig fabriziert und entfaltet bei aller Dynamik einfach keine plastischen Eindrücke. Die Erzählung saust vorbei und das breite Lächeln, das der Text auf dem Gesicht hat, sieht man nur aus dem Augenwinkel.

Wieder Wolfgang Wurm, diesmal mit einem wunderbar schlagfertigen Text, der in einem kurzen, perfekten Bogen die Ironie einer dummen Frage auskostet.

Susanne Gölitzer hat sich für ihren Text „Verlust“ ein vielleicht etwas zu großes Thema ausgesucht, das man schwerlich auf gerade mal einer Seite in einem ausreichenden Maß verdichten kann. Doch die gelungene Verwendung der Motive und die ruhige, nicht heischende Erzählhaltung schlagen dann doch noch einen guten Eindruck raus.

Etwas zusammengewürfelt, darin aber eigenwillig schön: Cornelia Koepsell Erzählung über eine obdachlose Frau, die zu Weihnachten ein Geschenk aus dem Nichts erhält, hängt leicht in den erzählerischen Seilen, weiß aber zu unterhalten und einige sympathische Charaktere zu erschaffen.

Und ein allerletztes Mal Wolfgang Wurm, dessen leicht hintersinnige Kurzprosa ich schon etwas liebgewonnen habe. Wie im ersten Text „Etüden“ wird auch in „Sicher ist sicher“ von einem eher nebensächlichen Ereignis erzählt; der Text gibt sich quasi als eine Randbemerkung aus. Doch gerade aus diesem sich-Zurücknehmen entwickelt er eine eigenwillige Präsenz, eine Bedeutsamkeit, die sich im letzten Satz auch teilweise einlöst.

Hinein in die Schönheit des Mutterglücks! Das ist mit keinem Wort ironisch gemeint. Denn obgleich sie leicht mit Wertungen wie manieristisch oder pathetisch abgewiegelt werden könnten – von den Bildern in Caroline Hartges Erzählung „Stützen und Hüten“ geht eine wahrhaftige Atmosphäre aus, die uns einhüllt mit der Erfahrung, ein Kind zu haben, zu halten, mit ihm Spiele zu spielen. Ein sehr schön gestalteter, gelungener Text!

Claudia Bitters schöne Inszenierung von Vater-Mutter-Kind + Spielverderber entlockt mir zunächst ein Lächeln. Irgendwann enden die Spiele, irgendwann wird’s ruppig, ist das die Botschaft? Warum die Eltern am Ende lachen, das versteh ich allerdings nicht, nach Lachen ist mir da dann nicht mehr zu Mute.

Haben wir nicht alle das Gefühl, dass immer irgendwas fehlt, dass uns irgendetwas vorenthalten wurde? Nicht nur, weil wir dem Schicksal immer zweimal mehr anrechnen, was wir nicht haben, nein – mehr, weil es ein Grundgefühl ist, das wir mit uns herumtragen, das uns antreibt und immer wieder Ausschau halten lässt. Dadurch verlassen wir vielleicht gerade das mehr und tauschen es immer gegen ein weniger ein. Dominik Riedo hat einen großartigen Text geschrieben, in dem es genau darum geht: den Kinderspielen entwachsen, suchen wir nach neuen aufregenden Erfahrungen und Spielen. Aber welche Spielwiese ist nicht irgendwann abgegrast? Und was dann?

Eine schöne neue Version von der Vertreibung aus dem Paradies ist Nikola Huppertz gelungen – es kommen Fuchsbandwürmer und Blindschleichen drin vor.

Wunderbar eindringlich, eindrücklich, verwischt und dennoch völlig klar: die Sommer unserer Kindheit, über die Cornelia Manikowsky einen guten, dem Schweifen der Gefühle angepassten Text geschrieben hat.

Axel Schöpp überrascht mich mit einem sehr bodenständigen, vielschichtigen Text, in dem ein schwieriges, aber sehr präsentes Thema im Mittelpunkt steht: das Verhältnis zwischen einem Vater und einem Sohn, im Hinblick auf die Leistungen, die das Kind erbringt, die Entwicklung, die sein Leben und sein Ehrgeiz zu nehmen scheinen; das Potenzial des „Stolzmachens“. Der Text fächert seine Motive wunderbar auf, auch sprachlich, und bringt zahlreiche kleinere Aspekte unter. Man spürt wie komplexbehaftet das Thema ist.

Eine nette Gedankenwanderung auf dem Klo, geschrieben von Thomas Kade. Hier hört man nicht nur, in Erinnerungen versunken, was jemand auf dem Dach schreit, sondern erinnert sich an andere Klos, anderes Papier, andere Zeiten. Ein gelungener Streifzug, bei dem mir vor allem die Bewegung gefällt, die sehr gekonnt einen stream of consciousness imitiert.

Die Problematik des Narren: er ist ein unterhaltsames Fass ohne Boden, aber auch ein plötzlicher Spiegel, ein listiger Kommentar, eine grundsätzliche Entwürdigung seiner Herren, seiner Gesellschaft. Dirk Alts Überlegungen zum Narren beginnen in diesem Sinn und wachsen sich wunderlich aus. Ein schöner Text, der sich auf fast schon geheimnisvolle Weise zuspitzt.

Sodann Steffen Royes Geschichte einer Zwangsstörung und eines daraus resultierenden Wahns. Mir gefällt die äußere Form, das Schriftbild, das mit Einrückungen und graphischen Entsprechungen zum Inhalt arbeitet. Letztlich ist die Geschichte aber etwas zu beiläufig, geradezu unwesentlich.

Andreas Heckmann liefert eine hektische Tour de Force ab, eine mit Details gespickte Dia-Show, zusammengewürfelt aus persönlichen Erinnerungen, die sich assoziativ weiterbewegen zu anderen Informationen und Geschichten. Viele Fragezeichen, ein wahrhaftiger Reflexionswust, mit dem man schwer warm wird, weil er permanent alles zersägt.

Und zum Schluss noch ne Pointe: Jonis Hartmann erzählt von einer Witzfigur, die eigentlich nicht lustig ist – aber was ist schon lustig und was ist eher albern, was ist entlarvend und daher komisch (gab’s da nicht mal eine Arbeit von einem gewissen Sigmund Freund …), was ist am Komischen die Inszenierung und was ist die wirkliche Hintersinnigkeit. All diese Fragen spiegeln sich in Hartmanns spaßiger Geschichte, die es auf einer Seite schafft, sich mehrmals in den Schwanz zu beißen.

Dann folgt noch ein langer (und leider auch langatmiger) Essay über den Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze (man erzählt sich ja, die beiden hätten so viel Hochachtung voreinander gehabt, dass sie manchmal, wenn sie den jeweils anderen besuchen wollten, vor der Haustür wieder kehrtmachten) und die Bücherschau mit vielen Rezensionen zu Werken aus Independent- und Großverlagen, auf die ich mich schon wieder gefreut habe.

Wie es bei einem Titel wie „Spiel“ nicht anders zu erwarten war, findet man in der Nr. 72 von „Am Erker“ auch allerhand Flapsiges. Doch es ist eine Qualität dieser Zeitschrift, dass sie immer ein paar Texte bereithält, die mich überraschen, die sich auf ungewöhnliche Art und Weise mit dem Thema befassen und neue narrative Potenziale erschließen. Allein deswegen werde ich „Am Erker“ auch weiterhin lesen.

 

Beteiligte Autor_innen der Ausgabe:

 

Am Erker 72
Spiel
Am Erker
2016 · 128 Seiten · 9,00 Euro
ISBN:
978-3-89126-331-0

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